Auch in Zeiten des Coronavirus erscheinen Alben am laufenden Band. Da die Übersicht behalten zu wollen und die passenden Langspieler für die Club-freie Zeit zu küren, wird zum Fulltime-Job. Ein Glück, dass unser Fulltime-Job die Musik ist. Zum Ende jedes Monats stellt die Groove-Redaktion Alben der vergangenen vier Wochen vor, die unserer Meinung nach relevant waren. Im dritten Teil des September-Rückblicks mit Theo ParrishVatican ShadowZombies In Miami und drei weiteren Künstler*innen – wie immer in alphabetischer Reihenfolge.

SW. – TRUElipS (Avenue 66)

SW. – TRUElipS (Avenue 66)

Rückwärts in die Zukunft gehen. Für sein zweites volles Album hat sich der Produzent SW., Mitgründer des Labels SUED, an der Vergangenheit der Clubmusik orientiert. Einer Zeit, in der gerader Viererbeat und Breakbeat friedlich nebeneinander existierten, in der auch schon die beschleunigten Drum’n’Bass-Breaks im Umlauf waren und die Tanzmusik eigene Formen der Intelligenz entwickelte. Wobei die Frage ist, ob sie die nicht schon immer hatte. Bei SW. treten diese verschiedenen Ausprägungen der neunziger Jahre in eine Art quecksilbrigen Dialog miteinander, bekommen etwas Fließendes, bei dem die Beats in ein und demselben Track von rigider Starre zu swingender Perkussion mutieren können. Nach scheinbar einfachen Anfängen gestalten sich die so entstehenden Geflechte bei SW. zunehmend komplex, ohne unübersichtlich dicht zu klingen. Die Produktionen auf TRUElipS sind eher luftig, benötigen neben dem Rhythmus meist bloß einen Bass und ein paar verwischte Akkorde. Das genügt völlig. Vor allem aber klingt SW. an keiner Stelle alt, sondern weist der Gegenwart des Tanzens einen Weg, der vorausschaut in kommende Tage. Mögen sie so gut sein wie die Musik. Tim Caspar Boehme



Teste ‎– Graphic Depictions (L.I.E.S.)

Teste – Graphic Depictions -min

Diesen Schalter eben noch schnell umlegen und kurz das gewünschte Zieldatum einstellen. Und: Zack, fertig! Ahhhh. Die glorreichen Neunziger. Tut das gut. War doch eh alles besser. Gut, vielleicht nicht wirklich alles. Aber Tracks wie Testes „The Wipe” wurden eben nur damals gemacht. Um das kurz zu elaborieren: Da waren also Dave Foster, der heutzutage vor allem unter seinem Huren-Moniker seine dystopischen Techno-Träume unter das Volk bringt, Himadri Gosh, Martin Maischein und Søren Browning. So! Und wenn diese vier gemeinsam auftraten, bratzelte es einem das Gehirn weg. Vor allem wenn sie Version um Version von „The Wipe” spielten. Ein gewisser Richie Hawtin, der von dem Stück so begeistert war, dass er mal eben sein Studio für die Aufnahmen der A-Side (die „Sonik-Dub”-Version) zur Verfügung stellte, pushte dann das Release und spielte die Nummer rauf und runter. Mehr Adelsschlag ging schon damals eigentlich nicht. Was die Scheibe ausmachte? Nervenaufreibender Techno for your mind, der selbst heute noch nach glorreicher Zukunft klingt. Und jetzt? Niemand anderes als L.I.E.S.-Labelhead „The Falcon” Ron Morelli, der ja schon Dave Fosters Ontario-Hospital-Projekt veröffentlicht hatte, bringt nun weitere bisher ungehörte Aufnahmen von Teste heraus, die auf alten VHS-Kassetten und diversen anderen antiquierten Speichermedien in Umzugkartons Staub ansetzten. Mit dem Über-Classic von 1992 haben diese Aufnahmen nur noch wenig gemein – und das macht sie stark. Der schaurige Psycho-Horror weicht der Splatter-Kettensägen-Mordserie. James Wans Saw statt Hitchcocks Die Vögel. Brutale Drums, Noise und Birmingham-Techno statt Frankfurter Schule. Das eine Techno-Album, von dem man nicht mal weiß, dass man es braucht. Tut man aber. Andreas Cevatli

Theo Parrish – Wuddaji (Sound Signature)

Theo Parrish – Wuddaji (Sound Signature) -min

Anders als Techno sieht sich House keinem Innovationszwang ausgesetzt, weil sich das Genre nie einen futuristischen Ansatz auf die Fahnen geschrieben hat. Es reicht, ein paar klangästhetische Parameter oder rhythmische Elemente umzuschichten, und schon kann House frisch und zeitgemäß klingen, während Techno primär in der Vergangenheit nach neuen Perspektiven für die Zukunft zu suchen scheint. Theo Parrish ist jemand, der die Dance-Geschichte wie seine Westentasche kennt und sie zugleich vorantreibt, indem er das Bestehende moduliert und zukunftsfähig macht. So auch auf Wuddaji, seinem ersten Album seit sechs Jahren. Es folgt auf eine sechsteilige Klangcollage mit dem Titel We Are All Georgeous Monsterss, die über den Soundcloud-Account seines Labels Sound Signature hochgeladen, mittlerweile aber wieder vom Netz genommen wurde. Darin setzte er sich verbal und per Samples mit institutionellem und alltäglichem Rassismus auseinander, während die Musik ihren Teil dazu beitrug, dies mit den essenziellen Beiträgen schwarzer Künstler*innen zu kontrastieren. Wuddaji, auf dem auch die im Vorjahr veröffentlichte Single „This Is For You” mit Vocals von Maurissa Rose zu hören ist, zeigt sich abseits dieser Verhandlung von Gewaltstrukturen inhaltlich aber weniger diskursiv. Parrish trifft seine Aussagen dafür auf musikalischer Ebene: Jede Pore schwitzt hier musikhistorische Referenzen aus. Ob Jazz, Deep House, Disco, Soul oder sogar Samba- und scharfkantige Electro-Anleihen: Der Detroiter bringt verschiedene Stränge schwarzer Musik in ein produktives Wechselspiel, was bisweilen wie in „Radar Detector” und dem Titeltrack in einem überwältigend vollen Klangbild resultiert oder wie auf „Purple Angry Birds” und „All Your Boys Are Biters” reduziert, fast understated klingt. Das implizierte Programm dieser Collagierungen und Abstraktionen lässt sich aus dem Titel des finalen Tracks herauslesen, der seinerseits klingt, als hätte Floating Points zu besten Zeiten tatsächlich mal etwas gewagt: „Knew Better Do Better”. Auf Grundlage vergangener Epochen bastelt Parrish mit dem Wissen der Gegenwart und den Fähigkeiten eines versierten DJs einen Sound zusammen, der über verschiedene Wege in eine konkrete Richtung rumpelt: die Zukunft. Kristoffer Cornils

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Tolouse Low Trax – Jumping Dead Leafs (Bureau B)

Tolouse Low Trax – Jumping Dead Leafs (Bureau B)-min

Detlef Weinrich, Mitglied der in den Neunzigern gegründeten Neo-Kraut-Band Kreidler, Strippenzieher im Salon des Amateurs und Macher des Projekts Tolouse Low Trax, hat sich während der ersten Corona-Welle nach 27 Jahren aus Düsseldorf verabschiedet, um zu seiner Lebensgefährtin nach Paris zu ziehen. Mit Jumping Dead Leafs hat er sich denn auch gleich der ewigen Düsseldorf- und Kraut-Verweise entledigt, die ihn nur noch genervt hatten. Mit in die Tonne flogen dabei auch sämtliche Industrial-Sounds. Eine Sache blieb aber beim Alten: Im Zentrum aller Tracks steht das MPC. Damit Beats zu machen, die irgendwas mit Hip Hop zu tun haben, ist natürlich keine bahnbrechende Idee, Detlef Weinrich macht es dennoch. Das klingt dann zuweilen so, als würden von psychedelischen Rauschmitteln hypnotisierte Industrieroboter N.W.A. oder Cypress Hill spielen. Doch dann sind auf anderen Tracks die Beats wiederum in einer Weise krumm, wie man es von UK-Produktionen kennt. Thematisch eindimensional ist dieses neue Tolouse-Low-Trax-Album also nicht. Es klingt aber noch roher und nackter als alle früheren Platten. Konterkariert wird die maschinelle Körperlichkeit von Jumping Dead Leafs durch allerlei exotische Klangschnipsel und spirituelle Psychedelik in Sachen Sound-Design. Man darf auch Dub-Musik dazu sagen. Holger Klein

Vatican Shadow – Persian Pillars Of The Gasoline Era (20 Buck Spin)

Vatican Shadow – Persian Pillars Of The Gasoline Era (20 Buck Spin) -min

Als CIA und MI6 im August 1953 unter dem Codenamen Operation Ajax den demokratisch gewählten Premierminister des Iran, Mohammad Mosaddegh, stürzten und eine 26-jährige Terrorherrschaft unter dem Schah installierten, fiel das für die USA unter außenpolitische Interessenvertretung. Es folgten Jahrzehnte völkerrechtswidriger Staatsstreiche quer über den gesamten Globus und organisierte Menschenrechtsverletzungen, die nicht erst gestern den merkwürdigen Wandel von vermeintlich kruden Verschwörungstheorien zu geopolitischen Tatsachen durchmachten. Dominick Fernow widmet sich mit Persian Pillars Of The Gasoline Era jenem folgenschweren iranischen Coup d’Etat made in the US of A, der vermutlich als Keimzelle des modernen islamistischen Terrorismus zu werten ist. Über knapp 40 Minuten hinweg entwirft er als Vatican Shadow für dieses dunkle Kapitel US-amerikanischer Zeitgeschichte einen abermals unerreicht ominösen Soundtrack und speist das Kopfkino mit industriellen Techno-Strukturen, flirrenden Flächen zwischen Ambient, Drone und Dub sowie Track-Titeln, die wie Kombinationen aus Militär-Memos und den Buchtiteln eines Robert Baer anmuten. „Predawn Coup D’Etat (Schwarzkopf Duffle Bags Of Rials)” oder „Uncontrollable Oasis (Real Life Spy Mystery Ends With Scientist Hanged In Iran)” spiegeln dementsprechend jene dicht texturierte Atmosphäre wider, die von Artikeln und Büchern zum Thema, aber auch deklassifizierten Pentagon-Dokumenten, allgegenwärtiger Täuschung, kurz: dem fog of war gespeist wird – und sich auch genau so entfaltet. Dem tragen die beiden breitformatigen Produktionen „Moving Secret Money” und „Ayatollah Ferocity (The Refinery At Abadan)” Rechnung: Die eine als prismatisch schimmernde Layer-Konstruktion, die andere als unaufhaltsamer Build-Up zu einem brutalen Finale viszeraler Bassstrukturen und Clusterfucks. Wie es Fernow dabei ein ums andere Mal gelingt, mittels dieses seit rund zehn Jahren gereiften Sounddesigns quasi eine eigene Sparte elektronischer Musik zu bespielen – das ist nach wie vor in jeder Hinsicht beeindruckend. Nils Schlechtriemen

Zombies In Miami – 2712 (Permanent Vacation)

Zombies In Miami – 2712 (Permanent Vacation) -min

Ein Debütalbum nach neun Jahren beständiger EP-Lieferungen deutet auf eine entspannte Haltung zum Veröffentlichungsgeschäft hin. Das mexikanische Duo Zombies In Miami legt mit 2712 jetzt eine sehr ausgeschlafene erste LP vor, die in dieser Form womöglich auch schon ein paar Jahre früher denkbar gewesen wäre, andererseits aber keinesfalls zu spät kommt. Für die acht Titel der Platte haben Canibal und Jenice einen ins Neonkühle spielenden Italo-Disco-Stil gewählt, der mit sicherer Hand ins Werk gesetzt ist. Stoisch groovender Beat, zuverlässig pumpende Analog-Synthesizer-Bässe, obendrüber stroboskopartig feuernde Arpeggien mit minimalistischen Ohrwurmmelodien, die in fein abgestimmten Proportionen zueinander finden. Besonders „Frodo” hat den Funk. Das mag ein wenig der Zeit entrückt wirken, hat zugleich jedoch etwas zeitlos Klassisches, und mit ihren dezent apokalyptisch gehaltenen Produktionen bieten sie perverserweise einen nur allzu passenden Sound, um zur aus den Fugen geratenen Gegenwart dennoch (oder gerade deshalb) zu tanzen. Tim Caspar Boehme

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