Auch in Zeiten des Coronavirus erscheinen Alben am laufenden Band. Da die Übersicht behalten zu wollen und die passenden Langspieler für die Isolation zu küren, wird zum Fulltime-Job. Ein Glück, dass unser Fulltime-Job die Musik ist. Zum Ende jedes Monats stellt die Groove-Redaktion Alben der vergangenen vier Wochen vor, die unserer Meinung nach relevant waren. Im dritten Teil des April-Rückblicks mit Nightmares On Wax, Roza Terenzi, Sepehr und vier weiteren Künstler*innen – wie immer in alphabetischer Reihenfolge.
Nightmares on Wax – Smokers Delight (25th Anniversary Edition) (Warp Records)
Vermutlich ist es eines der eingängigsten Samples in der Diebstahl-Geschichte überhaupt, dieses Orgel-Riff, das sich nach gut zwei Minuten Jazz-Funk-Gedaddel in „Nights Introlude” einschleicht und seit diesem Auftauchen 1995 als Intro für Smokers Delight das kollektive Gedächtnis nicht mehr verlassen hat. Entwendet ist die Orgel Quincy Jones’ Version von „Summer in the City”, die dessen 1973er Album You’ve Got It Bad Girl eröffnete. Das „Nights Introlude” war natürlich nicht die erste Verwendung des Samples. The Pharcyde und deren Produzent K-Swift gebrauchten es 1992 für „Passin Me By”, das eine lang anhaltende Soul-Renaissance im Hip Hop einläutete. Vor allem hatten es Nightmares on Wax – sprich George Evelyn und seine B-Boy-Crew aus Leeds – selbst in beinahe identischer Form 1991 bereits als „Nights Interlude” zum Auftakt ihre Debütalbums A Word of Science verwendet. Dieses Debüt ging damals ein wenig unter. Von Nightmares On Wax war noch anderes erwartet worden. Schließlich hatten sie Anfang der 90er zusammen mit ihren Labelkollegen bei Warp wie LFO, Tricky Disco und Sweet Exorcist einen neuen – speziell britischen – Techno-Sound der ganz tiefen Bässe und supermerkwürdigen Industrieruinen-Geräusche erfunden und damit auch ein (kurzlebiges) Sub-Genre: Bleep’n’Bass. Der Sound von Warp war das Verbindungsglied zwischen 80er Electro und den Raves der frühen 90er. An Hip Hop und Soul-Renaissance wollte da zunächst keiner denken. Aber George Evelyn wusste, dass er den Beat für das „Night Introlude” einfach zu früh herausgebracht hatte. Er wollte ihn nicht verschwenden und brachte ihn noch einmal. Die frühe Version ist jazziger und zugleich rauer. Es fehlte noch die Federkissenweichheit, die Smokers Delight ausmachen sollte. 1995, mitten im zweiten Goldenen Zeitalter von Hip Hop, war die Zeit dann reif für ein Downbeat-Instrumental-Album, das dem Hedonismus der mittleren 90er Jahre die Atmosphäre schenken sollte, bevor die Dekade dann in Krise, Paranoia und Katastrophe zu Ende ging. Zugleich war es die Manifestation der Mixtur von 20 Jahren (nord-)englischer Clubkultur – Soul, Dub Reggae, Breakbeats, Electrofunk. In den böseren Ausläufern wurde daraus dann tatsächlich der Soundtrack globaler Cafehaus-Mediokrität. Dennoch ist die Geschichte manchmal gerecht: „Smokers Delight hat seine 25-Jahre-Edition verdient. Diese schließt mit einer elegischen siebenminütigen Live-Darbietung in der Concord Music Hall Chicago – natürlich von „Nights Introlude”. Nach den wilden, ungemütlichen Yorkshire-Bleep-Zeiten ist George Evelyn im kosmopolitischen Hip-Hop-Jazzfunk-Himmel mit sanftem Ruhekissen gelandet. Wenn auch seine Ambitionen, endgültig zu einer Art Quincy Jones zu werden und Smokers Delight mit einer 14-köpfigen Big Band auf Tournee wieder aufzuführen, wohl vorläufig der globalen Quarantäne zum Opfer gefallen sind. Andreas Hahn
Pierre Rousseau – Musique Sans Paroles (Beats in Space)
Es muss eigentlich gar nicht ausgesprochen werden: Dance Music ist seit dem Siegeszug von House von Techno oftmals eine Musique Sans Paroles, sprachlose Musik also, die Bedeutung auf andere Weise konstruieren und übermitteln muss. Pierre Rousseau teilt seinen Nachnamen mit einem großen Dichter und Denker der Aufklärung. Und vielleicht hat er sich sogar für sein Debütalbum auf Beats In Space Inspiration von Jean-Jacques’ Essay über den Ursprung der Sprachen geholt. Laut diesem nämlich nahmen Sprachen ihren Anfang im warmen Klima südlicher Länder, waren nah an der Musik angesiedelt und vor allem Transmitter emotionaler Zustände – bevor sie dann im kalten Norden in rationale Systeme überführt wurden. Dann doch lieber einen Schritt zurück in die Musik, die ohne Worte auskam: Rousseau, der zuvor als Teil des Duos Paradis mit Simon Mény bei Beats In Space veröffentlicht hatte, bauscht über sechs Stücke hinweg recht simple Rhythmen mit barock klingenden Harmonien auf, die von Paris inspiriert sind und tatsächlich extrem französisch klingen – sehnsuchtsvoll, poppig, aber auch ein bisschen notgeil. Sowohl japanischer City Pop war nach einer Reise durchs Land ein Referenzpunkt wie auch die Klassiker der französischen Möbel- und Proto-Techno-Musik von Erik Satie bis Maurice Ravel und zuletzt natürlich Air, deren Nicolas Godin für das Album sogar eine Bassline beigesteuert hat. Selbst in seinen Upbeat-Momenten, „Ivresse” etwa, haftet dieser Mini-LP ein strenger Geruch von Patschuli und zuviel Rotwein an, der vielleicht mehr Bedeutung verspricht, als wirklich in der Musik enthalten ist. Denn könnte die sprechen, würde sie vermutlich nur eines sagen: „Du, ich will dir gefallen, und zwar sehr”. Warm und emotional mag das allemal klingen, aber eben auch extrem kitschig. Kristoffer Cornils
Pole – 1, 2, 3 (Mute)
Knisterknister, glitch. Stefan Betke alias Pole unterzog seine drei ersten Alben einer Renovierung und veröffentlicht sie nun erstmals nach 20 Jahren wieder in einer Box auf Vinyl. Das Knistern und Glitchen blieb bestehen, macht es doch den Sound seiner Arbeit aus. Der kommt nicht von ungefähr: einem defekten Waldorf-4-Pole-Analog-Filter entnahm er nicht nur seinen Künstlernamen, sondern begann von diesem Punkt an auch mit der Schichtung verschiedener Klänge. Dubbig-dunkel und repetitiv beginnt die blaue Platte 1 mit „Modul” und „Fragen”, das Knistern als wesentliches Soundelement, das die Drums und et alii hinter sich versteckt, vermischt sich erst auf der Nummer „Kirschenessen” mit Rhythmus und gibt Raum für dem Songnamen entsprechend hellere, heitere Soundschichten. Auf „Berlin” experimentiert er mit einem Zischen und Pfeifen, der ganze uplifting Glitch-Sound erinnert entfernt an die erste Platte des Bersarin Quartetts, und man sieht sich nachts über den gleichnamigen Platz in Friedrichshain wandern. Überhaupt hat die Musik so etwas angenehm Urbanes. Mit „Tanzen” nähert er sich tatsächlich dem Floor. „Paula” geht nochmal in eine etwas trancigere Ambient-Richtung. Auf der roten 2 kann man durchaus auch diese Click-and-Cut-Ästhetik ausmachen. Es beginnt hier wesentlich weniger aggressiv knisternd, insgesamt verschiebt sich der Sound noch dubbiger zum Ambient-Techno. Der Songs sind hier weniger als auf 1, die Motive teils wiederkehrend („Fahren” und „Stadt”). Im Vergleich zum Vorgänger sind die Tracks ausgeglichener, melodiöser und noch klarer in der Bildsprache (siehe die Melodie auf „Hafen”). Quirky Sounds ornamentieren die stets einprägsamen Beats oder Tonfolgen. Man kann sagen, dass Betke hier so langsam seinen Sound findet, auf Nummer 3 (gelb) wird das dann richtig deutlich. Frech wie ein „Silberfisch” ist das dritte Album im Bunde. Smooth schummelt sich die erste Nummer ins Gehör. Wieder glitchiger Dub, nun aber glitchiger und noch mehr Dub als zuvor. Das zackigere „Taxi” ist dann auch mal ein Song, der aus dem Guss heraussticht. In „Karussel” sind dann auch mal obskure Stimmen zu hören, die eher nach Flughafen denn nach Rummel klingen. „Überfahrt” wird in seinem schunkeligen Dub-Sound fast leicht melancholisch, aber nur fast. „Klettern” ist noch so ein Ausreißer, bouncet er doch – in Maßen – im Gegensatz zu den anderen Stücken und ist auch mal wieder tanzbar. Und auf „Strand” gleich weiter. Und als Abschluss „Fohlenfurz”. Natürlich gut. In der Box ist die Progression, sein soundtechnisches Selbstfinden, ganz schön zu beobachten. Lutz Vössing
Popnoname – Horizons (Feines Tier)
Bei Popnoname-Veröffentlichungen hört man immer sehr viele Einflüsse heraus, die man auch von anderen Projekten Jens-Uwe Beyers kennt. Über der geraden Bassdrum geben sich Ambient, Kraut und Pop die Hand und erzählen nicht nur von durchtanzten Nächten sondern auch dem ganzen Rest dazwischen. So auch auf Horizons, der ersten LP seit dem 2013er-Album 50°, an das die neuen Tracks nahtlos anknüpfen. Erschienen beim Kölner Label Feines Tier, wird das Album prunkvoll gerahmt von den sakralen Orgelsounds von „The Church And The Devil” und dem wunderbar poppigen „Tomorrow One World”, bei denen sich die Verweise auf Kölner Dom und Lokalpatriotismus nur schwer umschiffen lassen. Tracks wie „Alone At the Beach” begeben sich auch mal in dunklere und reduziertere Gefilde, über allem liegt aber doch der sanfte, melodiebewusst fließende und oft Vocal-getriebene Ansatz, der Popnoname-Tracks zu jenen Chamäleons macht, die sich überall wohlzufühlen scheinen. Gerade bei den Vocals meint man oft, alte Bekannte zu erkennen. Aufgrund weiterführender Informationen bleibt das aber lediglich ein Gefühl, das sich genauso auch auf die Songs überträgt. Stefan Dietze
Roza Terenzi – Modern Bliss (Planet Euphorique)
Die Achse Vancouver-Melbourne: yes, sie glitzert. Was vor zwei Jahren als wunderbare Freundschaft begann, als Roza Terenzi mit D. Tiffany auf Partys an der westkanadischen Küste auflegte, pflanzte sich 2018 in einer EP auf D. Tiffanys Label Planet Euphorique fort und durchwirkt jetzt auch das erste Album der Australierin. Wie D. Tiffany zählt Roza Terenzi zu einer interkontinentalen Garde von Produzentinnen-DJs, die locker zwischen Entschleunigung und Rasanz jonglieren, zwischen Electro, Breaks und Ambient, zwischen alter und neuer Schule. Über den keck wuselnden Klanglandschaften schien bei Roza Terenzi schon immer ein hauchzarter Fourth-World-Schleier zu liegen. Ihre Musik klingt wie gemacht für dunkle Keller-Clubs. Und doch auch nach chlorophyllgrüner Sommerfrische, nach anschließendem Tanzen am Strand. Roza Terenzis Debütalbum Modern Bliss präsentiert sich als wohlfeil austariertes Ding, das ist richtig rund geworden. Höhepunkte: „That Track (Rewired Mix)” und „My Reality Cheque Bounced feat. DJ Zozi”. Bjørn Schaeffner
Sepehr – Shaytoon (Dark Entries)
Ein bisschen Persisch hilft vermutlich, wenn man besser verstehen möchte, was es mit Shaytoon, dem Debütalbum des in San Francisco ansässigen Produzenten Sepehr, auf sich hat. Heißt der Titel übersetzt etwa Satan? Das Intro „Zendegi” bedeutet jedenfalls Leben. Dankenswerterweise gibt er einem mit den anderen Nummern weniger große sprachliche Rätsel auf. „Contamination” passt unfreiwillig leider viel zu gut in die Gegenwart, auch der zurückgenommen ruckelnde Electro-Funk, den er darin auskundschaftet, nimmt sich aktuell ganz prächtig aus. „Hallucination Express” setzt in Sachen rhythmische Synkopier-Freudigkeit noch eins drauf, gekrönt von einer schaumschlagenden 303 in Bestform. Zwischen frühem Detroiter Techno und Acid bewegt sich vieles auf dieser Platte, das allerdings stets in so sicherer Aneignung der Stile, dass diese bei Sepehr schon anfangen, in etwas Eigenes überzugehen. Eigen auch seine Inspiration zu vielen der Titel, die sich anscheinend aus der iranischen Popmusik seiner Jugend speist. Müsste man dann dummerweise kennen, um sie klarer mit Sepehrs Clubentwürfen in Verbindung zu bringen. Doch das hindert keinesfalls daran, Shaytoon zu hören, und dürfte einen noch weniger davon abhalten, es gut oder womöglich sehr gut zu finden. Das macht einem Sepehr sogar ziemlich leicht. Egal, wie der Titel nun zu übersetzen ist. Tim Caspar Boehme
The Bionaut – Everybody’s Kissing Everyone (Kompakt)
Alle küssen alle. Das klingt ganz wie eine Antwort aus den Neunzigern auf die einst in den Achtzigern von D.A.F. ausgegebene Losung „Alle gegen alle”. Wobei das mit den Neunzigern auf Everybody’s Kissing Everyone, das Debütalbum von The Bionaut, allemal zutrifft. 1992 auf dem gemeinsam mit den Kölner Kollegen von Air Liquide gegründeten Label Blue erschienen, ist es zunächst einmal ganz von der Euphorie enthemmter MDMA-Feierfreude getragen – oder umgekehrt. Doch die Techno-Seligkeit hat in Köln bekanntlich noch nie große Berührungsängste mit dem Pop gekannt, und das weiß The Bionaut alias Jörg Burger auf dieser Platte, die damals ausschließlich auf Vinyl gepresst wurde, sehr zu seinem Vorteil zu nutzen. Melodien stören ja nicht, es braucht bloß jemanden, dem sie einfallen. Ist hier klar der Fall: „Aquamarine” etwa wäre auch auf Behaviour von den Pet Shop Boys gar nicht allzu groß aufgefallen. Was zugleich ein wenig an den Produktionsmitteln der Zeit gelegen haben dürfte. Damals klangen Produktionen der Neunziger ja, anders als heute, in der Regel nach ihrer Epoche. Jetzt haben diese Nummern etwas einerseits Klassisches, andererseits passen sie prima in die Gegenwart. Ein in jeder Hinsicht schöner Reissue, den Kompakt übernommen hat. Tim Caspar Boehme