Mit Illusion Of Time legen Alessandro Cortini und Daniel Avery einen aufwühlenden wie läuternden Synthesizer-Trip durch hochemotionale Melodie-Gebirge und eines unserer Lieblingsalben des Monats vor, eingebettet in knisternde Klangteppiche und nostalgische Reminiszenzen. Die beiden bekannten Musiker trennen nicht nur zehn Jahre, mit der Kollaboration für Averys Stammlabel, Erol Alkans Phantasy Sound, die bis ins Jahr 2017 zurückreicht, finden zwei Künstler mit ziemlich unterschiedlichen Biografien und Sounds zueinander.
Dem Londoner Daniel Avery gelang 2013 mit der Ambient-Techno-Platte Drone Logic der internationale Durchbruch in Clubs und auf Festivals, der Nachfolger Song For Alpha schaffte es in unsere Platten des Jahres 2018. Ungefähr zum selben Zeitpunkt startete der italienische Klangkünstler Alessandro Cortini seine Solo-Karriere, der sich schon seit 2005 als Keyboarder für Trent Reznors US-Band Nine Inch Nails in Industrial-Rock-Gefilden austobte. Nach seiner Album-Trilogie Forse wurde er 2017 von der Kritik für das zeitlose, zartfühlende wie kathartische Ambient-Meisterwerk Avanti gefeiert und war häufig auf dem Atonal Festival zu sehen. Neben Kollaborationen mit Merzbow und Lawrence English und einigen Nebenprojekten erschien Ende 2019 sein etwas verhaltener Mute-Erstling Volume Massimo.
Per Telefonkonferenz sprechen wir über die Entstehungsgeschichte des neuen Albums und warum Vertrauen dafür so wichtig war, Cortinis Ausflüge in die Techno-Welt, billige PR-Tricks, streitlustige Synthesizer und die Magie des ersten Moments.
Oberflächlich betrachtet seid ihr mit gefühlsgeladenem Ambient und psychedelischem Techno ziemlich unterschiedliche Künstler. Wie habt ihr zueinander gefunden?
Daniel: Darüber haben wir schon nachgedacht, an den exakten Moment können wir uns nicht erinnern. Aber wir haben durch Social Media herausgefunden, dass wir gegenseitig unsere Arbeit bewundern, ich glaube zuerst auf Twitter. Die Initialzündung kam, als wir beide 2017 auf dem FYF Festival in Los Angeles spielten, Alessandro mit Nine Inch Nails und ich als DJ. Wir waren schon eine Weile im Kontakt und wollten etwas Besonderes draus machen. Wir schickten uns gegenseitig Skizzen zu, woraus sich ziemlich schnell die Tracks „Sun” und „Water” entwickelten. Die verkauften wir nur auf dem Festival als limitierte 7’’-Singles. So hat es also angefangen. Alles fühlte sich so organisch, natürlich und einfach wie nur irgend möglich an. Interessant, dass du sagst, wir sind ziemlich unterschiedliche Künstler. Je mehr wir uns austauschten und miteinander arbeiteten, umso mehr Gemeinsamkeiten entdeckten wir. Aus meinem Blickwinkel betrachtet hat alles, was wir machen, eine psychedelische Note, außerweltliche Eigenschaften. Ich schätze, das brachte uns eigentlich zusammen.
Im Pressetext ist etwas kryptisch die Rede davon, dass eure Kollaboration schon begann, bevor ihr euch überhaupt getroffen habt. Damit ist also gemeint, dass ihr zwei seelenverwandte Musiker seid?
Daniel: Das stimmt.
Alessandro: Am härtesten war es, die Platte einfach so zu akzeptieren, wie sie ist. Dass die Dinge bereits in Ordnung sind, wertzuschätzen, was wir schon zusammen geschrieben hatten. Im Gegensatz zu unseren Solo-Arbeiten mit ständigen Zweifeln und krassen Ansprüchen. Wir haben diesmal mehr auf unser Bauchgefühl gehört. Vor allem auch, weil wir beide am Reisen waren. Also lief es so: Ich war für einen Tag im Studio und Daniel schickte mir etwas rüber. Ich setzte mich hin, hörte es an und bastelte sofort am nächsten Schritt weiter, naiv und nicht so kritisch. Teils mit etwas so Simplem wie einem Noise-Teppich, der seine Aufnahmen atmosphärischer machte, bis hin dazu, eine Skizze mit kompletten Akkordfolgen, Gitarren und andere Instrumenten zu erweitern. Aber es ist nie in Stress ausgeartet. Am meisten Struktur mussten wir wahrscheinlich beim Tracklisting anwenden. Denn wenn du eine gewisse Anzahl an Tracks hast, willst du auch, dass sie in einer speziellen Weise ineinander fließen.
Daniel: Dass sich zwischen uns alles so natürlich angefühlt hat, unser gegenseitiges Vertrauen war die eigentliche Keimzelle der Platte. Wir haben uns mit diesen Tracks nicht abgemüht, haben nicht versucht, sie weniger oder mehr nach Alessandro oder mir klingen zu lassen. Sie existierten einfach in diesem Raum zwischen uns und wurden von unserem gegenseitigen Vertrauen zusammengehalten. Das war ein essentieller Punkt bei dieser Platte.
„Wir haben uns mit diesen Tracks nicht abgemüht, haben nicht versucht, sie weniger oder mehr nach Alessandro oder mir klingen zu lassen. Sie existierten einfach in diesem Raum zwischen uns und wurden von unserem gegenseitigen Vertrauen zusammengehalten.”
Daniel Avery über die Kollaboration
Auf einer Nine-Inch-Nails-Tour habt ihr euch dann 2018 zum ersten Mal getroffen?
Daniel: Alessandro gebührt der Dank dafür. Denn er spielte der Band meine Musik vor und dann luden sie mich ein, ihre USA-Tour 2018 zu eröffnen. Diese großen Bühnen für sie warm zu spielen, das waren echte Traum-Gigs. Auf der Tour konnten wir uns auch ein paar Stunden nehmen und schlossen das Album ab. Alles fand ganz von allein zueinander. In diesem Kontext fühlte sich das echt wie eine Erleuchtung an.
Alessandro: Wir haben nur vier Stunden in einem Hotelzimmer gebraucht, um das Material durchzuhören, vielleicht noch die ein oder andere Sache hinzuzufügen und das Album zusammenzubasteln. Verrückt! Als wir fertig waren haben wir uns wortwörtlich so angeschaut: „Wie, das war es? Kann es das wirklich schon gewesen sein?” (lacht) Wobei unsere schnelle und instinktive Herangehensweise auch für Stress sorgte. Die ersten zwei Stücke schrieb ich auf einer Akai MPC Live. Ein guter Vorwand, um das Gerät kennenzulernen. Als ich die einzelnen Spuren an [die italienische Toningenieurin, Anm. d. Red.] Marta Salogni schicken wollte, hatte ich die Dateien schlichtweg nicht und konnte sogar die MPC nicht mehr finden. Denn ich habe einiges live eingespielt und sofort rübergeschickt. Also gab es nichts als komplette Tracks. Ich schäme mich für das ständige Hin und Her, aber Marta ist eine unglaubliche Künstlerin. Sie hat einen fantastischen Job mit dem Album gemacht und unser Baby definitiv an einen besseren Ort gebracht – den Ort, den die Platte verdient.
„Wir haben nur vier Stunden in einem Hotelzimmer gebraucht, um das Album zusammenzubasteln. Verrückt! Als wir fertig waren haben wir uns wortwörtlich so angeschaut: ‚Wie, das war es? Kann es das wirklich schon gewesen sein?‘”
Alessandro Cortini über den schnellen Albumprozess
Nur um das klarzustellen: Ihr habt das Album also in einer einzigen Session in einem Hotelzimmer während der Tour fertiggestellt?
Alessandro: Ja, wir haben uns dieses eine Mal getroffen.
Daniel: Im Übrigen haben wir uns zwar Material zugeschickt, aber es ging nicht ständig hin und her. Eher einmal oder zweimal. Das hat mit unserem gegenseitigen Vertrauen zu tun und der Magie der ersten Aufnahme. Außerdem entwickelte die Musik nach einer Weile ein Eigenleben. Wir beide merkten das und erlaubten ihr, zu atmen. Das kannst du der LP anhören.
Ist es dir schwer gefallen, keine Kickdrums und Snares auszupacken?
Daniel: Es war auf jeden Fall ein hübscher Urlaub für meine Kickdrum! Ich liebe Clubmusik, aber es ist nur ein kleiner Teil meines Kosmos. Diese Ambient-Welt ist genauso wichtig. Unsere Arbeitsweise war wirklich faszinierend, irgendwie meditativ und erfrischend anders, also habe ich jede Sekunde geliebt.
In einem Electronic-Beats-Feature meintest du mal: „Die Kickdrum im Club wegzunehmen hat mehr Impact als jede Technoplatte, die du spielen kannst.”
Daniel: Beim Album geht’s vor allem um diesen Raum. Ohne Kickdrum kann die Musik deinen Kopf viel mehr füllen, deine Seele tiefer berühren. Das ist jedenfalls meine Meinung.
Dass du träumerische Synth-Teppiche magst, zeigen ja auch deine früheren Arbeiten. Aber Alessandro, du hörst Tanzmusik?
Alessandro: Nun, ich höre schon eine ganze Menge Kick-basierte Musik, aber bin nicht mit der Clubszene aufgewachsen. Weder in Italien noch hier in Berlin, was für gewöhnlich die erste Frage ist, wenn ich vom Umzug erzähle: „Also gehst du ständig ins Berghain?” Deswegen bin ich nicht hergezogen, aber natürlich habe ich nichts dagegen. Ich mache meine Angelegenheiten lieber auf meine Weise, spiele meine Shows spätestens um 11 Uhr abends und gehe dann ins Bett. Ich bin nie eine Kreatur der Nacht oder ein Clubgänger gewesen, aber ich mag Techno mit seiner Energie. Nur auf eine intimere Weise, eben wenn ich Musik anhöre, reise oder im Studio bin.
Und du du magst es, Techno zu produzieren?
Klar, ich hatte schon hier und da meine kleinen Releases, definitiv Hardware-basiert. Mein Favorit ist auf einem schrägen Label namens Panzerkreuz von Bunker aus Den Haag. Eine One-Take-Live-Aufnahme auf einer 303 und 606 als – ach, ich kann mich nicht erinnern – Slumberman, glaube ich. Während meiner Zeit in Los Angeles ging ich in diesen Plattenladen Mount Analog. Das Personal hörte sich wie früher an, was du magst, und hat dann Musik empfohlen. Du kamst rein und sie hatten schon einen Haufen Platten für dich bereit liegen, toll! Dort entdeckte ich Panzerkreuz, die ganzen White Labels and Limited Editions, The Acid Mercenaries, Helena Hauff und Heckmann. Als ich 2013 mit Nine Inch Nails in Amsterdam spielte, lud ich [Bunker-Labelbetreiber und Unit-Moebius-Mitglied, Anm. d. Red.] Guy Tavares ein. Wir trafen uns auf der Show, ein total schüchterner Typ, und ich gab ihm mein Material. Ein paar Wochen später mailte er mir, er würde das gerne rausbringen. Ich war total begeistert, obwohl es wahrscheinlich nur 300 Kopien gab. Aber unglaublich, gerade erst das Label entdeckt und schon drauf veröffentlicht.
Wie ist es zur Skarn-EP Revolver auf Avian gekommen?
Das ist schon Techno, aber ein bisschen verschroben. Alles mit Röhrensynthesizern gemacht, also hat es einen kaputten und angeknacksten Vibe. Ich habe damit um 2014 herum ein paar Mal live gespielt. Das einzige Problem ist, dass deren Klang sich bei einer minimalen Berührung von der größten Kick, die du jemals gehört hast, in ein klickendes, schreckliches Etwas verwandelt. Die Auswahl an brauchbaren Sounds ist ziemlich limitiert und definitiv nicht für Live-Situationen geeignet. Die erste Show musste ausgerechnet im Tresor sein – deswegen spiele ich dort wahrscheinlich nicht mehr. Der Stress war groß. Daniel macht das seit Ewigkeiten, aber ich weiß nicht, wie Techno funktioniert. Wie eine Hälfte der Leute tanzte und mich die andere Hälfte anstarrte: War ich nicht gut genug oder interessierten sie sich für meine Maschinen? Es war ein Mindfuck und fünf Uhr morgens! Viel auf einmal zu verarbeiten, also hat es mich eher in eine andere Richtung bewegt.
„Die erste Show musste ausgerechnet im Tresor sein – deswegen spiele ich dort wahrscheinlich nicht mehr. Wie eine Hälfte der Leute tanzte und mich die andere Hälfte anstarrte: War ich nicht gut genug oder interessierten sie sich für meine Maschinen? Es war ein Mindfuck und fünf Uhr morgens!”
Alessandro Cortini über seine Techno-Exkursionen im Berliner Tresor
Ist es im Zeitalter der Übersättigung, wo man innerhalb von Sekunden über neue Tracks urteilt, schwieriger für Platten wie Illusion Of Time geworden? Oder braucht die Welt gerade Musik, für die man sich Zeit nehmen muss?
Daniel: Das Letztere wird immer wichtiger. Es gibt so viel intensive, insbesondere negative Energie in der Welt, dass du diesen Raum zum Durchatmen brauchst und dich eine Stunde lang einem Album hinzugeben. Aber es fühlt sich keineswegs schwieriger für uns an. Wir machen halt Musik und das haben wir quasi schon immer. Alessandro stimmt mir bestimmt zu: Wir können doch sonst eigentlich gar nichts. Damit sind wir wir aufgewachsen, Musik haben wir als Youngster konsumiert und uns in sie verliebt. Also müssen wir einfach vorwärts schauen und weiter machen.
Braucht ihr Musik für euer Seelenheil?
Alessandro: Deshalb machen wir Musik. Außerdem genießen wir das Glück, unser Leben damit bestreiten zu können, wir selbst zu sein. Ich kann nicht erklären, warum wir in dieser Position sind. Ich wache jeden Morgen auf und bin dankbar. Nachdem wir die zwei Tracks veröffentlicht hatten, bekam ich innige Kommentare und die Leute schienen unserer Musik sehr verbunden zu sein. Das hat so gut getan!
Daniel: Vor allem wenn du ständig am Touren bist, brauchst du einen Ort, um diesem chaotischen Leben zu entfliehen. Überhaupt finde ich Musikmachen die beste Flucht von allem. Und wie Alessandro meinte: Wenn du dich aus der Welt nehmen kannst, und sei es für nur einen Moment, werden das andere spüren und sich mit dir verbinden.
Das Album kann wirklich sehr aufwühlend und kathartisch sein. Ist das euer Antrieb?
Alessandro: Mein einziger Antrieb ist, Musik zu machen, die mich gut oder besser fühlen lässt. Der Einzige, den ich künstlerisch oder musikalisch befriedigen muss, bin ich. Das ist ein sehr befreiender Umstand, der mir erlaubt, Musik immer wieder aufs Neue zu machen, wie auf eine unbeschriebenen Seite zu blicken. Im Gegensatz dazu, im Studio über deinen nächsten Move, PR-Tricks oder alte Releases grübeln zu müssen, in Abhängigkeit mit aktuellen Hörgewohnheiten. Genießt doch einfach die Musik, statt die Leute mit Beschreibungen zu ködern. Vor allem heutzutage! Nicht mehr die Zeit für Plattenkritiken, wie als wir aufwuchsen. Denn kaum ein Laden ließ dich einfach so etwas anhören. Jetzt braucht es beinahe keine Reviews mehr, außer als Fleißarbeit – die als Autor toll ist und ich wertschätzen kann. Aber nicht, um zu entscheiden, ob du eine Platte magst. Dafür brauchst du fünf Sekunden.
Bedeuten dir Plattenkritiken wirklich nichts?
Alessandro: Ich werde mir meine Alben ja noch jahrelang anhören und denke nicht mehr allzu viel über die Meinung der Leute nach. Denn ich habe gelernt: Je intensiver wir Musik für uns als menschliche Wesen und als therapeutischen Prozess machen, ohne uns ständig zu hinterfragen, umso stärker wird das Publikum darauf reagieren. Vielleicht liege ich falsch und beim nächsten Release läuft es anders herum. Aber nach den ganzen Alben bin ich mir sicher, dass mich meine kleine, sehr verbundene Fangruppe auch unbewusst deswegen schätzt. Wenn du es schaffst, deine Emotionen und Musik direkt zu verbinden, hast du das Ziel doch im Grunde erreicht.
„Je intensiver wir Musik für uns als menschliche Wesen und als therapeutischen Prozess machen, ohne uns ständig zu hinterfragen, umso stärker wird das Publikum darauf reagieren.”
Alessandro Cortini über Musik als Therapie
Daniel, was meintest du vorhin mit der Magie des ersten Moments? Zerstört man sie, wenn man sich mit perfekten Aufnahmen abmüht?
Daniel: Genau, das haben mir die Arbeiten an diesem Album mit Alessandro wirklich gelehrt. Wir fingen damit an, als ich endlich mein letztes Album Song For Alpha fertigstellte. Daran habe ich fünf Jahre lang gearbeitet, ständig die Richtung gewechselt, Fehltritte gemacht und mir den Kopf zerbrochen. Als ich also begann, mit Alessandro zu arbeiten, fühlte ich eine neue Energiewelle in meinen kreativen Prozess eintreten. Das half mir wirklich, Song For Alpha abzuschließen, und ging ganz natürlich mit Illusion Of Time weiter. Man übertreibt es beim Produzieren leicht, aber dann trete einfach einen Schritt zurück, lass dich fallen und die Magie der Musik ihr Eigenleben entfalten. Wenn sich etwas richtig anfühlt, ist es richtig.
Wenn ihr Musik macht, habt ihr eine klare Vorstellung von den Sounds oder setzt ihr euch einfach vor die Maschinen und schaut, was passiert?
Alessandro: Ich setze mich definitiv einfach vor die Maschinen. Ich habe keine Ahnung, was ich machen werde. Außer ich muss einen Job erledigen wie einen Video-Game-Score oder Remix. Aber selbst dann! Ich versuche jeden Tag Musik zu machen, wie ein Kind jeden Tag spielt. Ich habe in meinem Studio ein Set-Up, das mir erlaubt, mehrere Spuren ganz ohne Computer aufzunehmen. Alles wird auf einer 1-Terabyte-SD-Karte aufgenommen, 24 Spuren Multitrack. Wenn ich reise, höre ich diese Sachen durch. Daran, wie ich manche gemacht habe, erinnere ich mich gar nicht mehr, weil an dem Tag vielleicht zwei, drei oder zehn entstanden sind – und an anderen Tagen gar keine. Manche davon werden mein Archiv, andere Stücke von Platten, die ich veröffentliche. Deshalb habe ich nie viel mit dieser Herangehensweise anfangen können, obwohl daran nichts falsch ist: „Ich habe diese Ideen in meinem Kopf und brauche nur die Werkzeuge, um sie umzusetzen!” So funktioniere ich nicht, für mich ist es stets wie eine Partie Schach mit den Maschinen. Ich mache einen Zug, die Maschine gibt mir etwas zurück, lässt mich anders denken. Ich mag das. Es ist ein Spiel, wie Kinder mit ihren Spielzeugen.
„Musikmachen ist für mich wie eine Partie Schach. Ich mache einen Zug, die Maschine gibt mir etwas zurück, lässt mich anders denken. Es ist ein Spiel, wie Kinder mit ihren Spielzeugen.”
Alessandro Cortini über seinen Kompositionsprozess
In einem FACT-Studiofeature meintest du sogar: „Synths sind für mich keine Werkzeuge, sondern Freunde.”
Alessandro: Ja, und ich kämpfe auch mit ihnen. Ich reiße die Module raus, entscheide mich für die brutale Methode. Was nicht funktioniert, schmeiße ich in die Küche! (lacht)
Eine ziemlich teure Leidenschaft.
Alessandro: Nun, ich habe einen guten Freund, Mark Verbos. Er ist Musiker und produziert mit der Firma Verbos Electronics seine eigenen Eurorack-Module. Er ist einer der Besten, um Buchla-Synthesizer reparieren zu lassen. Es ist kein Zufall, dass ich ein Jahr nach ihm nach Berlin gezogen bin.
Du besitzt einen ganzen Maschinenpark. Daniel, hast du auch ein paar Geräte im Studio?
Daniel: Ich habe ein paar Maschinen hier, aber ich mag es auch, Sachen am Computer zu manipulieren und zu bearbeiten. Wenn diese zwei Welten zusammenkommen, wird es spannend – also Alessandros riesiges Synthesizer-Wissen und mein Mangel davon. (lacht) Aber darüber denke ich gar nicht nach. Ich betrachte mich nicht als Puristen oder Vertreter der Moderne. Ich vertraue meinen Instinkten und darauf, was sich richtig anfühlt. Das war uns wichtig und wir hatten keine Vorstellung davon, wie die Platte klingen oder gemacht werden sollte. Wir haben einfach losgelegt und alles ist von selbst passiert.
Alessandro: Genau. Ich habe auch gar nichts gegen Computer, sondern einfach mehr Spaß, wenn ich eine Idee mit meinen Händen forme und nicht auf einen Bildschirm starre und mit der Maus herumklicke. Andere Aufgaben wie das Abmischen fallen mir am Computer wiederum leichter als mit Hardware. Also ich könnte nicht entweder nur in einer analogen oder digitalen Welt leben. Was ich an analoger Technik mag, ist nicht unbedingt der Sound, denn die modernen Synthesizer klingen ja gar nicht mehr wie die früheren. Ich mag einfach Maschinen, die alt sind – weil sie nicht perfekt klingen, hier und da ein bisschen kaputt. Sie haben Fehler – wie wir Menschen.
„Ich mag einfach Maschinen, die alt sind – weil sie nicht perfekt klingen, hier und da ein bisschen kaputt. Sie haben Fehler – wie wir Menschen.”
Alessandro Cortini über alte Synthesizer
Du versuchst jeden Tag Musik zu machen. Wie sieht deine Studio-Routine aus, Daniel?
Daniel: Ich versuche es ein bisschen wie einen normalen Job zu betrachten. Ich komme morgens ins Studio und gehe nach ein paar Stunden. Beim Reisen finde ich es ziemlich schwierig, Musik zu machen. Also halte ich diese Welten eher getrennt und bin gerade mehr Zuhause, um so viel wie möglich zu machen.
Alessandro: Vorhin meinte ich auch eher, mich unterwegs mit Musik zu beschäftigen. Wenn ich reise, mache ich natürlich auch nichts, außer alte Sachen anzuhören. Dass wir unsere Einfälle durchhörten, während wir vielleicht aus einem Flugzeugfenster geschaut oder irgendwo auf die nächste Show gewartet haben, ist eine ziemlich andere Weise, Musik zu konsumieren, als vor zwei Lautsprechern in einer sterilen – nun, das will ich eigentlich nicht sagen, denn mein Studio ist gar nicht steril – also hermetischen Umgebung. Die Stärke dieser Platte ist, dass sie alles Mögliche bedeuten kann. Ihre emotionale Wirkung hängt davon ab, wo und wie Leute sie anhören.
Lasst uns noch ein bisschen mit den Stücken ins Detail gehen: Warum benutzt ihr im Hintergrund fast durchgängig Zischen und Knistern wie auf alten Platten oder Tapes und beendet das Album damit auf „Stills”?
Daniel: Wie Alessandro vorhin meinte, uns faszinieren diese Fehler und Artefakte, die in allem und jedem anwesend sind. So fühlt es sich echter und lebendiger an, mehr nach einer Welt, in der du dich verlieren willst, nebulös und sehr einladend für uns.
Alessandro: Und lasst uns nicht vergessen, wie überholt vieles ist, das wir für perfekte Technologie hielten. Also ich bin damit aufgewachsen, das Tape-Rauschen zu hören, bevor die Musik auf meinem Walkman anfing. Oder das Brummen des Fernsehers, wenn du Videospiele mit runtergedrehter Lautstärke gespielt hast. Darüber denkt man gewöhnlich nicht nach, dabei waren diese Geräusche Teil des Alltags. Es fühlte sich gut an, sie auf dem Album wiederzubeleben, weil die Stücke so direkt einen Kontext bekamen und nicht einfach in der Luft schwebten. Wie ausgeleierte Jeans, wobei das nicht das beste Bild ist. Wie gut eingelaufene Stiefel, die wir ein Jahr lang anhatten und jetzt wem anders überlassen.
„Ich bin damit aufgewachsen, das Tape-Rauschen zu hören, bevor die Musik auf meinem Walkman anfing. Oder das Brummen des Fernsehers, wenn du Videospiele mit runtergedrehter Lautstärke gespielt hast. Es fühlte sich gut an, diese Geräusche auf dem Album wiederzubeleben, weil die Stücke so direkt einen Kontext bekamen.”
Alessandro Cortini über Soundreminiszenzen
Mit mehr Charakter als ein fabrikneues Modell. Andere Tracks wie „Inside The Ruins” sind ziemlich düster für eure Verhältnisse, weil ihr ja doch eher tonale Klänge erkundet?
Alessandro: Nun, ich habe ein Album mit Merzbow gemacht. Das beantwortet wahrscheinlich die Frage. (lacht) Alles hat seinen Platz, aber klar bevorzuge ich Melodien. Doch solche Tracks verschaffen den Zuhörer*innen eine kleine Pause, verändern den Fluss des Albums. Wenn jemand den Track hundert Mal hintereinander anhört, wäre ich ein bisschen besorgt – kleiner Spaß.
Daniel: Wir sind definitiv beide Fans von kontrollierter Aggression.
Vermutlich tragen genau solche Tracks zum kathartischen Gesamterlebnis bei. Auf „Sun” gibt es diese tonalen Schwingungen, die sich nur für wenige kurze Momente unendlicher Glückseligkeit überlagern. Wie habt ihr das erreicht?
Alessandro: Keine Ahnung, aber deine Beschreibung ist umwerfend und macht mich glücklich. Darum geht es doch und nicht ums Equipment, also Ziel erreicht! Leider bin ich ziemlich schlecht darin, den Überblick über meine Musik zu behalten – professionell betrachtet das Äquivalent zu Junk Food.
Du bist das Junk Food unter den analogen Synthesizern?
Alessandro: Ich bin so schlecht mit Back-Ups, Archiven und Notation. Eigentlich sollte ich mit einem Toningenieur zusammenarbeiten. Aber dazu bin ich zu chaotisch. Auch wenn ich mein Studio jeden Tag benutze, fühlt es sich eher wie ein Spielplatz als ein Arbeitsplatz an. Immer wenn ich in professionellen Studios gearbeitet habe, musste ich an die Kosten denken, und das beeinflusste meinen Output negativ.
Der Albumtitel Illusion Of Time ist ein ziemlicher Gemeinplatz. Was genau fasziniert euch an diesem Gedanken?
Daniel: Gute Frage. Der Titel fiel uns einfach ein und hängt mit etwas aus unser beider Vergangenheit zusammen, das wir hier aber nicht ausplaudern wollen. Ich liebe den Klang und die Rätselhaftigkeit dahinter.
Alessandro: Genau. Wie mit der Entstehung der Musik, es klingt zwar als ob wir unverantwortlich wären oder uns nicht scheren, aber als ich das Artwork und den Titel sah, machte einfach alles Sinn. Wenn ich die Platte höre, transportiert sie mich jedes Mal woanders hin. Egal, wie spät es ist oder wie lange ich mich damit beschäftige. Wie ein meditativer Zustand, wenn ich es zulasse, sogar beim Spazierengehen. Zeit ist offensichtlich eine Illusion in dem Sinne, dass wir alle diese Tagesstruktur übergestülpt bekommen, die wir nicht brauchen, um glückliche Menschen zu sein. Die Platte zieht dich für eine Stunde in einen losgelösten Zustand, wenn du es dir leisten kannst, und lässt dich woanders hin schweben.
Daniel, du arbeitest außerdem gerade mit dem BBC Concert Orchestra an Neuinterpretationen deiner letzten Soloplatte Song For Alpha?
Daniel: Das ist ziemlich aufregend. Ich arbeite auch an Club-Material für ein neues Album, das hoffentlich diesmal keine fünf Jahre braucht. So beschäftigt war ich noch nie im Studio, aber auch noch nie so glücklich. Und wie gesagt, Illusion Of Time spielte dabei eine wichtige Rolle.
Alessandro: Nun, wenn ich mir die Romantik dahinter anschaue, wie ich Daniels Musik hörte, wir uns durch Social Media kennenlernten und die Platte machten, emotional betrachtet so viel lernten und tolle Reaktionen bekamen – ich wüsste nicht, was das noch toppen soll.