(Foto: Privat)
„Die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht bereit”? Der olle Tocotronic-Gassenhauer scheint heutzutage nicht mehr allzu oft anwendbar. Für viele gute Ideen scheint die Welt eher viel zu bereit zu sein. Zum Beispiel für eine Stile und Genres überschreitende Plattform, auf der interessante neue Klänge miteinander in einen Dialog gebracht werden oder wenigstens einander kontrastieren dürfen. Es ist schon ein wenig tragisch, dass ein so ambitioniert angelegtes wie prominent besetztes neues Label- und Kompilationsprojekt wie das von den Berliner Italienern Simone Merli und Luca Calo angestoßene Profile of the Lines (Concentric Records, VÖ 23. März), welches genau diese an sich exzellente Idee verfolgt, einen inspirationell so lauwarmen Antritt hat. Die hochprofilige erste Folge der bislang auf drei Teile angelegten Reihe bietet mit Pole, Vladislav Delay, Samuel Rohrer und anderen etablierten weißen Männern eine geballte Menge an nachgewiesen hohen Producer-Qualitäten, klingt jedoch zu oft nach Business as Usual. Alles sehr angenehm klingende, fein polierte Handwerkskunst, die immer, ein Stück weit rau und naturbelassen, am Rande der Beliebigkeit entlanggleitet, ohne sich die geringste Schramme einzuholen. Ob daraus nun Electronica, IDM-Glitch oder Ambient wird, überraschen kann es leider nie. Einzige Ausnahme und einzige Produzentin der ersten Ausgabe ist Daniela Huerta, die ansonsten mit Magda im Berliner DJ-Duo Cornerbred auflegt. Die vergleichsweise rohe Collage-Ästhetik ihres Sample-Tracks wirkt so viel frischer und unbeschwerter als der Rest, ein punkiger Befreiungschlag inmitten soliden Muckertums. Die auf Mai und Juni terminierten Nachfolgeausgaben bieten unter anderem exklusive Stücke von Max Loderbauer, Petre Inspirescu, Jimmy Billingham (Tidal) und dem Soundwalk Collective.
Stream: Vladislav Delay – „Six”
Die freundschaftliche Konfrontation der Soundideen alter weißer Männer muss nicht unbedingt in wohltemperiertem Ennui und avancierter Öde enden. Zum Beispiel klingt A Quiet Corner In Time (Mute, 27. März) kein bisschen alt oder verbraucht. Die auf den ersten Blick eher unwahrscheinliche Kollaboration des ehemaligen Popstars, Schauspielers und späteren Elektroakustik-Komponisten Simon Fisher Turner mit dem prominenten Autor, Designer und Keramik-Künstler Edmund De Waal führte jedenfalls zu einem kaum vorhersehbaren Album, auf dem sich komplexe Sound Art auf der Basis von Field Recordings mit Dark Ambient und Sample-Collagen trifft. 1819 (Offen Music) von Smagghe & Cross, zweite Fortsetzung der Kollaboration des Pariser Electro-Techno-Veterans Ivan Smagghe mit dem Soundtrack-Komponisten Rupert Cross auf Vladimir Ivkovics Label, lugt ebenfalls in sonst eher unbeobachtete Ecken und ungefüllte Nischen von Electronica. Selbst in ihrer Methode: Modulargebrumm und Kinosamples, Field Recordings, runtergepitchte Vocals, Stille – alles möglich. Ein genuin eigenwilliger Sound, der von jeglicher Funktionalität absieht, sei es nun Tanzbarkeit oder ambiente Raumparfümierung. Der Portugiese Vitor Joaquim ist ebenfalls nicht mehr der Jüngste. Er hat auf Nothingness (Self Released) einen ebenfalls originellen Weg gefunden, mit den uralten Soundsprachen von Laptop-Glitch und Elektroakustik noch etwas Interessantes und Neues zu sagen.
Video: Simon Fisher Turner & Edmund de Waal – „Breaking Emptiness”
Wenn sich Herangehensweisen an die Produktion von Klängen nicht mehr so leicht in Schublädchen einsortieren lassen, ist das oft ein Indiz für einen endemischen, lokalen, kreativen Zusammenhang abseits der transnationalen Zentren. Selbst wenn gar keine geschlossene Szene im üblichen Verständnis dahintersteht. Da stecken dann oftmals spontan geformte oder den Umständen abgetrotzte Wahlverwandtschaften dahinter, die auf Kategorien und Genres pfeifen, stattdessen eher einen individuellen Hang zum Experiment gemeinsam haben. So scheint es zurzeit in Italien eine spannende (Nicht-)Szene zu geben, die den Elfenbeinturm der akademischen Elektroakustik verlassen, seine Arbeitsweisen aber nicht vergessen hat und sich aus den Trümmern von Industrial und Drone eine individuelle Version von Dark Ambient bastelt. Zum Beispiel konstruiert Camilla Pisani aus Rom auf Frozen Archimia (Midira Records) erhabene Soundkathedralen mit der kühlen (und coolen) Aura von Klanginstallationskunst. Schon der Titel bezieht sich auf den berühmten Spruch von Architektur als gefrorener Musik. In der Soundpraxis hört sich das aber viel weniger intellektualistisch an, als es der hohe Ton des Goethe-Zitats vielleicht erwarten lässt. Der Schmutz und die Energie von Industrial korrodieren Pisanis strenge Konstruktionen ebenso wie unverhoffte Synth-Pop-Momente. Die verflüssigte Architektur gerann ihr so zu einer würzigen Kraftbrühe.
Giulio Aldinucci aus Siena raut die Konturen seiner feinherben Soundkonstrukte mit Field Recordings und Samples, die sich hin und wieder zu einem melodramatischen Zittern verdichten, auf. Die Architekturen, an denen sich Shards Of Different Time (Karlrecords, 27. März) abarbeitet, sind die unzuverlässigen mürben Artefakte der Erinnerung.
Der Sizilianer Fabio R. Lattuca operiert ebenfalls im Spannungsfeld von gefundenen, arrangierten und komponierten Sounds. Ein klassisches Vorgehen der Sound Art, auf Matter (Midira Records) allerdings in cinematische, mitunter pop-affine Stücke umgedeutet.
Christina Giannone lebt in Brooklyn, New York. Ob ihres Sounds und italienisch klingenden Namens möchte ich sie allerdings in diesen sowieso imaginären Gruppenzusammenhang einreihen. Ihre Ten-Inch Redemption (Past Inside The Present) vermengt all die bereits genannten Soundpartikel zu einer dichten und feinstofflich pastosen Masse aus lauwarmem Drone. Ein exzellentes Debüt, das auf Augenhöhe mit wesentlich etablierteren Playern wie Aldinucci spielt.
Stream: Camilla Pisani – „No Land Frequencies”