Die Berliner Australierin Jasmine Guffond ist ein besonders erstaunlicher Netzwerkknoten in der experimentellen Elektronik. Einerseits ist ihr Sound hochgradig eigenwillig und kaum an aktuelle Trends angleichbar, andererseits doch maximal zeitgenössisch und kosmopolitisch. Seit geraumer Zeit beschäftigt sie sich mit den akuten Antinomien der digitalen Kontrollgesellschaft: Überwachung, Algorithmen, Netzwerke und Verhaltenssteuerung in sozialen Netzwerken. Diese Themen finden sich in ihren komplexen Werken wieder als unübersichtliche, unterschwellig bedrohliche Drone-Sounds, subtile Manipulationen von Stimme und gesampelter Elektroakustik. Diese erschüttern das Fundament ihrer ansonsten eher freundlichen Analogsynthesizer-Tracks bis ins Innerste. Microphone Permission (Editions Mego, 6. März) hinterlässt so einen wohligen Effekt der Verunsicherung, wie ein richtig guter Horrorfilm. Noch näher an den aktuellen urbanen Zeitgeist der erschütterten Selbstverständnisse zu gelangen, dürfte ziemlich schwer sein.

Die streng elektroakustischen Drones, die die Stimme der Französin Karen Jebane umschmeicheln, sind ähnlich schwer in Kategorien einzuhegen. Ihr Album Nona, Decima et Morta (Ideologic Organ, 20. März) unter dem Alias Golem Mecanique bietet Assoziationen mit Indie-Ambient à la Grouper an, öffnet aber ebenso Zusammenhänge mit frühen akademischen Synthesizer-Explorationen wie mit avanciert akustischen Mittelalter-Drones wie sie zum Beispiel La Tène oder France fabrizieren. Weniger urban und digital modern als Guffond, setzt sich Jebanes mechanischer Golem nicht weniger individuell zwischen die Sphären.

Der Kanadier Roger Tellier-Craig setzt sich in seinen vier Études (Second Editions) ähnlich gekonnt von seiner akademischen Ausbildung in der „ernsten” Elektroakustik ab, ohne sie zu verleugnen. Worum es geht, sind interessante Klänge in interessanter Anordnung, ohne zwingende Funktionalität oder Harmonik. Nothing Else Matters.

Stream: Jasmine Guffond – „Forever Listening”

Die kanadisch-belgische Kollaboration von Patrick Graham & John Sellekaers ergibt eine aparte Kombination von Schlagwerk und Elektronik aus dem jeweils ordentlich multiformen Erfahrungshintergrund von Jazz, Improv und Pop-Avantgarde beziehungsweise Industrial und Postpunk. Ihre Schnittmenge Unnatural (Parenthèses Records, 24. März) klingt nach moderner Elektroakustik und Dark Ambient, gewürzt mit den disruptiven Spitzen von Grahams metallischer Percussion. Die CD-Veröffentlichung des Albums wird begleiten drei digitale Remix-EPs mit Bearbeitungen von Debashis Sinha, Mathias Delplanque und Leafy Suburbs, die die Stücke in Richtung Electronica schieben.

Das Kopenhagener Duo Xenia Xamanek & Karis Zidore kann einen ebenso breiten musikalischen Horizont vorwiesen. Xamanek etwa kommt von der freien Improvisation, war aber auch auf der Posh-Isolation-Compilation Summer Storms vertreten. Ihre klassisch avantgardistische Klangcollage Moodswings (Escho) aus Saxophon, Samples und Stimme kennt sich in Free Jazz und formloser Improvisation ebenso gut aus wie im experimentellen Hörspiel.

Das eingespielte französische Duo Christine Abdelnour & Magda Mayas führt die eher begrenzten klanglichen Möglichkeiten des Saxophons und des präparierten Pianos in radikale Extreme. Ihr jüngster 35-Minuten-Track „The Setting Sun Is Beautiful Because Of All It Makes Us Lose” (Sofa) rüttelt mächtig am neoklassischen Konsens-Sound ihrer Instrumente. Ein einziges Klappern, Rattern, Dengeln und Quietschen, eine große Freude am freien Spiel.

Wie in dieser Kolumne schon öfter angemerkt, ist die Holländerin DJ Marcelle / Another Nice Mess quasi ihr eigenes Duo, oder, was die Reichweite ihres Sounds angeht, eher ein großes Orchester. Vor allem was ihre grandiosen, konsequent durchimprovisierten DJ-Sets angeht. Ihre Eigenproduktionen sind dagegen von einer Collage- und Hörspielästhetik geprägt, die immer in avanciertes Beathandwerk und Dub geerdet ist. Ihr Album Saturate The Market, Now! (Jahmoni) und die Single Everything Not Yet (Jahmoni) mit verschiedenen Mixen bestätigen diese Regel in Marcelles Regellosigkeit. Das freundliche Durcheinander ihres Produzentinnen-Alias trifft es auf den Punkt.

Video: DJ Marcelle / Another Nice Mess – „Everything Not Yet”

Sary Moussa alias RadioKVM lebt und produziert in Beirut. Die Komplexitäten des Lebens als elektronischer Musiker und Angehöriger der griechisch-orthodoxen Minderheit in der Vielkulturenstadt, in der die gegenseitige Toleranz der Religionen und Kulturen immer prekär waren und das Zusammenleben immer wieder bedroht, hat sich auf Imbalance (Other People, 6. März) in tief melancholische wie diskrete Stücke zwischen zartem Ambient und knurrender Electronica übersetzt. So manche Sounds der Natur und Kultur des Libanon sind hier unaufdringlich eingeflochten. Der Charme des Albums erwächst allerdings aus dem produktionstechnischen Understatement Moussas, aus einem introvertierten Charakter, der seine Werke mit freundlicher Zurückhaltung und menschlicher Wärme propagiert. Ein tolle neue Entdeckung auf Nicolas Jaars Label.

Nicht direkt von nebenan, aber ebenfalls aus dem nahöstlichen Kulturkreis stammt der Kairoer Produzent 3PHAZ. Sein Debütalbum Three Phase (100Copies Music, 27. März) kommt handfester daher als Moussas. Sein Unterfangen ist eine (De-)Konstruktion des traditionellen ägyptischen Shaabi als hypermoderne Beatarbeit. 3PHAZ macht mit Shaabi ungefähr das, was etwa Jlin mit Footwork und Juke gemacht hat, also die bekannten Beats und Patterns des jeweiligen Genres an die Extreme der Abstraktion zu führen. Wie Jlin agiert 3PHAZ beeindruckend kompromisslos, dabei aber immer noch nah genug an Post-Club, EDM und Trap-Mainstream.

Video: Sary Moussa – „In Praise of Shadows”

1
2
3
4
Vorheriger ArtikelNicolás Jaar: Neues Album „Cenizas” auf Other People
Nächster ArtikelDie Platten der Woche mit Elles, Nite Fleit und Stanislav Tolkachev