Ways Of Seeing, vor fünfundvierzig Jahren im BBC gestartet, war eine bahnbrechende TV-Serie, in der Kunsthistoriker John Berger den öffentlich-rechtlichen Bildungsauftrag seiner Kultursendung für die Zeit höchst originell und unterhaltsam polemisch zu einem Einsatz für die Demokratisierung der Kunstrezeption umdeutete. Ein Verständnis von Kunst, welches nicht zwischen elitärer Hochkultur und Popkultur unterscheiden will und bis heute für eine linke und emanzipatorische Auffassung von Kultur steht. Tom Scholefield aus Glasgow hat sein bislang eher schroffes und düster-psychedelisches IDM-Electronica-Projekt Konx-om-Pax in diesem Sinne runderneuert. Sein exzellentes drittes Album Ways Of Seeing (Planet Mu) schafft den Cleverness-Dünkel, die in IDM und Glitch verbliebenen Hierarchien zwischen „intelligenter” Beatschneiderei und vermeintlich „dummer” Popmusik weitgehend ab. Rave, EDM, Trap und Indie-Electro haben in seinen Tracks ebenso Platz wie ein abstrahiertes Hardcore Continuum in ehemals hyperkomplexen, nun aber begradigten Beats. Die Psychedelik seiner Tracks ist warm und weich, fast balearisch geworden, aber noch immer bewusstseinserweiternd. Ein gewisser Pop-Appeal, der den Achtzigern und Neunzigern des vergangenen Jahrhunderts entliehen ist, umschmeichelt ähnlich die supersympathische IDM-Electronica von Seth Haley alias Com Truise. Der knusprige, scharfkantige Retro-Futurismus, der den Sound seiner ersten drei LPs ausmachte, ist auf Persuasion System (Ghostly International) zu einer edelmatt glänzenden Flächigkeit herunterpoliert. Potentiell verletzende Schnittflächen sind abgeschliffen und von melancholischer Milde gepolstert, denen die wie immer bassig bouncenden Slow-Beats Schwung und Lebensfreude mitgeben. Haleys schlafwandelnd gemächlicher Melo-Funk ist detailreich und feinst ausgearbeitet. Die Balance zwischen starken und subtilen Signalen beherrscht er perfekt. Auch hier scheint die neu gefundene Weichheit und Wärme ein Schritt in die Gegenwart, gegen falsche Nostalgie zu sein.

Stream: Konx-Om-Pax – LA Melody

Der produktive, kalifornische Schnubbesträger M. Geddes Gengras bevorzugt in seinen Lo-Fi-Ambient-Veröffentlichungen die lange Form. Das C80-Tape I Am The Last Of That Green And Warm-Hued World (Hausu Mountain) ist da keine Ausnahme. Gengras’ Hardware-Improvisationen zeugen nicht nur von Durchhaltewillen und -vermögen, sie können zudem klanglich immens dicht und konzentriert werden, wenn er neben flächigen noch dubbig-perkussive Sounds in den Mix einfließen lässt. Das hat dann etwas von der experimentellen Psychedelik seiner kalifornischen Peers, etwa Sun Araw oder Pocahaunted, mit denen er bereits kollaborierte, kann aber ebenso einfach kontrolliert aus dem Ruder laufen, als hippiesk-freundlicher Freakout mit anschließendem Cool Down. Dazu passend noch die gute Nachricht, dass der mürbzarte Schleifenambient von Emily A. Sprague (siehe Motherboard März 2018 und November 2018) nun endlich eine würdige Tonträgerveröffentlichung bekommen hat. Die beiden Alben sind zusammengefasst und neu gemischt als Water Memory / Mount Vision (RVNGL Intl.) soeben neu erschienen.

Stream: M. Geddes Gengras – Passage Under the Mountain

Bevor Ambient elektronisch-digital wurde, war das Pedal Steel, dieses sperrige aber zielgenau nostalgische Wehmut erzeugende Instrument des traditionellen US-amerikanischen Country & Western eines der wichtigsten Werkzeuge des Genres. Kann es doch die gezupften Sounds der Steel Guitar, aus der es entstanden war, fast beliebig lang aufrechterhalten und in langgezogene, wabernd-ächzende Flächen umformen. M. Grig aus dem amerikanischen Provinzstädtchen Durham, North Carolina hat diese analoge Technik perfektioniert, mit anderen traditionellen Folk-Instrumenten wie der Dobro angereichert und mit moderner Digitaltechnik versöhnt. So klingt Mount Carmel (12K) durchaus nach der warmen Glitch-Ästhetik, die auf Taylor Deuprees 12K Label gepflegt wird. Paradoxerweise wirkt das in 2019 überhaupt nicht nostalgisch, sondern eher wie eine Modernisierung und Aktualisierung des wohlbekannten 12K Prozessor-Ambient. Wunderbar wehmütig ist es natürlich trotzdem. Der Upstate New Yorker Fusselbartträger Jacob Long produziert seit einer gefühlten Ewigkeit warme Electronica in der Tonlage von Dub-Techno. in welcher sanfte Beats und Bässe ganz weit hinten den Bauch massieren. Unter dem Alias Earthen Sea verwendet er die bis zum Überdruss bekannte Sprache des Genres, nimmt die seit mindestens fünfundzwanzig Jahren etablierten Chords und Effekte und taucht sie in das milde, milchige Licht eines spätherbstlichen Sonnenuntergangs. Dass Long es schafft, mit so wenig Zutaten und mit derart zum Klischee geronnenen Sounds noch interessant und eigen zu klingen, wie auf dem circa zehnten Earthen Sea Album Grass and Trees (Kranky, VÖ 7. Juni), ist mehr als beachtlich. Vielleicht liegt es an der ungemein angenehmen Mattigkeit, die diese Klänge ausstrahlen. Die Aufregung des Clubs ist hier so weit weg und doch sind Techno und Dub ganz nah.

Stream: Earthen Sea – Shallow, Shadowless

Der Berliner Marcus Block ist Ann Other oder kurz ANN. Sein Tonträger-Debüt Certain Colors (Seasides On Postcards) verknüpft zwei altbekannte Stile und spezifische Umgangsformen mit Sound, nämlich Dark Ambient und Glitch zu einem frisch klingenden Hybriden. Vermutlich ist es dieser unbeschwerte Umgang mit Soundquellen, der ANNs Ambient so modern und zeitgemäß wirken lässt. Ähnliches lässt sich aber genauso gut mit einer strengen kompositorisch-konzeptuellen Arbeitsweise erreichen: Die britische Komponistin Annie Mathani nimmt auf ihrem Debüt Racines (eimprentes DIGITALes) das „ernste” Genre der akademisch neutönenden Elektroakustik und übersetzt es in elektronische Klänge, die in ihrer nahbaren Ästhetik mitten im Ambient angekommen sind. Mahtani arbeitet mit Ideen der besonders der Sound Art geläufigen Praxis der Akusmatik, also mit „natürlichen” Klängen, die spezifisch für eine Wiedergabe auf mehrkanaligen Lautsprechersystemen manipuliert werden. Durch die elektrische Verstärkung und digitale Herausarbeitung von Klängen, die in den unbearbeiteten Feldaufnahmen, welche Mahtani als Klangquellen dienen, eventuell gar nicht hörbar wären, werden dokumentarische Aufnahmen zu immersiven Soundscapes, die auch ohne den akusmatischen Kontext perfekt als Ambient funktionieren.

Stream: ANN – Orange

An Stelle neutönender Elektroakustik können ebenso gut die dem Free Jazz entwachsenen Praktiken des freien Improvisierens zu Ambient werden. Der Franzose Sylvain Milliot alias Véhicule praktiziert das auf denkbar kleinteilige und detailversesessene Weise. Le Temps du Chien (Midira, VÖ 24. Juni) ist eine herrlich schräg quietschende Exkursion in den Freiraum des kosmischen Jazz, die in ihrer aufgeregt hibbeligen Art doch nie auf die Nerven geht, immer atmosphärisch bleibt. Der Brite Thomas William Hill praktiziert die ambiente Freiheit im Rahmen improvisierter Neoklassik. Sein nicht minder kleinteiliges, virtuoses wie nervenstarkes zweites Solalbum Grains Of Space (Village Green) erreicht diese Entspannung höherer Ordnung in Loops und Glitches von Samples, die Hill von seinem ganz klassisch akustisch eingespielten Instrument, der obertonreichen und warm klingenden Viola da Gamba aufgenommen hat. In der komplex collagierten Anordnung wird daraus etwas Fremdes, das die übliche Neoklassik transzendiert. Der israelische Bassist Boaz Bentur, der sich den nicht allzu originellen Namen MONSTA gegeben hat und ansonsten bei den Psychedelic Rockern Tiny Fingers spielt, kultiviert solo ein ultimativ zielloses Mäandern und Schlingern aus nicht mehr als den spartanischen Sounds einer Bassgitarre mit Loop- und Echo-Pedal, die auf seinem ebenfalls nicht allzu originell III (Opa Loka) betitelten dritten Soloalbum in zwei ausufernden Tracks zu kaltwarmem Improv-Ambient werden. Er gibt sich Zeit, verdichtet perkussiv, spannt an, entspannt, spannt an, entspannt wieder zu einer Meditationstechnik, die erst noch erfunden werden möchte.

Stream: Willian Thomas Hill – Furnace

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