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Sollte es so etwas wie die Quersumme aller hier verhandelten Styles geben, dann dürfte der sonische Fußabdruck des London-Berliner Duos Paco Sala dem wohl am nächsten kommen: Song und Track, Pop aber experimentell, digitale Elektronik und Vintage-Analogsynthesizer im Indie-Bandformat, Gesang, der wie ein Instrument funktioniert, Beats und psychedelisches Wabern in doch klar nachvollziehbar konstruierten, “geschriebenen” Stücken. Paco Salas circa sechstes Album Our Love Is The Gold (Denovali) neigt sich innerhalb dieser Koordinaten bisher am stärksten gen Popsong, verstanden allerdings als flüchtige, shoegaze-verwaschene Klangwolke, die genauso gut zu purem Ambient hätte werden können. Nicht die große Erzählung sondern Fluß, Strom, elektrisches Feld. Die Wegkreuzung, an der sich Gudrun Gut und Celer, Eliane Radigue und Lafwandah treffen könnten und darin schon eine Art Essenz des Motherboard.

Stream: Paco Sala – Montezuma

So eine Essenz lässt sich natürlich genauso gut auf spielerisch ausprobierende Weise aus deutlich seltsameren Ingredienzien zusammenkochen. Um die Metapher noch ein bisschen weiter zu strapazieren, als innovative Post-Anything Experimentalküche statt klassischer Indie-Hochküche. Simulation, das Duo der Chicagoer Tape-Elektronik Produzentinnen Laura Callier (Gel Set) und Whitney Johnson (Matchess) ist da ein gutes Beispiel. Ihr trippig buntes Psycho-Tape Death’s Head Speak (Hausu Mountain) nimmt sich praktisch alles, was elektronisch möglich ist, Neo-Hardcore/Gabber, inniges Modularsynthesizer-Gefiepe, Post-Wave, Shoegaze-Electro, schnurgerade Techno-Beats und dreimal um die Ecke gedachte IDM, sanft gehauchten oder krass verzerrten Gesangsprech und macht daraus etwas, das in all seiner glorreichen Weirdness tatsächlich noch irgendwie als Dream-Pop durchgeht.

Stream: Simulation – How the Universe is with You

Die  digital-kreolische Musik des französischen Überseedepartments Île de la Réunion ist ebenfalls ein Knotenpunkt, in dem so einiges zusammenkommt, was diese Kolumne hochhält. Die lokalen Tanzmusik-Stile Sega und Electric Maloya, die upbeat und perkussiv, von ostafrikanischem Mainstream wie von westindischer Klassik beeinflusst sind, spielen dabei immer noch eine zentrale Rolle, allerdings digital globalisiert, von Subsahara-Hip-Hop ebenso informiert wie vom Gqom und Acid House. Die wunderbar ausschweifende Kompilation Digital Kabar (Infiné) verschafft sich einen Überblick über die alten und neuen elektronischen Clubmusiken Réunions, von der die Produzenten Labelle und Jako Maron (siehe Motherboard April 2019) nur die etabliertesten und international bekanntesten sind. Der zentrale Begriff für alle Réunioner Kultur ist Kreolisierung, ein komplexer dynamischer Prozess, der sowohl die Verschmelzung von Sprachen, Kulturen und Styles bedeutet, wie deren Kollision als im Wortsinn „kreativer“ Konflikt. DJ Marcelle ist ein kreolisierter Clash der Kulturen in einer Person. Die charmante holländische Dame unbestimmten Alters und unfassbar großer und diverser Plattensammlung kennt in ihrer Radiosendung Another Nice Mess jedenfalls keine Grenzen, Genres oder Geschmackeinschränkungen. Einzig gemeinsames Merkmal ihrer Produktionen ist ihre Experimentierfreude, die aus jedem ihrer Tracks ein Überraschungsei macht – und vielleicht Dub, weniger als Stil denn als Arbeitsweise. Marcelles zehntes Album One Place For the First Time (Jahmoni Music) ist schwerstens von ihrem Auftritt auf dem Nyege-Nyege Festival in Uganda im vergangenen Jahr beeinflusst (siehe ebenfalls Motherboard April 2019). Vielleicht sind ihre Stücke durch diese Erfahrung und den unmittelbaren Kontakt mit afrikanischen und Réunioner Outsider-Clubstyles dieses mal so besonders tanzbar und energetisch geworden – trotz ihrer unverändert hohen, geradezu wundertütigen Ideendichte.

Stream: Patrick Manent – Kabaré Atèr (Jako Maron Remix) – Digital Kabar

Die dänische Sängerin, Produzentin, Schauspielerin und Feministin Soho Rezanejad fungiert für die skandinavische Avant-Elektronik Szene zwischen Kopenhagen Stockholm und Oslo als Kulminations- und Verzweigungspunkt ganz eigener Ordnung. Sie singt bei den gerade massiv durchstartenden Synthpoppern Lust for Youth, produziert Solo und in vielen Kollaborationen von futuristischem Post-Club-Artpop bis zu semi-elektronisch reduzierten Folksongs zeit- und weltenthobene intersektionale Musik, die sich, obwohl immer knapp innerhalb der Konventionen von Pop und Avantgarde, doch jeglicher Kategorisierung zu entwinden sucht. Das Soundtrackalbum Torino (Silicone Records) ist eine weitere verwindende Seitwärtsbewegung Rezanejads. Definitiv Ambient und Kunsthochschulpop, Neoklassik und Elektronik und nichts davon – außer grandios und fremd schön.

Video: Soho Rezanejad – Call for Torino

David Chalmin aus der französischen Provinzstadt Nantes war bislang vor allem als Produzent und Toningenieur für Indie-Größen wie Matt Elliott, Efterklang oder The National aktiv, einmal sogar für Madonna. Als Musiker und Komponist durchpflügt er eher die bekannten Felder von moderner Klassik, etwa auf einem feinen Coveralbum von Werken des Viking of Sixth Avenue, Moondog, oder der Interpretation elektronischer Hits von Radiohead und Aphex Twin als akustische Minimal Music und umgekehrt der Minimal Music Hits von Philip Glass, Michael Nyman und Terry Riley. Sein erstes Soloalbum La Terre Invisible (Ici d‘ailleurs) bewegt sich nochmal in eine deutlich andere Richtung, von filmischer Post-Club-Electronica a la CUTS zu melancholisch-bassigem Stadion-Techno im Sinne von Apparat. All das eingebettet in beschaulichen Piano-Impressionismus. Also eine ziemlich krude Mischung von Styles, die doch zielgenau auf den Punkt kommt. Könnte, ja müsste sogar ein Hit werden.

French House-Veteran Cosmo Vitelli hat in den vergangenen Jahren dem hitmassiven Electro-Funk abgeschworen und war als Pariser Teilzeitberliner vor allem in „The Cemetery Of Unsigned House Tracks” unterwegs, wie einer seiner gerne sarkastischen Tracktitel so schön bezeugt. Für die zweiteilig angelegte EP-Serie Holiday in Panikstrasse – sein Debüt auf dem großartigen Tel Aviver Label Malka Tuti, zur Zeit eine der besten Adressen für freigeistige House Music und tanzbare Weirdness – hat er noch eine gehörige Schippe Seltsamkeit auf seine sowieso schon immer aus der Tanzkiste herausgedachten Tracks draufgelegt. Mit Julienne Dessagne (Fantastic Twins, Saschienne) wird daraus ein paradiesischer Spoken-Word Ambient Tune, mit Sebastian Lee Philipp (Die wilde Jagd) ein absurd polternder Neo-NDW Track, von einem Abstraktionsgrad, der zur Zeit eigentlich nur in Produktionen aus Düsseldorf zu finden ist. FKCLUB, inzwischen das Soloprojekt des Franzosen Marc Lapeyre, hämmert auf seinem zeitgeistig betitelten ersten Album Brutalism (Astro Lab) ebenfalls in die Kerbe der Post-Wave-Off-Disco, wobei Lapeyre schon etwas straighter agiert und seine kurzen, endlos wiederholt-variierten Textphrasen mit der Emphase von Fad Gadget oder Indie Dance-Acts wie Factory Floor und The Rapture ins Mikrophon rotzt. Am interessantesten sind daher weniger die soliden Clubrocker denn die „Brutalism”-Interludes, die nicht funktional, kein Minimal Wave-Song, kein Electro-Punk sein müssen, sondern den Synthesizer einfach mal frei vor sich hin zwitschern lassen.

Stream: FKCLUB – Brutalism

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