Foto: Marie Staggat.

Keine Berliner DJ konnte das ungestüme Technogefühl der Stadt so wie Ellen Allien in eine globale DJ-Karriere ummünzen.  In unserem Gespräch zum Release ihres neuen Albums erklärt Allien, warum sie sich heute zum ersten Mal seit Jahren wieder im Berliner Nachtleben wohlfühlt, was sie von der jungen Technogeneration denkt, wie sie die Dämonen ihrer Jugend besiegt hat und wie sie sich bis heute ihre einmalige Vitalität erhalten hat.  

Der Frühling will nicht kommen, der graue Berliner Himmel zeigt sich mal wieder besonders undurchdringlich. Plötzlich steht Ellen Allien vor mir: “Zehn Minuten zu spät!”. So wie sie das ausspricht, ist das schon eine Entschuldigung. Sie trägt eine weite, lilafarbene Hose mit einem Muster mit dem Schriftzug Dance, einen schwarzen Kapuzenpulli von Acne, eine dicke Daunenjacke, die über der Hüfte aufhört und dickbesohlte Ledersneaker von Buffalo: “Immer die Originale kaufen: Wenn die von Balenciaga wären, würden die statt 90 Euro 600 kosten.”

Einen Moment später stürzt sie schon in das Soho House und auf die Treppe in den Keller hinunter. Wo will sie hin? Auf’s Klo? Ich halte inne, sie merkt das sofort und dreht sich um: “Komm!” Alliens Lieblingsplätzchen im Soho House ist nämlich eine riesige Couch im Gang zwischen Kino und Lagerräumen, an dem man von dem aufmerksamkeitssüchtigen Trubel dieses Ortes komplett verschont bleibt.

Allien macht es sich gemütlich, zieht ballettös ihre Knie an sich. Gerade ist sie einmal um die Erde geflogen, hat in Mexiko und in Japan aufgelegt. Es ist schlimm mit diesen Jetlags, sagt sie: Kiffen könnte helfen, aber sie mag nicht rauchen. Eine Lösung könnte Hasch-Öl sein: Dann entspannt sich alles. Melatonin oder Schlafmittel wie viele Kolleg*innen will sie nicht nehmen. “Es ist schon lustig, zu was der Körper fähig ist. Mein Körper ist ja jetzt total übermüdet. Aber trotzdem läuft alles weiter, weil das Gehirn ihm sagt, dass er weitermachen soll. Deshalb muss das richtig sein. Das ist genauso, wie wenn du jetzt Yoga oder Sport machst, und der Körper sagt: Stopp. Aber er macht weiter, wenn das das Gehirn sagt. Du kannst mit deinem Kopf ganz stark deinen Körper trainieren. Das ist irre. Ob das deine Muskeln sind, ob das dein Geist ist, egal was.”, lacht sie.  

Das klingt, als seist du ein willensstarker Mensch.

Ellen Allien: Nicht in allen Sachen. (lacht) Aber in existenziellen Dingen.

Warum hattest du die Kraft, bis heute weiterzumachen? Die meisten Deiner Berliner Weggefährten aus den Neunzigern haben längst aufgehört. Woher nimmst du die Energie?

Ich habe einen roten Faden in meinem Leben, der sich langsam entwickelt hat. Ich bin jemand, der sich schlecht von Dingen trennen kann, das dauert unglaublich lange bei mir. Ich mache weiter. Ich mache nicht an einem Tag irgendetwas und am nächsten etwas anderes. In meinem Leben läuft es weiter, ruhig, gelassen und konzentriert. Das ist mein Charakter. Deswegen ist das so, auch wegen dem Sternzeichen.

Ellen Allien am Alexanderplatz. Foto: Marie Staggat.
Ellen Allien am Alexanderplatz. Foto: Marie Staggat.

Was hast du für ein Sternzeichen?

Jungfrau, Doppeljungfrau, Krebs und Mond. Da gibt es so eine Sensibilität und eine Konzentration, nicht maßlos zu sein. Und auch Leidenschaft. Das ist ein Ventil, das ich gefunden habe. Auch wenn ich nicht so beliebt wäre, würde ich weitermachen.

Wo hast du Techno zum ersten Mal in deinem Leben intensiv gespürt und begriffen, dass diese Musik etwas Tiefgreifendes in dir auslöst?

Das war erstmal Musik überhaupt. Bevor es Techno in meinem Leben gab, habe ich andere Musik gemacht, Instrumente gelernt oder angefangen zu lernen und keine Ausbildung zu Ende gemacht.

Was für eine Ausbildung hast du angefangen?

Eine Akrobatikausbildung an der Etage [Schule für darstellende Künste, Anm. d. Red.]. Ich habe in einem besetzten Haus gelebt. Da hatten wir auch Übungsräume, da war ein freies künstlerisches Schaffen möglich. Ich brauchte dort keine Angst haben und habe von 17 bis 19 dort erstmal so gelebt. Das waren wichtige Jahre, die Abnabelung von der Familie. Aber das ist halt auch schwierig so zu leben, wenn du nicht weißt, wo es hingeht. Damals war das nicht klar, DJ sein war ein Loserjob. Die Mauer war gerade gefallen, alles sehr sehr low budget, sehr down.

„Sexualität findet im Club konkret statt und nicht auf einer Pornoseite oder auf einer Database“

Was für Musik gab es in deinem Elternhaus?

Nina Hagen, die ganzen Achtziger, dann gab es diese Sendung Disco, dann gab es die Neue Deutsche Welle, später. Kraftwerk. Damit bin ich aufgewachsen. Eigentlich ist das ja so: Wenn man so anders im Kopf ist, also ein Mensch, der sich immer wieder selbst erfinden muss, dann musst du erstmal eine Gruppe und einen Ansatz finden. Das hatte ich in dem besetzten Haus. Andere finden das, wenn sie studieren oder in andere Länder ziehen.

Wie bist du dann auf Techno gestoßen?

Das war dann auch Zufall. Das war die Musik der Zeit, und ich lebte gerade in Schöneberg, da gab es das Fischlabor. Da habe ich dann gejobbt, um meine Akrobatikausbildung zu finanzieren, da habe ich die ganzen Leute kennengelernt, die später die Clubs Ufo, Fischlabor und Tresor machten. Da war ich – wie es dann so ist – am richtigen Ort, zur richtigen Zeit und wusste gar nicht, was passiert. Und dann passierte das einfach so (lacht). Da habe ich meine Gruppen gefunden, das war ein Ventil für die Passion, die ich sowieso in mir trage. Aber es hätte auch Bilder malen oder Bücher schreiben sein können.

Wenn die Musik nicht allein der Antrieb war, was für eine Erfahrung hast du da gesucht?

Irgendwas zu finden, mit dem ich mich rausswitchen kann aus der Gesellschaft und aus dem Scheiß, der ständig passiert und irgendwo zu sein, wo alle glücklich sind. Neben der Musik gibt es Sexualität und Drogen, daraus entsteht eine Welt außerhalb von den normalen Werten.

Was für eine Bedeutung hat die Sexualität für dich im Club?

Die finde ich wichtig. Sexualität findet im Club konkret statt und nicht auf einer Pornoseite oder auf einer Database, wo ich mir erstmal Bilder aussuche und den dann treffen muss. Sondern ich stehe im Club und suche mir die Leute aus, das ist direkt. Das ist ein Teil meiner Welt. Im Ganzen geht es um mehr als um Entertainment, das ist ein Zusammenspiel von Energien. Es geht um Werte, die außerhalb des Systems liegen, auch wenn sie im System stattfinden.

Ellen Allien. Foto: TK Photography.
Foto: TK Photography.

Wo findet dieser Bruch mit der Normalität noch statt? Techno schockiert heute kaum noch jemand.

Ich finde das spannend, das zu erleben. Ich habe gerade im Technique Plattenladen in Tokyo mit zwei DJs von dort gespielt. Die Japaner sind ja im normalen Leben meistens ruhig, beherrscht und fast schon unterwürfig. Dann hören die die Musik und trinken ihr Bier, und auf einmal sind die ganz ausgelassen, hüpfen rum und schreien. Durch die Musik gehen die Leute dann einfach mal aus sich raus. Das finde ich mega, das freut mich immer wieder. Den Körper spüren und durchdrehen und nicht wissen, was passiert. Manche tanzen dann auch stundenlang für sich allein und starren auf den Boden. Ich weiß nicht, was die dann denken, da hat dann jeder so seine Welt. Ich beobachte das auch immer im Berghain. Jemand hat mir erzählt, dass manche dort weinen. Da kommen dann irgendwelche psychologischen Sachen raus, das ist dann wie Therapie.

Was löst das Raven in dir aus?

Für mich ist es sehr körperlich und sehr gemeinschaftlich, wie ein Stamm. Die Müdigkeit in Verbindung mit der Musik ist wie ein Tanz auf dem Vulkan, das hat etwas Brüllendes. Durch diesen monotonen Beat wirst du, das hat man schon tausendmal gehört, von so einem Sog gepackt. Das funktioniert und ist anscheinend auch etwas ganz Altes: Dass die Menschen geklatscht haben oder auf den Boden gestampft. Das Herz hat auch einen Rhythmus, das gehört ja alles zusammen. Das Wetter auch.

Wann hast du gespürt, dass du keinen Bock auf ein normales Leben hast?

Ich bin in Westberlin mit der Mauer aufgewachsen. Als Kind hat mich die Mauer sehr eingeengt. Man ist immer auf die Mauer gestoßen, Berlin war ganz klein dadurch. Wir hatten Familie in Ostberlin, da musste man immer durch die Kontrollen, das war sehr militärisch, die DDR-Armee machte ständig Übungen, es wurde geschossen. Damit bin ich aufgewachsen, auch mit der RAF.

Was war deine Haltung dazu?

Mich haben Autos genervt, mich hat dieser Gestank in der Stadt genervt, mich hat das Schulsystem genervt, mich hat genervt, was ich lernen musste. Das Geilste in der Schule war für mich Philosophie, da gab es mal einen Lehrer, der sich für uns interessiert hat, der die Sachen mal anders erzählt hat. Ich hab gemerkt, dass hier was nicht stimmt mit dem, was mir beigebracht wird. Das ist nicht, wie ich leben will. Ich kenne auch viele Leute, die das Glück hatten, sich anpassen zu können.

Digitale Musik als Befreiung

Wie fühlst du dich heute damit, dass es dir gelungen ist, dich so zu befreien?

Ich weiß ja auch, dass ich eigentlich nicht befreit bin. Ich hab mich angepasst. Es gibt ja auch im Techno bestimmte Strukturen, die sehr spießig sind. Techno kann sehr konservativ sein. Es kommt darauf an, wie man das auflegt. Auch die Crowd kann sehr konservativ sein, wenn sie allein eine bestimmte Sache hören will. Und wenn du nicht so spielst, dann spielst du in dem Club nicht.

Ist das in den letzten Jahren schlimmer geworden?

Ja. Aber nicht in allen Clubs. Umso größer die Clubs sind, desto schlimmer ist es. Die Residents sind dann meistens sehr spießig. Und die, die nicht spießig sind, kriegen Probleme. Andererseits gibt es auch viele Clubs, die immer was Neues suchen, wo immer Bewegung drin ist. Es kommt immer auf den Veranstalter und das Umfeld an. Dann gibt es welche, die auf den Hype aufspringen und ganz viel Geld verdienen. Dann funktioniert dieser Sound nicht mehr, und dann wissen sie nicht, was sie machen sollen. Aber es gibt heute so viele Veranstalter, dass die Situation im Ganzen auch wieder ganz ok ist. Und es gibt Social Media. Da kannst du dich selbst definieren und promoten.

Wie erlebst du Social Media? Du hast dir deinen Namen in einer Zeit gemacht, als es das nicht gab.

Ich finde das gut. So weiß ich, wer sich für mich interessiert. Es gibt auch Länder, wo mich immer Fans fragen, wann ich endlich komme, aber es bucht mich nie jemand von dort. Die Leute können sich aussuchen, wem sie folgen. Das ist viel besser als früher mit den ganzen Medien, wo du Anzeigen schalten oder irgendetwas anderes machen musstest, damit du ein Interview kriegst. Das ist eine Befreiung. Digitale Musik war für mich auch die absolute Befreiung, zumindest erstmal. Ich habe dann nur noch Wavs gespielt. Das war so geil, nicht mehr in den Plattenladen zu müssen und im Bett zu sitzen. Und ich habe alles gekriegt, was ich haben wollte. Wenn ich in den Plattenladen ging, waren die Sachen immer nicht da, und ich musste erstmal suchen. Dennoch liebe ich Platten und gehe regelmäßig in Plattenläden. Ich war gerade in mehreren auf der ganzen Welt und suche gerade so einen bestimmten Sound, den ich auflegen will. Und die Plattenläden haben den nicht. Die haben nicht kapiert, was für ein Trend das ist. Dann frage ich immer, damit die mitkriegen, dass ich das haben will. Und ein paar Wochen später ist es immer noch nicht da.

Wie würdest du diesen Sound beschreiben?

Das sage ich nicht, du musst schon in den Club kommen. (Sie lacht.) Es gibt aber gerade ganz viele, die diese Musik hören wollen.

Wie hoch ist der Vinylanteil in deinen Sets heute?

Ich habe Angst, Platten zu spielen. Ich nehme sie immer mit, aber ich traue mich nicht, sie zu spielen, weil schon oft etwas schief gegangen ist. Wenn ich sie aber nicht mitnehme, dann fühle ich mich nicht wie ein richtiger DJ. Wenn ich sie spiele, ist es auch ganz toll. Aber dass es dann auch gut klingt, dass nichts springt, das passiert selten. Und du kannst es dir heute nicht mehr erlauben, dass etwas springt. Die Leute wissen nicht, was da passiert. Die denken, du machst da irgendeinen Bullshit. Wie oft ich gehört habe, dass ich nicht mixen kann!

Für dein neues Album hast du ein neues Label gegründet, es ist dein erstes reines Technoalbum. Warum hast Du damit so lange gewartet?

Ne. Thrills war Techno. Und Nost war auch Techno.

UFO Inc. & Allientronic

Dennoch: Allientronic ist drastischer und euphorischer als Nost. Wie kein anderes Album bisher spiegelt es deinen Auflegestil wider.

Das ist mir nicht aufgefallen. Bei dem Album kam noch eine andere Sache dazu: Ich wollte schon immer ein neues Label machen. Ich habe das mit dem Team besprochen, die haben gesagt: Bpitch ist zu wichtig, das geht nicht. Ich bin mit Serge von Clone befreundet, einer meiner Lieblings-DJs, ein großer Mann, ich bin fasziniert von dem, was er da macht. Ich habe dann den UFO-Track gemacht. Der ist schon älter, er lag rum. Ich habe ihn auf Instagram gepostet, und Serge hat das gesehen und mir geschrieben: “Ellen! Warum machst du nicht ein neues Label mit Clone als Vertrieb, UFO?” Da meinte ich: “Ey Serge, machen wa. Cool, dass du mich pushst.” Dann hat er gesagt: “Ich hab dich nicht gepusht, ich hab es nur gesagt.” “Eben, deshalb hast du mich ja gepusht.” (lacht) Ich will das schon seit Jahren machen, hab mich aber nie getraut. Ich habe jemanden gebraucht, der mich so auffängt.

Warum “UFO”?

Der Track war so episch, so UFO. Der hat so eine Connection zu der Erde und zu den Planeten. Dass das groß wird. Ich habe auch eine Verbindung zu den Planeten. Oder zumindest bilde ich mir das ein.

Was für eine Verbindung ist das?

Das weiß ich nicht. Ich weiß, dass es da Leben gibt. Das hat mich jahrelang verrückt gemacht, dass ich nicht weiß, was da ist. Jetzt habe ich mich damit abgefunden, dass da etwas ist. (lacht) Das ist leichter, wenn man älter wird und geerdeter ist. Die Geschwindigkeit lässt nach, obwohl ich immer noch sehr schnell bin. Der Kopf wird durch Erfahrungen reifer, und man wird weniger paranoid. Früher hatte ich immer so eine tierische Paranoia: Was ist da draußen los?

Ob es da Leben gibt oder nicht? Außerirdische, UFOs?  

Nicht wegen den Außerirdischen, sondern wegen dieser Weite. Wenn ich darüber nachgedacht habe, war das wie so eine Verätzung im Gehirn, wie eine Explosion. Weil ich es nicht begreifen konnte, dass es unendlich ist. Zum Beispiel habe ich immer meine Tage, wenn Vollmond ist. Wenn bestimmte Dinge mit bestimmten Planeten passieren, spüre ich die auch. Ich habe versucht, dazu eine Verbindung aufzubauen. Ich habe auch mal Qi Gong gemacht. Da drehst du dich und der Lehrer sagt: Verbinde dich mit der Erde. Da spürst du dann auch, dass die Erde rund ist. Da habe ich gelernt, mich mit dem Kosmos zu verbinden, und dann war es einfacher, die Weite auszuhalten.

Was war dann anders?

Du musst es leben, es wahrnehmen, gucken, dass du den Mond, das Meer, die Natur anders wahrnimmst. Als Stadtkind kriegst du das nicht so mit. Du hast eine Verbindung zu Sachen, aber du hast nie gelernt, dass es die gibt. So habe ich versucht, diese Verbindung aufzunehmen, und seitdem geht es mir besser. (lacht)

Und daher auch UFO?  

Ne. (lacht) UFO wegen der Musik, weil es so ein epischer Track ist, der ab in den Himmel geht. Durch die Melodiefolge. Es gibt da bestimmte Töne, die bestimmte Sachen mit dir machen (lacht).  

Wie hat sich an UFO das Album angeschlossen?

Das hab ich mit Tim Xavier und Pablo M. Sanchez  gemacht. Und zwei Stücke mit Hannes Bieber, “Electronic Joy” und “Love Distortion”. An “Love Distortion” haben wir ewig gearbeitet, Jahre. Das Stück ist entstanden, nachdem mein damaliger Freund und ich uns nach einer siebeneinhalb Jahre langen Beziehung getrennt haben. Das ist schade, aber auch ganz gut. Das war eine sehr lange Trennung, zwei Jahre bestimmt. Ich trenne mich halt nicht schnell von jemandem. Um aber länger zusammen zu sein, passen wir nicht gut genug zusammen. Wahrscheinlich hatten wir mit unserem Lebenswandel nicht die Zeit, uns noch tiefer kennenzulernen. Oder wir hatten nicht das Interesse daran, uns näher zu kennenzulernen.

Wie kann man lieben und eine Beziehung führen, wenn man so viel arbeitet und reist wie du?

Wir sind in derselben Branche tätig, er arbeitet auch im Nachtleben. Wir hatten viele Verbindungen, waren zusammen unterwegs und haben uns sehr unterstützt. Aus dem Ende dieser Zeit ist “Love Distortion” entstanden. Mit Tim habe ich weitere Tracks gemacht und bin in Urlaub gefahren. Dann dachte ich: Oh Gott, die sind überhaupt nicht fertig. Ich bin zu Pablo gegangen und wollte die eigentlich mixen, und hörte, dass noch ganz viel neu gemacht werden muss. Ein paar Stücke sind auch so geblieben, aber ein paar Tracks wurden ganz neu ausgebaut. Ich wollte auch, dass es anders klingt, wärmer.

„Ich hab lange Zeit in Berlin nicht den richtigen Club gehabt, wo ich mich frei gefühlt hab, wo ich auch die Crowd geil finde.“

Alientronic fühlt sich energetischer und unmittelbarer an als der Vorgänger. Aus was für einer Stimmung heraus ist das Album entstanden?

Ich habe mein System geändert, ich habe eine andere Bookingagentur. Ich habe einige gute Leute um mich herum. Die helfen mir. Mit denen kann ich mich unterhalten über die ganzen Sachen. Ob das Produzenten sind, ob das meine Bookingagentur ist oder mein Manager und Berater. Eine Zeit lang war ich ziemlich verloren. Ich wusste nicht mehr, was los ist. Ich habe zu viel gearbeitet, und ich habe zu viele unterschiedliche Sachen gemacht. Aber ich weiß gar nicht, ob das mit dem Album zu tun hat. In das Album hat hineingewirkt, dass ich mich sehr auf das Auflegen konzentriere und darin sehr gesettelt bin. Und auch, dass ich einen Club gefunden hab, der total zu mir passt: die Griessmuehle. Da kann ich mich als DJ richtig ausleben. Da bin ich nicht durch die Location oder durch einen Chef eingeengt, der mir nicht guten Tag sagt. Dieser Ort ist genau, wie ich auflege.

Du willst, dass der Chef dir “Guten Tag” sagt?

Ja, das mag ich. In der Griessmuehle kommt der Chef zu mir und drückt mich, das freut mich. Da ist so eine Energie in dem Club, so wie ich selbst auch bin, so eine positive Jugendlichkeit. Ich bin erwachsen, ich bin eine sehr reife Frau, aber ich habe eine krasse Jugendlichkeit in mir. Ich bin ein Kind. Dieser Ort ist auch so, und das ist so geil. Das ist auch Teil davon, wie ich da spiele, wie wir da Partys machen. Die Floors sind nicht so riesig, da können wir auch die jungen Leute buchen, die wir geil finden. Da ist nicht so viel Druck, der Laden läuft eh, unsere Partys sind megavoll. Ich hab lange Zeit in Berlin nicht den richtigen Club gehabt, wo ich mich frei gefühlt hab, wo ich auch die Crowd geil finde. Wo die Jungs, die das machen, auch so höflich sind, so wie ich. Ich bin ein sehr höflicher Mensch und werde auch gerne so behandelt. Ich will nicht strange Menschen um mich rum haben, wo ich denke: Was ist mit dem jetzt los? Das macht Angst. Ich habe vor vielen Leuten Angst.

Ellen Allien. Foto: Marie Staggat.
Foto: Marie Staggat.

Freaks und Mafiosi

Das überrascht, du wirkst selbstbewusst, unabhängig und hast eine klare Vorstellung von dem, was du willst.

Bestimmte Leute können dich in bestimmte Vibes reinziehen, da muss man aufpassen. Das habe ich aber gelernt. Ich kann mit vielen Sachen umgehen, aber ich bin sehr sensibel. Deshalb kann ich vielleicht auch ganz gute DJ-Sets machen. Ich glaube, weniger sensible Menschen können nicht so gut auflegen. Es gibt auch Techniker, Handwerker – diese konservativen Techno-DJs.

Du bist eher unberechenbar, man weiß nicht, was von dir kommt.

(Lacht). Genau.

Ist das ein Gefühl, das du in den Tänzer*innen auslösen willst?

Nein, das hat was mit meiner persönlichen Situation zu tun: Geht‘s mir gut, geht‘s mir schlecht? Bin ich verliebt, bin ich nicht verliebt? Das suche ich mir nicht aus. Und es hängt auch damit zusammen, was für Musik erscheint. Es gibt manchmal Vibes, da kommt ein besserer Freak raus als bei anderen Platten. Wenn ich House auflege, nenne ich das Freakhouse. Momentan finde ich Rave Techno geiler, weil es da viel nerdige Sachen gibt, die interessanter zu spielen sind. Die sind besser produziert, bringen mehr Fun und haben mehr Aussage. Im House-Bereich passiert gerade gar nichts, höchstens wenn man alte Disco-Sachen neu entdeckt. Black Madonna macht das gerade toll, ich habe sie in Tulum erlebt.  

„Vielleicht konservieren die Drogen auch.“

Wie nimmst du die junge Technogeneration wahr, die die Musik in den letzten Jahren für sich entdeckt und definiert hat?

Da gibt es ein paar ganz tolle Leute, das sind große Talente. Ich finde erstmal alle Leute, die anfangen, aufzulegen und das machen, worauf sie Bock haben, super. Das freut mich, dass sie etwas ausprobieren und den Mut haben, sich da hinzustellen. Dazu gehört Mut. Für mich ist das ok, solange das jetzt nicht ein DJ ist, der so einen Businessplan hat. Wenn jemand so einen krassen Businessplan hat, finde ich das ätzend. Dann hat das nichts mit Musik zu tun, sondern mit Geschäft, und das gefällt mir nicht. Das sehe ich bei manchen DJs, dass das Business überhand nimmt, dann nehme ich die nicht mehr ernst. Das sind Puppets. Von der Seite der Frauenbewegung her finde ich aber richtig, dass jetzt auch mal Frauen eincashen. Männer haben das schließlich immer gemacht.

Wenn du an Deine Geschichte denkst: Welcher Aspekt ist den Nachgeborenen am schwersten vermittelbar?

Ich bin einen langen Weg gegangen, und das war kein einfacher. Diese ganzen Dinge zu erleben und im Nachtleben mit diesen ganzen Charakteren, Freaks und Mafiosi zurechtzukommen. Da muss man viel Leidenschaft und Fleiß haben, auch Talent. Da bleiben viele Leute auf der Strecke, das sind richtig große Leidensgeschichten. Leute, die den Traum haben, DJ zu werden, die da richtig kaputt gehen. Das ist schon hart.

Nicht mehr dieser Schnöselhouse

Was ist dein Jungbrunnen, wie bewahrst du deine Vitalität?

Ich habe kein Problem damit, älter zu werden, und ich habe kein Problem mit meinem Job. Ich bin ein sehr positiver Mensch. Es kann auch sein, dass ich mich Morgen entscheide, aufzuhören. Ich werde Morgen früh wach (Sie schnippt mit dem Finger): Jetzt habe ich Bock, etwas anderes zu machen. Das kann sein. Das hat etwas mit meiner Einstellung zu den Dingen zu tun. Auch damit, dass ich in dem ganzen Wahnsinn versuche, doch ein gesundes Leben zu führen. Vielleicht konservieren die Drogen auch. Ich habe in meinem Leben einiges an Drogen genommen, ich habe viel getrunken und wie heute wenig geschlafen. (lacht)

Was andere zerstört, scheint dir gut zu tun. Warum?

Ich weiß es nicht, ich kann dir das nicht sagen. Vielleicht ist es der Spaß an der Sache. Wenn ich auflege, gibt es eine Adrenalinauschüttung. Ich spring ja rum, das ist alles sehr körperlich, vielleicht ist es das, dieser ständige Rave, an jedem Wochenende. Vielleicht ist das sehr gesund (lacht).

Foto: Jordi Perez.

Hast du nie genug?

Ich bin müde, aber ich jammere nicht. Das ist der Trick.

Bist du nie genervt von den unersättlichen Raver*innen?

Nö.

Von der Musik auch nicht?

Die spiele ich. Von der Musik, die andere spielen, schon. Sagen wir mal so: Jeder Ton hat eine Berechtigung. Wenn mich Musik nervt, dann sage ich nichts, sondern verlasse höflich den Raum. Darüber rede ich nicht. Ich wende mich nicht den Sachen zu, die mich nicht interessieren.

War das immer schon so, oder musstest Du das erst lernen?

Das musste ich natürlich lernen. Als ich jünger war, habe ich natürlich Hassallüren gehabt. Auf Westbam, auf Mayday, auf die ganzen Säcke. Damals war das riesig, die haben den ganzen Technozirkus kaputt gemacht. Unsere ganze Welt ist so geschrumpft, nachdem sie alles ausverkauft haben. Das musste man alles Schritt für Schritt neu aufbauen. Heute beschäftige ich mich nicht mehr mit Dingen, die mich nicht interessieren, das geht da rein und dort wieder raus. Da habe ich gar keine Zeit für. Ich gehe da hin, wo es mich interessiert und höre gerne zu. Auch wenn mir die Musik nicht gefällt, will ich wissen: Was machen die da überhaupt? Wie mixen die?

Wer hat dich beeindruckt in letzter Zeit?

Rebekah finde ich total unterschätzt, sie ist eine ganz tolle Künstlerin. Anetha. Fjaak, als sie noch zu dritt waren, die fand ich großartig. Kobosil: Diese Jugendlichkeit, diese Energie, ich mag auch dieses Atzige, was er so in sich hat mit seinen Kumpels. Das ist total echt, das ist Streetlife, das ist durch und durch Berlin. Das ist für mich totaler Punk und total auf den Punkt, wie früher aber von heute. Das hat eine Radikalität und einen Humor. Ich finde die Herrensauna interessant, diese Fashion-Sache mit dem viel zu schnellen Techno zu verbinden, der nervt, wenn er da so durchbrettert. Aber irgendwie haben die im Tresor ihre eigene Welt kreiert. Ich finde auch diese Fashionattitude mega gut, ein paar von denen modeln. Das braucht Berlin, so einen internationalen Anziehungspunkt. Ich finde auch die neue Generation geil, die 90s-Rave spielen, weil das auch eine Radikalität hat. Das mag ich total, dass das wiederkommt. Nicht mehr dieser Schnöselhouse. Ich habe ja nichts gegen die, wie sie mit ihren Hemdchen dastehen, die sind ja nett. Aber zu konservativ.  

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