Unsere Szene lebt von den Tracks, die Nacht für Nacht und Tag für Tag gespielt werden. In der Rubrik Track by Track wollen wir alle zwei Monate den wichtigsten von ihnen die Wertschätzung entgegenbringen, die sie verdient haben – durch Interviews, Analysen, persönliche Erinnerungen. Ob sie unsere Szene maßgeblich prägten, grundlegende musikalische Veränderungen einläuteten oder sich mit Nachdruck ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben haben: Wir rollen Technogeschichte auf – Stück für Stück, Track by Track.
Nach Nightmares On Wax’ Hymne “Aftermath” nehmen wir uns anlässlich der Veröffentlichung seiner Detroit Love-Compilation diesmal Carl Craigs “At Les” vor. Eine der populärsten Nummern der Detroiter Legende, die sich vom Ambient-Intro aus Flöten und Streichern in einen melodischen Techno-Track mit komplexen Drum-Patterns steigert. So scheint der Track beinahe eine Evolution der Musik von Klassik bis Techno abzubilden. Der “Producer’s Producer” fängt mit dieser getriebenen Melancholie perfekt den düsteren Zeitgeist Detroits der 90er-Jahre ein.
Nach einem sonntäglichen Gig in der Panorama Bar zeigt sich Carl Craig mit Kopftuch und strahlend weißen Zähnen im exklusiven Soho House Berlin am nächsten Mittag bestens gelaunt. Im Fahrstuhl wird mit attraktiven Frauen geflirtet, bevor wir auf der Dachterrasse neben dem Swimmingpool Tee ordern. Er gibt seiner PR-Begleitung den Tipp, die Kippe einfach beim Rauchen im Mund zu lassen, um Nikotinflecken zu verhindern, und bedauert es beinahe, dass ihm Tabak nicht schmeckt. Craig wirkt verdammt cool, aber sympathisch – der Erfolg ist ihm nicht zu Kopf gestiegen und ironisch nennt er sich “Uncle Craig”.
Entstanden ist “At Les” in einer ganz besonderen Wohnung, die ihm auch den Namen verleiht, wie Craig erzählt: “Meine Freundin Lesley hatte eine Wohnung im achten oder neunten Stock eines Hochhauses in Downtown Detroit. Die Fenster im Wohn- und Schlafzimmer gingen vom Boden bis zur Decke, also riesige Fenster entlang der gesamten Wand. Der Komplex wurde zwar nicht von Mies van der Rohe entworfen, aber er sah so aus. Von ihrer Wohnung hast du das kanadische Windsor, den Detroit River und viele Lagerhäuser gesehen. Ich hatte mein Equipment genau vor den Fenstern aufgebaut und machte Musik, während ich nach draußen guckte und nebenbei der Fernseher lief oder so. Eines Nachts gab es ein Feuer in einer Lagerhalle. Das war wunderschön, ja unglaublich, dieses Ding von acht oder neun Etagen hoch brennen zu sehen. Wenn ich an damals denke, taucht immer diese Erinnerung auf.”
Eine wichtige Zeit für sein kreatives Schaffen, erinnert sich Craig: “Wenn du über bildende Künstler sprichst, sprichst du immer von bestimmten Werkgruppen. Pablo Picasso etwa hatte diese oder jene Schaffensperiode, wo er einen bestimmten Malstil verfolgte. Zu meiner Gruppe von Arbeiten aus dieser Zeit gehört ‘At Les’, ‘Bug In The Bassbin’, ‘Rushed’, ‘Microlovr’, mein ‘Use Me’-Remix von R-Tyme oder der von Chez Damier. Die Tracks sind alle vor diesem Fenster entstanden. Das war eine wichtige Zeit für mich, und du kannst viele Gemeinsamkeiten raushören. Ich habe dort ungefähr ein Jahr lang gelebt.”
“Ich habe keinen Monet gemalt. Meine Musik war eher wie der späte Andy Warhol.”
Damals konnte Craig drei oder vier Tracks an einem Tag produzieren: “Ja, wenn ein Track fertig war, war er halt fertig. Ich habe mich nicht mit Kleinigkeiten aufgehalten. Wenn es gepasst hat, hat’s gepasst und fertig. Ein Maler sitzt halt da und zeichnet, macht grobe Striche und am Ende hat er ein Gemälde. Ich habe keinen Monet gemalt. Meine Musik war eher wie der späte Andy Warhol.”
“At Les” erschien 1993 das erste Mal auf Compilations und landete 1997 auf Craigs erstem Planet E-Album More Songs About Food And Revolutionary Art. Das ist weniger ein Konzept-Album als eine Compilation: “Damals habe ich keine Musik für einen bestimmten Zweck gemacht. More Songs war ein Carl Craig-Album und ‘At Les’ bereits ein Carl Craig-Song, also hat es gepasst. Genau wie ‘Suspiria’. Andere Stücke, die die restlichen Tracks verbinden, habe ich aber neu komponiert. Ich hatte nicht mal den Album-Titel im Kopf, bis ich alle Tracks beisammen hatte. Ich bin ein großer Talking Heads-Fan, sie haben mich ziemlich beeinflusst und zu vielen Titeln inspiriert. In dem Fall war’s natürlich ihr Album More Songs About Buildings And Food. Oder mein 69-Album 4 Jazz Funk Classics, der Titel kommt von meiner Leidenschaft für Throbbing Gristle und ihrer 20 Jazz Funk Greats-Platte. Mit den Titeln ist es genau wie beim Sampling: Du nimmst ein Sample und überarbeitest es, brichst es auf, zerschneidest es und setzt es wieder zusammen – oder was auch immer.”
Trotzdem ist der Albumtitel keine bloße Wortspielerei. Damals diskutierte Craig mit seinem ehemaligen Schwiegervater, einem Schriftsteller, Philosophen und Maler, häufig über Revolution und bildende Kunst: “Nun, Pablo Picasso ist wichtiger als Salvador Dali, weil der ein Faschist war. Für mich aus der Hood war Dali interessanter, denn er malte schmelzende Uhren und sowas. Er fickte mit deinem Verstand. Das war ziemlich unbedarft, keine hohe Kunst, du hast kein Hintergrundwissen wie für Picasso gebraucht. Dali ist wie Fernsehen und Picasso wie ein Roman. Natürlich gehört zu sozialen und politischen Bewegungen auch Musik, sie startete Revolutionen, die afroamerikanische Bürgerrechtsbewegung oder Antikriegsproteste. Leute wie Joe Bias, Richie Havens oder Marvin Gaye. Der Titel meint also eher das Gedankenfutter, das eine Revolution anheizt. Und die wollten wir in Detroit immer. Sie kam auch, aber nur für die Reichen.”
Craig wurde 1969 geboren, seine Eltern besaßen eine Drogerie und einen Plattenladen. Detroit in den 80er- und 90er-Jahren war ein düsterer Ort, der immer wieder als kreative Brutstätte für Techno beschworen wird. Als die Automobilindustrie vor die Hunde ging, explodierten Armut, Arbeitslosigkeit, Kriminalität und Drogen in der Motor City. Musikmachen war für Craig die Alternative: “Ich habe mich einer anderen Seite von Detroit gewidmet, die wir selber gestaltet haben: Derrick May, Kevin Saunderson, Juan Atkins, Kenny Larkin, Stacey Pullen, Octave One und die ganzen Jungs. Wir haben mit unserer Musik eine Vision für ein neues, besseres Detroit entworfen. Quasi RoboCop, wovon ich kein großer Fan bin, aber der Film beschreibt das gut. Also eine vereinte Stadt, in der du dich sicher bewegen kannst, ohne Drive-By-Shootings und Carjackings. Wir sahen, wie sich die Situation in der Stadt verschlechterte, und setzten ihr eine strahlende Zukunft entgegen. Der Bahnhof zum Beispiel war für viele eine Bausünde. Aber ich fing an, ihn mit dem Kolosseum in Rom zu vergleichen. Wir nahmen also das, was vielleicht hässlich, aber historisch wichtig ist, und machten es neu – in unserer Musik und unserer Phantasie. ‘At Les’, More Songs und auch Landcruising ist der Soundtrack, um durch dieses neue Detroit zu fahren.”
Auch die korrupte Politik und die dysfunktionale Verwaltung spielen eine große Rolle in der Geschichte Detroits: “Das ist wie im Casino am Würfeltisch. Wenn ein Typ da total viel gewinnt, denkst du dir: Okay, ich will auch spielen. Aber wenn da ein verdammter Verlierer hockt und sein ganzes Geld verspielt, hast du kein Interesse. Und Detroit ist 40 Jahre lang ein Verlierer für viele Leute und besonders für Investoren gewesen.”
“Ich brauche roughe Orte, um produktiv zu sein.”
Kürzlich lebte Craig eine Weile in Barcelona: “Das Meer ist zu nah: Sonderlich produktiv war ich dort nie. Ich brauche roughe Orte, um produktiv zu sein.” Die wohlhabende, weiße Bevölkerung lebte damals in gepflegten Vorstädten, während das schwarze Prekariat im verlotterten Zentrum unterkam: “Die Vorstädte versuchten Detroit zu zerstören, weil wir den ersten schwarzen Bürgermeister der USA hatten. Aber wir kontrollierten die Wasserversorgung der gesamten Region und er hatte nicht vor, zu verschwinden, sagte diesen Typen quasi, dass sie sich ins Knie ficken sollen. Das ist der Stil von Detroit – wir sagen: ‘Schau mal, du weißt, dass du uns verarschst, fick dich, fahr zur Hölle, wir brauchen dich nicht, wir machen unser eigenes Ding.’ Die schmutzige Politik aus den Vorstädten hat dafür gesorgt, dass sich Detroit erst jetzt verbessern konnte. Jetzt müssen wir aufpassen, dass Gentrifizierung nicht die Authentizität Detroits zerstört, was sehr leicht passieren kann. Aber ich liebe meine Stadt definitiv.”
Viele Geräte brauchte Craig nicht für seine Detroit Techno-Blaupausen: “Ich hatte ein paar Synths. Der Streicher-Sound auf ‘At Les’ ist ein Sequential Circuits Prophet-600 oder so. Die Bassline kommt wahrscheinlich von einem Korg-Synth, aber alles andere sind Samples. Dafür benutze ich die HR-16, die Drummachine von Alesis. Also auf ‘At Les’ gibt’s keine Roland TR-808, keine 909.”
Dass Craig eher auf Samples als auf Drummachines setzte, hatte durchaus pragmatische Gründe: “Nun, ich besaß einen Synth, einen Sequencer und einen 4 Track Recorder. Den habe ich mir geliehen, genau wie die Kabel. Aber um Musik zu machen, musste ich eben alles tun, was nötig war. Bei mir landete auch eine LinnDrum von einem Klassenkameraden, die ich verdammt nochmal immer noch habe. Nun, er kam nie vorbei, um sie sich wiederzuholen. Und sie funktioniert noch. Ja, so lief das halt. Meine Roland SH-101 hat mir Anthony Shakir für 50 Dollar verkauft, weil er das Geld brauchte, und dann hat er’s bereut. Wahrscheinlich ist er jetzt noch böser darüber, denn die sind ja mittlerweile so viel wert wie eine Roland TB-303.”
“Technologie zerstört Kreativität.”
Doch gelitten hat Craig nie unter diesen Einschränkungen – ganz im Gegenteil: “Technologie zerstört Kreativität. Damals konntest du dir nicht jeden Synthesizer leisten. Heute mit Ableton, Arturia, Native Instruments und allen anderen hast du 100 Millionen Sounds und tausend Plug-Ins, die alle dasselbe machen. Das ist zu viel Auswahl, sind zu viele Variationen für eine Person zum Rumspielen. Als sie Thriller gemacht haben, war Greg Phillinganes der Keyboarder, es gab noch einen zweiten, Michael Jackson machte sein Ding, sie hatten einen Produzenten, einen Drummer, einen Typen, der die Beats programmierte. So viele Leute waren beteiligt und das machte es einfacher. Aber wenn du in deinem Schlafzimmer mit 100 Millionen Möglichkeiten sitzt, wird’s kompliziert. Deswegen greifen so viele Leute leider auch auf den gleichen Sound zurück. Es gibt zu viele Optionen, als dass sie noch etwas Neues suchen. Wie diese 10.000 Techhouse-Platten oder 100.000 D’n’B-Tracks, die alle genau gleich klingen.”
Das beatlose, zweieinhalbminütige Intro scheint Craigs Klassik-Projekt Versus von 2017, wo ein komplettes Orchester unter anderem auch “At Les” neu interpretierte, und seine aktuelle Arbeit mit dem Chineke! Orchestra vorwegzunehmen. Doch das ist eine Überinterpretation: “Das Intro ist ein Flöten-Sample, das Triolen spielt oder so. Ich liebe einfach Flöten-Sounds. Ich habe ‘At Les’ nicht mit der Absicht gemacht, dass es eines Tages ein Orchester spielen würde. Ich habe es einfach gemacht, weil ich es gemacht habe. Weil es sich gut angefühlt hat, während ich aus diesem riesigen Fenster oder Fernsehen geschaut habe und mit dem Flöten-Sample herumgespielt habe.” Craig summt die einprägsame Melodie überraschend tonsicher vor sich hin. “So mache ich Musik, ich bastle einfach herum. Ich kann eine großartige Idee in meinem Kopf haben, aber wenn ich anfange, sie zu spielen, klingt sie beschissen. Aber das ist der Ausgangspunkt für etwas Anderes: Was, wenn ich dieses oder jenes ausprobiere, am Sound herumschraube, dann entwickelt sich diese Idee und macht ihr Ding.”
Trotzdem hatte Craig schon immer ein Faible für beatlose Elektronik und Ambient. 1995 erschien etwa sein 12-minütiger “Drums Suck Mix” von Dave Angels “Airborne”. Das hat mehrere Gründe: “Ich mag Ambient, Tangerine Dream und die ganzen US-amerikanischen und kanadischen Ambient-Künstler. Brian Eno ist mit Music For Airports wahrscheinlich der Erste in dieser Kategorie gewesen. Ein anderer wirklich großer Einfluss war Manuel Göttschings E2-E4, wie sich die Drums und alles so luftig aufbauen und dass die Gitarre erst in der Mitte reinkommt. Ich bin halt von meinen Einflüssen zu dem gegangen, was ich mache. Also entwickelt sich ‘At Les’ von Ambient-Kram in eine Club-Geschichte.”
Zu seiner Orchesterarbeit kam es aus gänzlich anderen Gründen, wie Craig schmunzelnd erzählt: “Als ich ein Kind war und Muzak-Versionen von populären Songs hörte, war das wie eine Validierung. Da gab’s etwa eine Orchester-Version von Eleanor Rigby: Okay, jetzt ist es eine großartige Platte, die wichtig sein muss, wenn hundert Musiker in einem Raum eben diesen Song spielen. Dass deine Musik validiert wird, ist stets in meinem Bewusstsein gewesen. Immer wenn ich von Gigs zurück in die USA gekommen bin, musste ich erklären, warum ich für zwei Monate oder auch bloß zwei Tage weg war, ob ich Drogen dabei habe oder sonst was mache, was ich nicht machen sollte. Ein perfektes Beispiel ist, als ich einmal von Mexiko nach El Paso in Texas einreiste: Der Zollbeamte fragte mich, was ich gemacht habe, und ich sagte, ich bin ein DJ, und er meinte, warum musst du nach El Paso, wir haben hier doch super DJs, warum sollten sie dich buchen müssen. Und dann haben sie unser ganzes Auto auf den Kopf gestellt. Mit so Kram hatten wir die ganze Zeit zu kämpfen. Weil ich ein schwarzer US-Amerikaner bin oder die einfach bescheuert sind, keine Ahnung. Und was gibt es für eine bessere Validierung als sagen zu können: Ich bin ein Komponist und habe in der Royal Albert Hall gespielt. Da können sie ihrer Fantasie freien Lauf lassen, denn das ist fast das Äquivalent davon, ein Superstar-Anwalt oder Basketball-Spieler zu sein.”
Carl Craigs Detroit Love Vol. 2 ist am 17. Mai auf Detroit Love erschienen.