Woche für Woche füllen sich die Crates mit neuen Platten. Da die Übersicht behalten zu wollen, wird zum Fulltime-Job. Ein Glück, dass unser Fulltime-Job die Musik ist. Zum Ende jedes Monats stellt die Groove-Redaktion Alben der vergangenen vier Wochen vor, die unserer Meinung nach relevant waren. Dieses Mal mit Benny Sings, Modeselektor, Xosar und 12 weiteren – ganz neutral in alphabetischer Reihenfolge.

14Aleksi Perälä – Sunshine 3 (Dub)


Keinem Producer ist es in den letzten Jahren gelungen, einen so eigenständigen Clubsound zu entwickeln wie Aleksi Perälä. Die spirituelle Bedeutung, mit denen er seine Tracks auflädt, verleiht ihnen eine einzigartige Dringlichkeit. Mit seinen kristallinen Klängen deckt er dabei das gesamte Spektrum von flirrendem Ambient bis zu sphärischem House ab. Wie bei Wolfgang Voigt produziert er mit einer bestimmten Klangkonfiguration, einem bestimmten Sound gleich eine ganze EP oder ein ganzes Album. Bei der herausragenden Sunshine 1-EP verband er aufgekratzte, schmetternde, akustische Breakbeats mit irisierenden, entrückten Einzeltönen. Die Grooves erinnerten in ihrer Überstürztheit manchmal an Gabba und Breakcore, die sparsamen Melodien strahlten eine irreale Ruhe aus. Bei Sunshine 2 löst sich dieser Kontrast mehr oder weniger auf, Perälä erinnert jetzt an den Progressive House von Der Dritte Raum oder Orbital. Hier bringt er das Sunshine-Konzept ins Albumformat. Die Breakbeats klingen nicht mehr unruhig, sondern mal forschend und mal driftend und auch die Sounds bilden komplexere Figuren. Track für Track staunt man, was für komplexe, originelle Klanggebilde Perälä einfallen. So überzeugt er mit einer außergewöhnlich tiefgreifenden Interpretation des IDM von The Black Dog, Plaid oder Aphex Twin. Alexis Waltz

13Aubrey – Gravitational Lensing (OUT-ER)


Viele aktuelle Clubtracks nehmen sich zu ernst oder wirken verzweifelt. Hier wie da führt das dazu, dass die Producer*innen zuviel machen. Aubrey dagegen legt eine ungewöhnliche Gelassenheit, ja geradezu Bescheidenheit an den Tag. Auf der Ebene der Sounds strebt er keine Distinktion an. Seine Soundbibliothek existiert, solange es (Detroit-)Techno gibt. Ihre außergewöhnliche Qualität entwickeln die Tracks aus der Poesie der Klangfiguren. Komposition wäre da schon zu viel gesagt. Es sind Phrasen, die im einzelnen keine besondere Musikalität für sich beanspruchen. Spannend werden die Stücke, wenn die Elemente miteinander in Kontakt treten. Wenn die überraschend bratzige Bassline von “Orbit Of Oberon” auf zarte, flirrende Pads trifft, dann reagieren diese Elemente nicht als Arrangement. Durch das gegenseitige Unverständnis entsteht eher ein Gefühl von Fremdartigkeit. Alexis Waltz / Felix Hüther

12Benny Sings – City Pop (Stones Throw)


Leichtigkeit sei das Schlüsselelement seiner Musik, so der niederländische Sänger und Produzent Benny Sings. City Pop, sein neues Album, bringt uns sogar noch einen Ticken mehr Leichtigkeit als Studio, der Vorgänger aus dem Jahr 2015. Dabei war das schon ausgesprochen leicht. Eigentlich hat Tim van Berkestijn, wie Benny Sings eigentlich heißt, eine Hip Hop-Vergangenheit. Das Cover seines Debütalbums Champagne People zeigt einen nicht allzu großen, ein wenig rundlichen jungen Mann mit einem beeindruckenden blonden Lockenkopf inmitten seiner Crew in Baggy-Jeans. Zu hören gab es damals Neo Soul mit irre viel Understatement, die Schule von J. Dilla. Es waren auch Dilla-Samples, die Tim van Berkestijn zu Fusion, Adult Oriented Rock und Blue Eyed Soul brachten. So ergab sich die Sache mit der Leichtigkeit auf dem zweiten Album Benny … At Home. Als eine nicht enden wollende cool breeze zwischen Smooth Jazz, Soft Rock, schluffigem Fusion Funk und Blue Eyed Soul ist nun City Pop konzipiert. Diese Brise strömt mitten in der Nacht durch sämtliche Radios einer blinkenden Metropole. Nehmen wir an, wir befänden uns in Japan, wo in den späten Siebzigern und frühen Achtzigern ein Genre namens City Pop erfolgreich war – urbane Musik zwischen Pop Rock, entspanntem Jazz und plüschigen Disco- und Soul-Elementen. Manchmal wehen da Stücke wie “Duplicate” (mit Mocky als Gast-Star) durch den Äther. Die umgarnen einen mit ihrer Nettigkeit – und zwar mit Verve. Und mit “So Far So Good” taucht dann tatsächlich noch ein wunderschöner Song auf. Doch auf die Distanz lastet so viel Leichtigkeit tonnenschwer auf den Schultern. Man denkt immer wieder: Ich kann nicht mehr. Holger Klein

11Bjarki – Happy Earthday (!K7)


2016 tauchte der isländische Ausnahme-Elektroniker Bjarki erstmalig auf Nina Kraviz’ трип-Label auf und reüssierte sogleich mit einem Triptychon an Alben, auf denen er so gekonnt wie leichtfüßig zwischen beinhartem Techno, Electro, Breakbeats und Rephlex’schem Braindance wechselte. Und das war nur der Anfang – es folgten weitere beeindruckende Veröffentlichungen auf Kraviz’ Label wie auch seinem kurzerhand selbst gegründeten eigenem, bbbbbb, auf welchem er alienösem Electro genauso huldigte wie cheesigem Happy Hardcore. Nun also sein viertes Album, Happy Earthday, für das er zu !K7 wechselt. Um es gleich vorweg zu nehmen: Er treibt es hier nicht ganz so wild wie auf den vorherigen Releases – wobei diese Aussage keinerlei Wertung mit sich bringen soll. Es fehlen hier nur die ganz harten Techno- und Acid-Bretter. Stattdessen schwelgt Bjarki vielmehr in melancholischen Electronica-Atmosphären, ziseliert verspielte Melodien, gepaart mit vertrackten Beats. Dadurch wirkt das Album – im Gegensatz zu seinen drei Vorgängern, die mehr oder minder eine Werksammlung waren mit allem Interessanten, das sich über die Jahre auf der Festplatte angesammelt hatte – aber auch mehr wie aus einem Guss: Ein fast schon klassisch anmutendes Electronica-Album für Armchair-Raver, das so auch perfekt auf Warp gepasst hätte. Tim Lorenz

10British Murder Boys – Fire In The Still Air (Downwards)


Dass diese Live-Aufnahme nichts für schwache Nerven ist, wird gleich am Anfang klar. Die British Murder Boys eröffneten ihren Berlin Atonal Gig nämlich mit einer Wutrede des verstorbenen amerikanischen Sektenführers Jim Jones, die durch das Kraftwerk Berlin hallte und einen freudig schaudern ließ. Ein erster Funke, der schnell auf die Leute übersprang. Wer die BMB kennt, reibt sich spätestens jetzt voller Vorfreude die Hände. Brutale, verschachtelte Beats von Surgeon, repetitive Bleeps und brachiales Soundgewitter der Güteklasse A, dazu noch Regis am Mikrofon, der den Leuten gehörig einheizt. Nicht ohne Grund sind diese beiden seit Jahren Koryphäen des britischen Industrial Techno. Eingefleischte Fans erkennen hier und da auch Fragmente älterer Tracks wieder, jedoch fühlt sich die Show zu keinem Zeitpunkt wie ein Best Of an. Von Beginn an ist man im Mahlstrom dieses mitreißenden Sounds gefangen und kann nicht anders, als jede einzelne Minute davon zu lieben. Irgendwo zwischen Start und Ziel prophezeit Regis dann noch „We will take you to the promised land“ – die Voice-Line seines legendären Sandra Electronics Tracks „As Above, So Below“ – aber dort ist man eigentlich schon längst angekommen. Andreas Cevatli

9Cosey Fanni Tutti – Tutti (Conspiracy International)


Christine Carol Newby war von der ersten Stunde an Teil der britischen Industrial-Avantgarde in Form von Throbbing Gristle oder dem Kollektiv COUM Transmissions, aus dem später Projekte wie Psychic TV hervorgehen sollten. Sie war aber auch mal Pornodarstellerin und Stripperin und machte, geprägt durch ihre Biographie, das Sexuelle als postmodernes Konsumprodukt meist ziemlich reflektiert zu einem Aspekt der eigenen Außendarstellung. Schon das galt im England der 1970er und 1980er jedoch als absolutes Tabu, selbst ohne öffentlichkeitswirksame Aktionen mit benutzten Tampons und Windeln, die zu dem Zeitpunkt – angestoßen durch Mary Kellys Arbeit – zumindest in Tuttis Interessengebiet lagen. Für die Frau, die sich immer auch mit gesellschaftlichen Konventionen und deren Absurdität auseinandersetzte, war das politischer Aktivismus. Ihre Bedeutung für die Entwicklung der Punk- und Industrial-Szene ist in dem Kontext zwar nicht zu unterschätzen, doch seit dem Debüt Time To Tell von 1983 und einiger Remix-Versionen desselben gab es von der Performance-Künstlerin keine neuen Soloarbeiten zu hören. Tutti bildet als „audio self-portrait“ nun in acht Tracks den Status Quo ihrer Entwicklung ab und klingt für ein so umtriebiges Künstlerleben erstaunlich behäbig, auch oder gerade in anbetracht einer vollmundig proklamierten Konzentration sämtlicher Stärken. Das würde in diesem Fall beatlastiger Post-Industrial oder düsterer Minimal Synth mit gelegentlichen Vocal-Samples bedeuten. Irgendwas dazwischen bekommt man auch auf Tutti, das zwar rundherum toll produziert ist, aber jedem einigermaßen an dieser Musik, dieser Subkultur Interessierten im Jahr 2019 überholt erscheinen muss. Nils Schlechtriemen

8Finlay Shakespeare – Domestic Economy (Edition Mego)


Synthpop und New Wave im Jahr 2019 schon wieder kreuzen, um damit nochmal richtig auf die Kacke zu hauen? ‘Eher nicht’ lautet wohl die intuitiv naheliegendste Antwort. Für den in Bristol lebenden CEO von Future Sound Systems (einem kleinen Hersteller von Modular-Synthesizern bzw. deren Komponenten) Finlay Shakespeare hat sich diese Frage jedoch scheinbar nie gestellt. Die verspielte Selbstverständlichkeit, mit der er auf seinem nun über Editions Mego veröffentlichten Debüt Domestic Economy klassische Pop-Tropen einer Revision unterzieht, erklärt auch warum. Denn sowohl beim sich euphorisch aufbäumenden „Amsterdam“ oder dem Reverb-Dröhnen von „Pittville“ als auch bei der düsteren Dramatik in „Perris“ oder dem feierlichen Chorus von „Christiania“ gehen Synthesizer und Vocals derart leidenschaftliche Symbiosen ein, dass man sich fragt, ob das auf die Weise überhaupt schon mal realisiert wurde. Shakespeares Stilmittel sind zwar für sich betrachtet bekannt, ihre Verbindung aber klingt so intuitiv und mitreißend wie Synth Pop vielleicht seit Jahrzehnten nicht mehr. Dabei gleicht seine Stimme einer wütenden Mischung aus Mark Hollis und Boy George, doch weil das Ursprungsmaterial während improvisierter Live-Sessions entstand, ist sein Timbre herrlich unbearbeitet, nahbar, eigen. Dass Russell Haswell hier das Mastering übernahm, wird in ein paar Jahren vielleicht als einer der großen Glücksgriffe des zeitgenössischen Pop-Geschehens in den ausgehenden 2010ern gelten. Ohne die Noise-Instanz klänge Domestic Economy wahrscheinlich weit weniger kraftvoll und dringlich, gerade wenn es um das Zusammenspiel von grellen Synthesizermelodien und Gesang geht. So unvermittelt hat man derartige Musik jedenfalls schon lange nicht mehr feiern können. Nils Schlechtriemen

7King Midas Sound – Solitude (Cosmo Rhythmatic)


Liebe hat nicht nur schöne Seiten. Diesen Eindruck gibt zumindest das eindringliche neue Album von King Midas Sound, das bedrückende Gefühle in Beziehungen und nach deren Verlust ins Zentrum stellt. Immer wieder wirkt Solitude wie die musikalisch beklemmende Form aggressiver Verzweiflung oder desillusionierter Hoffnungslosigkeit, die ihren Ursprung in zerstörerischen Partnerschaften oder dem Verlust des Gegenübers hat. Nur an wenigen Stellen baut Kevin Martin (alias The Bug) schleppende Beats ein, es überwiegen bedrohliche Soundscapes aus Synthesizern und Bässen. Sie tragen die pessimistische, oft auch destruktive Poesie von Roger Robinson in noch dichtere Finsternis, orchestrieren Hilflosigkeit, Wut, Selbsthass, Verletzlichkeit, Trauer und Verdrängung. Oft wendet sich die bleierne Lyrik an ein Gegenüber, das verloren ist. Solitude ist ein schweres Album, das sich an manchen Stellen in seiner deutlichen Aussichtslosigkeit schwer aushalten lässt. Gerade dadurch ist es aber ein eindrucksvolles Bild von Liebe. Philipp Weichenrieder

6Modeselektor – Who Else (Monkeytown)


Wer, wenn nicht wir? Diese Frage stellt das neue Modeselektor-Album unverhohlen, und lässt auch einen kleinen Blick in die Selbstwahrnehmung der Berliner Lokalmatadoren zu. Gernot Bronsert und Sebastian Szary treten also erneut ins Rampenlicht der Musikwelt und brennen in gewohnter Manier ein hyperaktives Bassfeuerwerk für die Generation Y ab. Ihre Musik ist, und war eigentlich auch schon immer, ein Sammelsurium verschiedenster Genres. Who Else bildet da keine Ausnahme. Pure Big Room-Rave-Eskalation ist auf diesem Longplayer genauso vertreten wie UK-House und selbst ein Grime-Track mit dem Titel „Wealth“ darf nicht fehlen. Für letzteren haben sich Modeselektor die talentierte MC Flohio ins Boot geholt, die unter anderem schon mit L-Vis 1990 kollaboriert hat und den Song durch energetisch vorgetragene Vocal-Artistik zum einprägsamsten des Albums macht. Wer, wenn nicht Modeselektor könnte so einen umfassenden Bogen spannen? Aber ob das dann auch gefällt oder doch ein bisschen zu viel ist, bleibt jedem selbst überlassen. Andreas Cevatli

5Jonny Nash – Make A Wilderness (Music From Memory)


Make A Wilderness beginnt einnehmend schön mit einem Zusammenspiel von Vibraphon, Synthesizer und einem Cello-artigen Klang, dazu kommt nach etwa einer Minute sporadisch ein an japanische Blasinstrumente erinnernder Sound. Alle Klänge beanspruchen ungefähr den gleichen Raum, keiner dominiert, sie verzahnen sich in einer gleichberechtigten Abwechslung. Mit diesem knapp dreiminütigen Eröffnungsstück ist ein Rahmen definiert, der sich durch das ganze Album zieht. Abstrakte Sound- und Kompositionsstrukturen treffen auf organische oder daran angelehnte Klänge, und wenn dann noch ein Klavier mit im Spiel ist, stellt sich unmittelbar die Assoziation mit Sakamoto ein. Natürlich ist es müßig, Jonny Nash an diesem Elektronika-Großmeister zu messen. Make A Wilderness ist ein gutes, entspanntes Ambientalbum und wäre möglicherweise herausragend, wenn sich Nash nicht – übrigens ähnlich wie Sakamoto – manchmal leicht kitschige Worldmusic-Ausrutscher leisten würde wie in „Trees Bearing Fruit“ mit seinem überzuckerten Elfengesang. Das darauf folgende „Place“ macht diesen kleinen Fauxpas aber schnell wieder wett und verweist eher auf E-Musik und die Raster Noton-Schule, und im superben „Language Collapsed“ darf dann nochmals das Vibraphon für endgültige Versöhnung sorgen. Mathias Schaffhäuser

4Ossia – Devil´s Dance (Blackest Ever Black)


Wer in Großbritannien auf die neoliberale Gesellschaft schaut, wird traurig. Das Leben als allgegenwärtiger Markt. Das Wettbewerbs-Wesen im Effizienz-Trauma. Rationalisierte Lebenswelten, zersetzt von Privatisierung und Austerität, mit ein paar Gewinner*innen und vielen Verlierer*innen. Wieso dies lesen in einer Albumkritik? Weil Ossia aus Bristol all das bittere neoliberale Elend seiner Heimat in poetische Musik gegossen hat. In gespenstische, in geschichtsbewusste, fesselnd und modern. Dub, Bohren und der Club of Gore-Melodien, Rave, Wave und Industrial, ins Jetzt rettende Musik ohne Text. Sie erzählt kratzig vom getriebenen Leben im Kreditkarten-Minus, dem in der Mitte des Kosten-Nutzen-Daseins der Sinn begegnet. In Form von verzweifelter Musik, die selbst in eruptiven Bass-Momenten ein nebliger Schleier begleitet. Die alten Backsteinhäuser sind der Betonrationalität gewichen. Die hoffnungsvolle Jugend tanzt dramatisch kühl den Devil’s Dance. Michael Leuffen

3Silk Road Assassins – State Of Ruin (Planet Mu)


Der musikalische Background von Tom E. Vercetti, Lovedr0id und Chemist liegt in Sound Design, bei Musiktechnologie und Komposition. Ihre Skills verwenden sie sonst, um Musik für Videospiele oder Filme zu produzieren. Als Silk Road Assassins nutzen sie ihre Werkzeuge, um sie auf elektronische Musik anzuwenden und detailreiche Soundscapes mit Clubmusik-Rhythmen zu verweben. Ihr Debütalbum State Of Ruin ist von melancholischen Melodien und ausgreifenden Ebenen geprägt, durch die sich schwere Beats zwischen Trap und Grime schieben. Scharfe Claps durchschneiden die Klangschichten, hin und wieder klingen Amen Breaks an, darunter wühlen tiefe Bässe. Silk Road Assassins brechen auf State Of Ruin immer wieder die Schablonen auf, mit denen sie arbeiten, lassen Räume entstehen, in denen sich die Komplexität ihrer Produktionen ausbreiten kann. Die warmen Melodien legen sich dabei wie schillernder Staub auf die berstenden Beatstrukturen und feiern den Kollaps als Chance auf Neues. Philipp Weichenrieder

2Vtgnike – Steals (Other People)


Vor zehn Jahren produzierte der aus Moskau stammende Danil Avramov schon als Myown relativ vielseitigen UK Garage, der als Digital-Release lediglich auf dem kleinen, slowakischen Netzlabel Gergaz erschien. Die Zipdubs klangen 2010 durchaus experimentell und virtuos gemixt, verrieten mit ihrer Hyperdub-Ästhetik ungewollt, aber doch deutlich, woher sie ihre Inspiration bezogen. Unter dem Pseudonym Vtgnike abstrahiert Avramov ab 2011 diesen Sound konsequenter und entwirft seither Jazz- und Juke-affine Beatgerüste, zusammengehalten von ausgeklügelten Arrangements, die mit Claps, Snares, Stimmen, Instrumenten oder Foley-Samples arbeiten und die Clubtauglichkeit auch gerne mal für den Extraschub Atmosphäre opfern. Das war vor zwei Jahren beim schummrig ausgeschmückten Collection schon hörbar und fiel zuletzt auch dem Londoner Radiosender NTS auf, wo Vtgnike im vergangenen Dezember ein einstündiges Set präsentierte. Steals setzt den Pfad der Reduktion fort und erscheint wie auch schon Dubna auf Nicolas Jaars Label Other People, das minimalistischen Ansätzen offenbar immer wieder gerne eine Bühne bietet. Von den sich mit Flöten paarenden Lauten-Loops des einleitenden „Vechermix“ über das hypnotische Schimmern in „Sweep“ bis zum matten „Slowshit“ oder dem Piano-Ambient von „Primechord“ frönt dieses Album genau dem Minimalismus, jener Besinnung aufs Wesentliche, die man in ähnlicher Form auch bei Produzenten vom Kaliber eines Actress als Konstante ausmachen kann. Steals beweist dabei eine ungewöhnliche Treffsicherheit, wenn es um Klangfarbe und Stimmung geht. Die braucht es natürlich, um aus derart wenig so viel rauszuholen. Nils Schlechtriemen

1Xosar – The Possessor Possesses Nothing (Bedouin)


Drachen sind cheesy, aber irgendwie auch einfach gut. Xosar hat zwei davon aufs Cover ihres jüngsten Albums mit diesem etwas umständlichen Titel gepackt. Richtig so. Innerlich brodelnd und beständig lauernd, wie Lindwürmer eben sind, hat sie dazu passend die neun Tracks ihrer Platte gestaltet. Xosar, die sich seit längerem für Dinge wie paranormale Phänomene interessiert, sucht in ihren Produktionen selten nach gemütlichen Lösungen. Dabei lässt sie den Hall- und Noise-Anteil nie die Oberhand gewinnen. Sogar in den dichtesten und düstersten Momenten der Platte findet sich als Basis stets ein Groove, der von härter zu runder mutiert und selbst dort noch zu erkennen bleibt, wo Xosar überhaupt keinen Beat einsetzt. Statt Pessimismus zu artikulieren, will Xosar mit ihrer Musik diesmal von Befreiung erzählen. Was bekanntlich ein steiniger Weg sein kann. Am Ende siegt die musikalische Fantasie. Über die Drachen. Und überhaupt. Tim Caspar Boehme

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