Foto: Kristoffer Cornils
Techno wehrt sich traditionellerweise gegen Historisierung und doch sind nicht allein die Zuspätgeborenen für jedes Buch dankbar, das ihnen die Magie der frühen Rave-Tage näher bringt. Insbesondere zur Geschichte der elektronischen Tanzmusik in Berlin hat sich ein ganzer Berg von Literatur angesammelt, der von (semi-)fiktionalen Erfahrungsberichten wie Airens Berghain-Roman Strobo über einige Fotobände und Oral Historys hin zu ethnografischer Feldforschung reicht. Wir stellen zehn essentielle Bücher zur Clubkultur von Berlin, ihrer Geschichte und Gegenwart, ihren Problemchen und Strukturen vor – arrangiert als thematisches Mixtape.
Wolfgang Farkas, Stefanie Seidl, Heiko Zwirner (Hrsg.) – Nachtleben Berlin 1974 bis Heute
Noch bevor Acid House in den Kellern Schönebergs einschlug und die Berlin-Detroit-Achse etabliert wurde, konnte sich Berlin einen internationalen Ruf als Partyhauptstadt des geteilten Deutschlands erarbeiten. Der von Wolfgang Farkas, Stefanie Seidl und Heiko Zwirner herausgegebene Band Nachtleben Berlin 1974 bis heute versammelt neben einigen exklusiven Texten auch großformatige Bilder, die das Treiben nach Sonnenuntergang durch die Jahrzehnte hinweg dokumentieren. Eine substanzielle Grundlage für alle angehenden Clubhistoriker*innen.
Wolfgang Farkas, Stefanie Seidl, Heiko Zwirner (Hrsg.): Nachtleben Berlin 1974 bis Heute. Metrolit 2013. 204 Seiten, 36€.
Felix Denk und Sven von Thülen (Hrsg.) – Der Klang der Familie: Berlin, Techno und die Wende
Es war ein Mammutprojekt, das internationale Wellen schlug: Nach dem Vorbild von Jürgen Teipels Oral History zur Neuen Deutschen Welle, Verschwende deine Jugend, ließen Felix Denk und Sven von Thülen 2012 mit Der Klang der Familie: Berlin, Techno die Wende das Gros der Player dieser Zeit zu Wort kommen. Herausgekommen ist ein Flickenteppich aus nicht selten widersprüchlichen Aussagen, welche von den achtziger Jahren bis zur erfolgreichen Mainstreamisierung der Techno-Subkultur Mitte der Neunziger noch fast jeden Aspekt der entscheidenden Umbruchphase in Berlin erfahrbar machte. Das wohl wichtigste Buch zur Techno-Geschichte Berlins.
Felix Denk und Sven von Thülen (Hrsg.): Der Klang der Familie: Berlin, Techno und die Wende. Suhrkamp 2012. 423 Seiten, 10€.
Ulrich Gutmair – Die ersten Tage von Berlin. Der Sound der Wende
Als Ulrich Gutmair 2013 sein Buch Die ersten Tage von Berlin. Der Sound der Wende veröffentlichte, machte sich zuerst Skepsis breit. Was könnte diese Aufarbeitung der frühen Techno-Tage schon bieten, was nicht mit Der Klang der Familie erzählt worden wäre? Die Antwort: Eine ganze Menge. Gutmair setzt die Entwicklungen mehr noch als Denk und von Thülen in einen soziopolitischen Kontext. Hausbesetzungen oder Antisemitismus in der DDR sind hier ebenso vertreten wie persönliche Anekdoten eines Dabeigewesenen. Eine denkbar angenehme und lehrreiche Synthese, die weit über den mächtigen Vorgänger einiges zu bieten hat.
Ulrich Gutmair: Die ersten Tage von Berlin. Der Sound der Wende. Klett-Cotta 2013. 256 Seiten, 18€.
Anke Fesel, Chris Keller (Hrsg.) – Berlin Wonderland – Wild Years Revisited 1990–1996
Ähnlich eindringlich und doch analytisch ist der Zugang von Anke Fesel und Chris Keller. Mit Berlin Wonderland – Wild Years Revisited 1990-1996 vereinen sie Fotos von unter anderem der Berlin-Legende Ben de Biel mit Texten, die an der Schnittstelle der Hausbesetzer*innen-, Techno- und Kunstszenen entlang eine in Schwarz/Weiß gehaltene Geschichte erzählen. Die könnte bunter nicht sein. “Es fehlte viel, das machte reich”, schreibt der Schriftsteller David Wagner in einem der Begleittexte und gewissermaßen lässt sich das auch über Berlin Wonderland sagen: Der Fokus auf Institutionen wie das Tacheles erklärt noch lange nicht alles, macht aber umso Lust auf mehr. Nur folgerichtig also, dass Fesel und Keller mit Berlin Heartbeats: Stories from the wild years, 1990–present drei Jahre später einen Nachfolger für ihr 2014 erstveröffentliches Kompendium nachlegten.
Anke Fesel, Chris Keller (Hrsg.): Berlin Wonderland – Wild Years Revisited 1990–1996. bobsairport 2014. 224 Seiten, ab 29,90€.
Sven Marquardt – Die Nacht ist Leben
Ein schwuler Punk aus Ostberlin, der zum international renommierten Fotografen aufsteigt und dessen Gesicht allein es in Sachen Wiederekennungswert mit dem Fernsehturm aufnehmen kann: Selbst wenn Sven Marquardt nicht der berühmteste Türsteher der Welt wäre, würde sich seine Geschichte immer noch lohnen. Aufgeschrieben hat er sie gemeinsam mit der Journalistin Judka Strittmatter und ja, natürlich geht es auch um Marquardts Werdegang, der ihn von Gelegenheitsjobs in der Berliner Türszene zuerst zum Ostgut und schließlich zum Berghain führte. Überflüssig zu erwähnen allerdings, dass auch Die Nacht ist Leben keine eindeutige Antwort auf die Fragen aller Fragen liefert: Wie komme ich rein? Als Wartelektüre fürs Schlangestehen bieten sich seine Memoiren allemal an.
Sven Marquardt: Die Nacht ist Leben. Ullstein 2016. 224 Seiten, 14,90€.
Tobias Rapp – Lost and Sound. Berlin, Techno und der Easyjetset
Nach dem großen Techno-Hype Mitte der neunziger Jahre ebbte das Mainstream-Interesse an der Subkultur schnell wieder ab. Die zog sich in den Untergrund zurück und stieg gekräftigt aus diesem empor – so zumindest lässt sich das Narrativ verstehen, welches Tobias Rapp in Lost and Sound. Berlin, Techno und der Easyjetset konstruiert. “Ein neues Berlin entsteht, und keiner kriegt es mit. Fast keiner natürlich, irgendjemand muss es ja bauen”, jubelte der mittlerweile beim SPIEGEL als Redakteur tätige Journalist 2009. Anlass genug dafür gab es: Mit dem Watergate, dem Berghain und der Bar 25 hatten sich drei sehr unterschiedliche Clubs daran gemacht, die heimische Szene zum Tourismusmagneten werden zu lassen und DJs wie “der Ricardo” sorgten dafür, dass die am Mittwoch aufgenommenen Partys erst am Dienstag ausklangen. Was aus heutiger Perspektive nicht selten zweifelhafte Konsequenzen nach sich zog, das macht Rapp mit viel Begeisterung für sein Sujet erfahrbar.
Tobias Rapp: Lost and Sound. Berlin, Techno und der Easyjetset. Suhrkamp 2009. 268 Seiten, 8,99€.
Peter Laudenbach – Die elfte Plage. Wie Berlin-Touristen die Stadt zum Erlebnispark machen
Vielleicht also umso wichtiger, auch kritischen Stimmen Aufmerksamkeit zu schenken. Peter Laudenbachs Die elfte Plage. Wie Berlin-Touristen die Stadt zum Erlebnispark machen schlug 2013 ein wie eine Bombe. Obwohl der Journalist sich nicht primär mit der Berliner Clubszene befasst, so ist sein provokativer Rundumschlag gegen die Hassliebe, welche Berlin-Touris entgegengebracht wird und die wirtschaftlichen Aspekte des Tourismusbooms mehr als amüsant zu lesen. “Wir wollen am Tourismus-Boom mitverdienen. Indem wir Touristen beleidigen. Berlin-Touristen mögen das”, bringt er die Bredouille gekonnt auf den Punkt. Schließlich würde ein Slogan wie “Touristen fisten!” für manche weniger eine Beleidigung als vielmehr eine verlockende Einladung darstellen.
Peter Laudenbach: Die elfte Plage. Wie Berlin-Touristen die Stadt zum Erlebnispark machen. Edition Tiamat 2013. 144 Seiten, 13€.
Linus Dessecker – Sound Travels
Zumal einige Gäste gern gesehen sind, im Clubbetrieb vor allem DJs. Linus Dessecker nahm zwischen 2012 und 2015 einige von ihnen in Empfang und brachte sie an ihre Bestimmungsorte, soll heißen entweder ins gebuchte Hotel oder gleich in den Club seiner Arbeitgeber – dem Watergate. Als Chez Damier seinem Fahrer höchstpersönlich vorschlug, sein Fotografiestudium mit seinem Nebenjob zusammenzudenken, ließ er sich nicht lange bitte. Sound Travels erschien als Teil der großen Jubiläumsbox anlässlich des 15. Geburtstags des Watergates, aber auch als gesonderte Artist Edition und zeigt DJs wie Omar-S oder Kittin vollbepackt zwischen Flughafen und Club. Das Banale wird in diesen Bildern zur Besonderheit – und endlich wissen wir, wie oft DJ Koze seit Anfang seiner Karriere mit der Lufthansa die Erde umrundet hat.
Linus Dessecker: Sound Travels. Watergate/Selbstverlag 2017. 176 Seiten, 25€.
Anja Schwanhäußer – Kosmonauten des Underground. Ethnografie einer Berliner Szene
In Erzählungen über das große Techno-Treiben Berlins kommen meistens diejenigen zu kurz, ohne die es keine Szene gäbe: Das Publikum, die Party People, die ravende Gesellschaft, die Kosmonauten des Underground, wie Anja Schwanhäußer sie in ihrer als Dissertation eingereichten Ethnografie einer Berliner Szene nennt. Das mag trocken klingen, liest sich dank des lebendigen Stils der Autorin aber ebenso unterhaltsam wie nahbar – kein Wunder, hat die Stadtethnologin dem Werk doch Langzeitforschung mitten im Geschehen zugrunde gelegt. Der 2010 veröffentlichte Band legt einen Schwerpunkt auf die szenespezifische (Rück-)Eroberung von Räumen, durchleuchtet aber auch subkulturelle Mechanismen und Ausprägungen wie die “Proletarier-” oder “Hippieromantik”. Die akademische Ergänzungslektüre zu Lost and Sound.
Anja Schwanhäußer: Kosmonauten des Underground. Ethnografie einer Berliner Szene. Campus 2010. 333 Seiten, 34,90€.
Jan-Michael Kühn: Die Wirtschaft der Techno-Szene. Arbeiten in einer subkulturellen Ökonomie
Als langjähriger Betreiber des Blogs Berlin Mitte Institut und DJ aus der Techno-Szene der Stadt schreibt auch Jan-Michael Kühn in Die Wirtschaft der Techno-Szene. Arbeiten in einer subkulturellen Ökonomie als Teilnehmer und Ethnograf zugleich über die Community. Kühns Studie nimmt nicht unbedingt die tagtäglichen Abläufe hinter den Kulissen in den Blick. Sein soziologisch geschulter Blick auf wirtschaftliche Mechanismen und das bisweilen widersprüchliche Selbstverständnis der Clubkultur sowie die vielen Interviews ermöglichen aber eine kritische Auseinandersetzung mit Strukturen, die sich gerne vom Mainstream abgrenzen wollen und dennoch ihren eigenen kapitalistischen Logiken folgen.
Jan-Michael Kühn: Die Wirtschaft der Techno-Szene. Arbeiten in einer subkulturellen Ökonomie. Springer VS 2017. 306 Seiten, ab 39,99€.