Fotos: Charlotte Faucon und Florentin Glemarec
Als Resident des Pariser Clubs Concrete fing er an. Je bekannter der Club wurde, desto mehr kannte man auch ihn: Antigone. Mit seinem subtilen, aber unnachgiebigen Sound hat sich der Pariser genau zwischen harter und gefühlsbetonter Fraktion im aktuellen Techno etabliert. Acht Jahre nach seinem ersten Release hat er sein Debütalbum Rising auf Token veröffentlicht. Cristina Plett sprach mit ihm im Vorfeld seiner Releaseparty im Concrete.
Als Antonin Jeanson sich in seiner Dachgeschosswohnung im 10. Pariser Arrondissement zum Skype-Interview setzt, ist der Himmel noch hell über Paris. Er trägt den senfgelben Pulli von seinem Pressefoto. Links und rechts seines dunklen Barts blitzen silberne Ohrringe hervor. Es sind die Tage kurz vor Weihnachten, später am Abend ist der als Antigone bekannte Jeanson mit seiner Crew vom Concrete zum alljährlichen Weihnachtsessen verabredet. DJs wie François X oder Shlømo werden da sein. Concrete, das ist der Club auf einem Boot in der Seine, der vor rund acht Jahren die Pariser Technoszene aus dem verlängerten Winterschlaf rüttelte. Es war einer der ersten Orte in der französischen Hauptstadt, an dem Partys den ganzen Sonntag über gingen. Inzwischen hat es dort ein Standing, das Jeanson mit dem des Berghains in Berlin vergleicht. Zu dem Club ist inzwischen ein Label hinzugekommen, Woche für Woche spielen dort international bekannte DJs. Drei Tage nach dem Interview wird Jeanson dort die Releaseparty seines Debütalbums Rising, das vergangenen November auf Token erschienen ist, feiern.
Das Concrete, ein Stück Heimat
Vor dem Concrete, in den späten nuller Jahren, war die Pariser Szene „tot“, wie Jeanson es ausdrückt. Es gab nur den Rex Club und ansonsten Musik, die ihn persönlich nicht interessierte. Das änderte sich erst mit dem Concrete. „Sie veränderten die Mentalität“, sagt Jeanson; mit den Sonntagspartys, bei denen Tageslicht auf die Tanzfläche strömte, mit neuer Musik. Es spielten zum Beispiels DJs aus dem angesagten Berlin. Aus Jeansons Stimme hört man immer noch die Begeisterung und eine leichte Nostalgie, mit der er auf die frühen Tage zurückblickt. Denn das Concrete ist musikalisch und persönlich ein Stück Heimat für ihn: „Davor hatte ich keine Familie. Ich machte ganz alleine meine Musik. Dann öffnete sich eine Tür und ich hatte endlich so etwas wie eine kleine Familie“, erzählt er.
Antigone kam zum Club, als der gerade mal drei, vier Monate jung war. Hier begann nach einem Treffen mit dem Besitzer seine DJ-Karriere: „Ich kam Sonntagmorgen an und stand vor 600 Leuten. Ich hatte noch nie vor so vielen Leuten gespielt. Eigentlich hatte ich noch nie in einem Club gespielt, nur ab und zu in Bars.“ Doch nach zehn Minuten, erzählt Jeanson, wusste er, dass es das war, was er mit seinem Leben machen möchte: Auflegen. Er wurde Resident. In dem Maße, in dem der Club wuchs, wuchs Antigone mit. Dort lernte er Warmups zu spielen, eine Brücke zu den Künstler*innen nach ihm zu bauen, wie er sagt. Als die ersten internationalen Gigs kamen, merkte er, dass das nun etwas Anderes war: „Manchmal bist du der Haupt-Artist. Die Leute erwarten, dass du die Nacht auf ein höheres Level steigerst“, erzählt Jeanson, „es kann sein, dass du dein Set beendest und siehst, dass die Leute mehr erwartet hatten.“ Aber gerade den permanenten, nie abgeschlossenen Lernprozess findet er am Auflegen toll: „Du musst aus deinen Fehlern lernen, das ist wirklich cool.“
Eine wichtige Patentante
Der Lernprozess in Sachen elektronische Musik begann schon in Antonin Jeansons Kindheit. 1998, im Alter von acht Jahren, ging er mit seinem Bruder zur „Technoparade“, die in jenem Sommer zum ersten Mal stattfand. Seine Patentante spielte auf einem der Wägen. Sie war DJ und arbeitete in dem nicht mehr existierenden Pariser Plattenladen „bpm“. Die Technoparade war der entscheidende Moment, den jede*r Raver*in einmal gehabt hat: „Ich verliebte mich einfach. Ich hatte diese Musik noch nie gehört“, erinnert sich Jeanson. Seine Patentante gab ihm ein paar Platten, „alle Arten von Musik“. Später, als er mit zehn einen Plattenspieler hatte, brachte sie ihm jeden Monat eine mit, bis er sich irgendwann selber welche kaufte. Die Platten waren stilistisch breit gefächert und sein Geschmack noch nicht allzu ausgereift: „Ehrlich gesagt, ich glaube, ich habe auch viel Scheiße gekauft.“
DJ zu sein, das war für Antigone also schon ein Kindheitstraum. Dass er sich diesen Traum nun erfüllt hat, dass ihre musikalische Früherziehung etwas bewirkt hat – darauf muss seine Patentante doch nun mit Stolz blicken? „Wir hatten eine Art Streit und haben seitdem nicht mehr gesprochen“, sagt Jeanson, und es schwingt eine gewisse Traurigkeit in seiner Stimme mit. „Ich versuche schon lange, den Kontakt wiederherzustellen … aber ich habe von entfernten Freunden gehört, dass sie sehr stolz ist.“
Stream: Antigone – Duality Of Mind
Der Plattenladen blieb ein wichtiger Ort für Jeanson. Im Syncrophone lernte er den französischen Produzenten Zadig kennen. „Eines Tages kaufte ich eine Platte und meinte zu ihm: ‚Hey, kennst du diesen Künstler? Er ist Franzose!’ und er war so, ‚Ja, das bin ich’“. Jeanson schickte Zadig ein paar Tracks rüber. „Forbidden Works“ wurde 2011 das zweite Release auf Zadigs Label Construct Reform, zwei langsame Technotracks mit rollendem, schwermütigen Bass. Sie waren in einer für Jeanson dunklen Zeit entstanden. Mit 21 hatte er ein Jahr lang eine schwere Depression: „Ich konnte mein Zimmer nicht verlassen. Ich machte nur Musik. Es war vielleicht die schwerste Zeit, die ich je gehabt habe, aber auch die großartigste. Ich verlor mich in der Musik und sie half mir dabei, gesund zu werden“, sagt er, während durch das Fenster hinter ihm die Dämmerung über die Pariser Schornsteine hereinbricht. In diesem Jahr hatte er gelernt zu produzieren. So konnte er parallel zu seiner Residency weiter EPs veröffentlichen – auf Concrete Music, Indigo Aera oder Children of Tomorrow. Bis er in Token sein aktuell festes Label fand.
Kreativ durch Verletzung und Stress
Jeanson hatte also Erfahrung und entwickelte sich produktionstechnisch stetig weiter, so kamen zum Computer nach und nach analoge Synthesizer hinzu. Dennoch dauerte es ein wenig bis zum Debütalbum. „Ich bin die Art von Person, die alles immer auf den letzten Drücker fertig macht“, gibt Jeanson zu. Ohne die Deadline, die ihm Token-Labelhead Kr!z letztendlich setzte, ging es nicht. Er brauche den Stress, um die musikalischen Ideen wirklich aus sich herauszuholen, sagt er: „Wie mit der Depression, es ist der gleiche Prozess. Ich muss sozusagen verletzt sein. Das hilft mir, meinen Ideen auf den Grund zu gehen“. Schwer vorstellbar, diese dunkle Obsessivität, so fröhlich und aufgeschlossen wie Antonin Jeanson da gerade vor der Webcam sitzt. Aber er bezeichnet sich selbst als melancholischen Typ. Davon erzählt auch seine Musik.
Rising ist voll melancholischer und mysteriöser Stimmungen. Streicher, Bleeps und gummiartige Kickdrums, die laut Jeanson teilweise aus mehreren Schichten bestehen, schaffen eine neblige Atmosphäre. Anders als bei seinen ballernden DJ-Sets ist hier kaum ein Track dabei, dessen Kick-Snare-Kombination stampft. Eher bauen Ambient und detroitiger, immer ein Stückchen zurückgenommener Techno aufeinander auf, um dann wieder abzuschwellen. Dieser Aufbau ist für das Album als Einheit entscheidend, war Jeansons Ansatz doch vor allem, vieles unter einen Hut zu bringen: „Ich wollte ein großes Bild all der Musik, die ich mag und die mich repräsentiert“, erklärt er. Die opulenten, orchestralen Teile seien zum Beispiel darauf zurückzuführen, dass er ein großer Fan des zeitgenössischen Komponisten Arvo Pärt ist. Pärt ist vor allem für religiöse Musik bekannt. In der allgemeinen, minimalen Zurückhaltung hört man den Einfluss Richie Hawtins; Jeanson schickt durch den Skype-Chat einen Link zu der Mix-CD, die ihn entscheidend geprägt hat: DE-9 | Closer To The Edit. „Wenn ich heute so klinge, dann liegt es an dieser CD“, so Jeanson. Er besitze nahezu alle Platten, die darin vorkommen; als Teenager versuchte er mehrmals, den Mix nachzuahmen.
„Ich bin kein Selector”
Den Einfluss hört man heute noch. Nicht nur auf seinem Album, sondern vor allem in der Art und Weise, wie er mixt. Ähnlich wie Richie Hawtin auf jener CD über 100 Tracks auseinander nahm und übereinander schichtete, sind für Jeanson die einzelnen Stücke lediglich Bestandteile eines größeren Layerings. Dabei kann einer für den Rhythmus und ein anderer für die Melodie zuständig sein – eine sehr funktionale Herangehensweise, die einem gewissen Mangel entspringt: „Ich bin kein Selector, ich bin ein technischer DJ. Als Selector musst du die richtig guten Tracks haben“, sagt er. Zwischen den einzelnen Tracks bleiben ihm im Schnitt 30 Sekunden Zeit, sagt er. Für den Fall, dass ihm in dieser halben Minute keine Ideen kommen, hat er eine Notfallplaylist namens „1, 2, 3“: „Es ist eine Playlist mit so fünf Tracks hintereinander, die ich benutze, wenn ich mich ein bisschen verirre“, erklärt er. Sie werde nicht oft benutzt, aber es sei ein angenehmer Backup. Gerade bei All-Night-Long-Sets, wie er gerade eines für den folgenden Abend im Belgrader „Drugstore“ vorbereitet. Dort hat er inzwischen eine zweite Residency.
In seiner eigentlichen Base, dem Concrete, spielt er heute seltener. Genauso wie er haben sich der Club („Früher war es ein totales Chaos, es gab nicht so viel Security“) und seine Crew weiterentwickelt: Von den Disruptiven, die der Pariser Clubszene neues Leben injiziert haben, ist die Concrete-Crew auf einen etablierteren Posten vorgerückt. Um sie herum sind inzwischen neue Partyreihen und Veranstaltungsorte wie das „Péripate“ am Rande von Paris entstanden. „Erstmal haben wir unseren Teil getan. Es ist Zeit, den anderen auch ihre Chance zu geben“, sagt er. Eine angenehme Position. Vielleicht hat Antonin Jeanson darauf ja noch beim Weihnachtsessen mit der Concrete-Familie angestoßen. Noch sitzt er allerdings alleine in seiner Wohnung. Draußen ist es vollständig dunkel geworden.