Es ist kein Geheimnis, dass die Sympathien dieser Kolumne bevorzugt jungen Künstlerinnen, Künstlern und Labels gelten, die noch am Anfang ihres Weges stehen – dann, wenn noch nicht klar ist, ob aus dem eingeschlagenen Pfad so etwas wie eine Karriere werden kann oder nicht. Was selbstverständlich nicht bedeutet, dass hier neue und vielleicht sogar unerwartete Volten etablierter Größen verschwiegen werden sollen. So ist zum Beispiel der Amerikaner Keith Kenniff mit seinem Solopiano-Alias Goldmund seit Mitte der Nullerjahre ein entscheidender Akteur in der Popularisierung von Neoklassik und verwandten Spielarten der von elektronischen Produktionsweisen beeinflussten instrumentalen Popmusik. Kenniffs Pseudonym Helios stand bisher immer für klassische Indie-Electronica im Songformat, die er als Helios so entscheidend mitdefiniert hat. Sein sechstes Album unter dem Alias verzichtet allerdings fast vollständig auf die handelsüblichen Ingredienzien, vor allem auf sein Signatur-Instrument das Klavier, aber auch auf Schlagzeug, Akustikgitarre und Songstrukturen. Stattdessen beschränkt sich Veriditas (Ghostly International) auf warme Synthesizerflächen von lockerer Bauart. Dieser Verzicht sorgt erstmal dafür, dass das Album wirklich komplett ohne Nostalgie und Kitsch auskommt, was Kenniff bislang nicht immer restlos gelang, und dass die simple und tiefe Schönheit seiner Stücke sich endlich frei und ungebunden zeigen darf.


Stream: Helios – Seeming

Für einen wie Hans-Joachim Roedelius, der seit knapp 50 Jahren (!) Musik macht gehört das wiederholende sich-neu-erfinden quasi zum Alltagsgeschäft. Von den Krautrock- und Ambientjahren mit Cluster, Harmonia und Brian Eno hat er es bis heute geschafft mit einem sehr persönlichen, immer erkennbaren Sound frisch zu bleiben. Einer dieser Jungbrunnen ist Sein Duo Mueller_Roedelius mit dem eine Generation jüngeren Christoph Müller, der mit dem elektrifizierten Tango vom Gotan Project bekannt wurde. Zusammen machen sie harmonische Electronica mit leicht experimentellen, milde verfrickelten Beats. Ihr zweites Album ist da keine Ausnahme. Auch Imagori II (Grönland, VÖ 5. Oktober) zeichnet sich dadurch aus, dass Roedelius‘ Signatur-Instrument, das Klavier, tendenziell in den Hintergrund tritt und einem elektronischen Klangbild den Vortritt gewährt. Ein weiteres klassisches Electronica-Album dieser Saison kommt vom verhältnismäßigen Jungspund Jan Roth aus Leipzig. Als gelernter Jazz-Schlagzeuger rüstet er die akustische Electronica seines zweiten Albums Kleinod (Sinnbus) gekonnt mit Jazz-inspiriertem Songwriting und einer genretypischen Instrumentierung mit Bläsern auf. Dazu passend gibt es nun endlich ein Reissue der Proto-Electronica Intaglio (Studio Mule) des Japaners Motohiko Hamase. Das Album von 1986 formte Jazz und Ambient zu subtil variierten Loops und Schleifen und kommt damit dem erstaunlich nahe, was an Electronica aus den Neunziger- und Nullerjahren bis heute als „klassisch“ gilt.


Video: Steve Hauschildt – Saccade (feat. Julianna Barwick)

Vor etwa einer Dekade war der krautige Lo-Fi-Sound der Emeralds aus dem US-amerikanischen Nordwesten ein unüberhörbarer Vorbote des gegenwärtigen Modularsynthesizer-Hypes und nicht unwesentlich daran beteiligt, dass der vorherrschende saubere und poppig oder folkig reduzierte Sound der damaligen Electronica verpeilter, dunkler und krautrockig psychedelischer wurde. Von der Macht des eigenen Erfolgs überrumpelt löste sich das Trio vor fünf Jahren auf. Alle Beteiligten sind seither ungebremst solo aktiv. Von den dreien hat sich Steve Hauschildt wohl am stärksten vom alten Bandsound entfernt. Auf seinem überaus ausgeruhten und gut abgehangenen fünften Soloalbum Dissolvi (Ghostly International) hat Hauschildt die letzten Spuren von Lo-Fi-Ästhetik und psychedelischen Schmutzpartikeln weggeputzt und mal ordentlich Luft und Licht hereingelassen, obwohl – oder gerade weil – das Album in einem fensterlosen bunkerartigen Studio in New York aufgenommen wurde. In den strahlenden warmen und aufgeräumten instrumentalen Ambientsound des Albums schwirren neben den Stimmen von Julianne Barwick und GABI nun feines Acid-Zwitschern und Bässe à la Larry Heard und sanfte gerade Beats. Eine subtile Hommage an die House Music von Chicago, der Stadt in der Hauschildt seit kurzem lebt?

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