Woche für Woche füllen sich die Crates mit neuen Platten. Da die Übersicht behalten zu wollen, wird zum Fulltime-Job. Ein Glück, dass unser Fulltime-Job die Musik ist. Jeden Monat stellt die Groove-Redaktion zur Halbzeit fünf ganz besondere Alben vor, die es unserer Meinung nach wert sind, gehört zu werden. Dieses Mal mit Afrodeutsche, HVL, Jon Hassell, Martyn und Tresque – ganz neutral in alphabetischer Reihenfolge.
5. Afrodeutsche – Break Before Make (Skam)
Afrodeutsche liebt die Lücke. Bereits in ihrem Pseudonym spart sie sich das letztentscheidende Dingwort. Afrodeutsche what? Henrietta Smith-Rolla aus Manchester produziert Electro, sagenumwobenen Electro Detroitscher Prägung. Auch diesen erzählt sie, indem Afrodeutsche vor allem weglässt, bestenfalls andeutet. „Guess What“ mäandert in stoischer Aufmerksamkeit, wie die Meditation über einen Bachlauf: ein Synth, eine Bassline, eine Drum Machine. Poff. Dann wieder gibt es Stücke wie „Filandank“ und „Work It“. Die können was auf dem Dancefloor.
Gerade weil sie den Beat nicht zwingen, sondern aus Laidbackness heraus- und herumschmooven. Ein Zustand des Wachträumens verbindet all die Stücke miteinander. Sowas bringt dann Deals mit Skam sowie dem Management von Aphex Twin. Vor allem aber hat Afrodeutsche mit Break Before Make eines der interessantesten Alben elektronischer Musik der letzten Zeit hingekriegt. (Christoph Braun)
4. HVL – Ostati (Organic Analogue)
Heutzutage ist der Two-Step-Electro-Beat mit nostalgischem Rückblick auf Künstler wie Drexciya gefragter denn je. Neben einer Helena Hauff bemühen sich junge Künstler wie Skee Mask, den alten Sound mit neuen atmosphärischen Klangbildern und Lo-Fi-artigen Elementen zu wiederzuerwecken. Auch der Gigi Jikia alias HVL hat sich dem Trend angeschlossen – und zwar mit Bravour.
Jikia, der in den Jahren 2009 und 2010 mit der Band Okinawa Lifestyle noch ambientem Synthie Pop nachgeging, widmete sich ab 2013 als Solo-Künstler deepen Slow-House im Broken-Beat-Stil, den er unter anderem auf Rough House Rosie veröffentlichte. In Georgien beteiligte sich der Bassiani-Resident 2015 an einer Mini-Compilation des clubeigenen Labels mit einem Track auf der A-Seite, der gebrochene Beats mit Big-Room-Atmosphäre und acidlastiger Klangsynthese zusammenbrachte. Ein Vorzeichen dafür, womit HVLs erstes Release auf Organic Analogue, die EP Away From Everything We Know aufwarten sollte.
Jikias zweites Release für das britische Imprint ist sein Debütalbum Ostati. Die gebrochenen Rhythmen weichen tanzbarem Two-Step-Electro, dazu gesellen sich Jungle-Elemente im Lo-Fi-Stil à la Skee Mask bestückt, hin und wieder blitzt Acid House im Four-to-the-Floor-Format auf. Ostati übernimmt das Klangbild von Away From Everything We Know, bleibt aber der Geschwindigkeit des Bassiani-Releases treu und verfeinert HVLs dezente Stilkorrektur der letzten 3 Jahre. (Felix Linke)
3. Jon Hassell – Listening To Pictures (Pentimento Volume One) (Ndeya)
Es ist gut und richtig, dass die außergewöhnliche Musik Jon Hassells in den vergangenen Jahren von einer neuen Produzentengeneration und Hörerschaft entdeckt wurde. Der inzwischen 80-jährige Trompetenspieler und Komponist hat unter Karlheinz Stockhausen in Köln studiert, spielte bei der Originalaufnahme von Terry Rileys In C mit und war Teil von La Monte Youngs Dream House-Ensemble.
Bekannt wurde er aber vor allem durch seine von ihm “Fourth World” genannte Musik: eine Kombination globaler Musikstile mit neuen elektronischen Techniken, die er auf Alben wie Aka / Darbari / Java – Magic Realism (1983) präsentierte. Nachdem unter anderem Optimo im letzten Jahr mit ihrer Compilation Miracle Steps: Music From The Fourth World 1983-2017 dem Werk Hassells Respekt zollten, gibt es nun nach neun Jahren wieder ein neues Album von ihm, das gleichzeitig auch die erste Veröffentlichung auf seinem eigenen neuen Labels Ndeya markiert.
Listening To Pictures (Pentimento Volume One) das zeigt, dass Hassells Musik nichts von seiner außerweltlichen, bizarren Schönheit verloren hat: Kaum nachvollziehbare Rhythmen halten nur lose ein äußerst vielschichtig klingendes musikalisches Spektrum an Jazz, Ambient und filigranen Percussions zusammen, das fremd und vertraut gleichzeitig klingt. Wo kommt diese Musik her? Und wohin führt sie uns? Das Nichtverortbare macht diese Musik auch und vor allem in dieser Zeit so wertvoll. (Thilo Schneider)
2. Martyn – Voids (Ostgut Ton)
Auf Voids geht es um Leben und Tod. Im letzten Sommer erlitt der niederländische Musiker und DJ Martijn Deijkers alias Martyn einen Herzinfarkt, den er nur knapp überlebte. Kurz zuvor starb sein Förderer und Freund, der britische DJ und Musiker Marcus Kaye (alias Marcus Intalex und Trevino).
Die neun Stücke des neuen, vierten Albums, von Martyn sind das Resultat der Auseinandersetzung mit diesen Ereignissen. Sie führten auch zu einer musikalischen Neuverortung. Stilistisch bewegt sich Martyn wieder zwischen den Stilwelten Techno, Drum’n’Bass und Post-Dubstep. Neu ist dabei die Konzentration auf den Kern der Tracks, die vielschichtige Polyrhytmik, gepaart mit warmen Flächen – zu hören etwa auf „Why“, das von indischen Tablaspiel inspiriert wurde. Andernorts bezieht er sich auf südafrikanische Gqom-Rhythmen. Auf „Manchester“ ertönt immer wieder ein Vocal-Sample („Deep deep talent, we’ve lost a big one“) zu einem Breakbeat und sehnsuchtsvollen Harmonien, die an Detroit Techno-Klassiker erinnern. Es ist Martyns Erinnerung an Marcus Intalex und dessen Heimatstadt. Ein intensives, vielschichtiges und berührendes Album. (Heiko Hoffmann)
1. Tresque – Vai e Vem (Care Of Editions)
Techno wird dieser Tage immer schneller, selbst Gabber feiert ein Comeback. Da ist der ebenso dezente wie trockene Ansatz von Tresque als Alternative zum monochromen Highspeed-Lowlife umso willkommener. Nach einer LP für Mondkopfs In Paradisum-Label sowie einer EP auf -ous im Umfeld von Dancefloor-Zerhäckslern wie Senking und NHK yx Koyxen gibt sich das Zweitwerk von Laurent Peter auf dem Berliner Imprint Care Of Editions wie ein Thomas Brinkmann-Rework des Chain Reaction-Backkatalogs auf -8.
Keines der mit subtilen Dub-Effekten und versetzten Rhythmen gespickten Tracks pegelt sich unterhalb der Neuneinhalbminutengrenze ein, erzählerische Kniffe gibt es hier ebenso wenig zu hören. Bei Tresque ist der Weg das Ziel – und das Ziel lautet Entgrenzung. Wenn aber doch einmal, wie auf dem zweiten Track “Cikade”, eine Kickdrum unter dem Sounddickicht die BPM-Anzahl in die Höhe treibt, dann hat selbst noch wunderbar meditative Effekte. Vai e Vem (zu Deutsch: “Komm und geh”) ist eine kuriose Platte, die zwischen White Cube und Big Room ebenso zu vermitteln scheint wie zwischen den Dub-Interpretationen der frühen Modern Love-Schule und Minimal Techno, wie er eigentlich mal hätte sein sollen und können. (Kristoffer Cornils)