Sarah, du hast nach der Giegling-Sache einen schönen Post zu dem Thema gemacht: „Let’s be conscious, identify and name the problems. Have a respectful and loving dialogue at eyelevel, act and make change happen together now.“ Du hast das unter dem Hashtag #scapegoating gepostet. Kannst du das erklären?
SARAH: Dass über diese Giegling-Sache gesprochen wurde, ist toll. Wir brauchen diese Diskussion. Trotzdem fand ich es nicht gut, wie einige Festivals sofort auf den Zug aufgesprungen sind, Konstantin aus dem Line-up gekickt haben und sich damit total cool fühlten. Natürlich sollten sie ihn vom Line-up kicken, das war richtig. Dennoch sollte man sich auch mal an die eigene Nase fassen und reflektieren: Jetzt hast du stattdessen eine Frau gebucht und denkst, du bist der Größte. Und nächstes Jahr geht alles weiter wie bisher.
TBM: Diese symbolischen Schritte ersetzen nicht die strukturelle Arbeit. Das wird dann tatsächlich zum scapegoating.
SARAH: Mit dem Finger auf andere zu zeigen und einen Kommentar zu schreiben reicht nicht.
TBM: Was hast du außerdem getan? Dafür kann man keinen Applaus erwarten.
MICHAIL: Wenn man jemanden in die öffentliche Diskussion bringt, muss man den Kontext mitliefern, warum man diese Entscheidung getroffen hat. Das ist ein ziemlicher Schritt, den sollte man nicht leichtfertig machen. Und wie Marea [The Black Madonna] sagt: „Wenn du falsch liegst, sei bereit, die Konsequenzen zu tragen.“ Wer seine Klappe aufreißt, muss auch schlucken können. Auch wenn das bitter ist.
Auf dem Melt wurde Konstantin zum Beispiel vom Lineup geworfen. Beim Nachtdigital im August spielte er zusammen mit der Giegling-Crew. Online äußerten viele ihren Unmut, aber vor Ort auf dem Festival protestierte das Publikum in keiner Weise. Was für eine Wirkung hat der Aktivismus im Netz auf das reale Nachtleben?
TBM: Eine sehr geringe Wirkung.
MICHAIL: Online-Aktivismus ist eine Bubble, so wie viele andere Formen von Aktivismus, die zurzeit im Netz stattfinden. Das persönliche Gespräch ist wichtig. Ebenso wie die Aufmerksamkeit auf die Strukturen zu richten und positive Beispiele zu geben, wie die elektronische Musikszene eine echte Community sein kann, die auch Arbeit jenseits eines selbstreferenziellen Hedonismus leistet. Das ist stärker ausgeprägt bei der Soundsystem Culture und in der Bass Music. Auch weil weniger Geld im Spiel ist.
SARAH: Und die Szene ist auch kleiner.
MICHAIL: Und die Art, sich zu begegnen, ist eine andere. In der elektronischen Musik ist der Community-Gedanke im Lauf der Jahre verloren gegangen. Community bedeutet mehr, als sich über bestimmte ästhetische Entscheidungen zu definieren. Es bedeutet, für einander da zu sein, für einander zu sorgen, sich gegenseitig zu erziehen und positive Strukturen zu schaffen. Das ist die Verantwortung der Multiplikatoren und Gatekeeper, diese strukturellen Diskussionen zu führen, nachdem der Tweet-Shitstorm vorbei ist. Darin liegt der Unterschied zwischen Callout-Culture und politischer Arbeit.
TBM: Als die Giegling-Sache passiert ist, habe ich gesagt: Beruhigt euch und lasst uns nicht so tun, als gäbe es echte politische Folgen, weil jemand etwas Abwertendes über Frauen gesagt hat! In der Kultur gibt es immer noch ein Niveau von Chauvinismus, das die Menschen als ganz natürlich empfinden. Ten Walls wurde viel ernster genommen. Er wurde von vielen Sachen entfernt. Ein Grundniveau von Misogynie wird nach wie vor akzeptiert und es wird von Frauen erwartet, das hinzunehmen. Jenseits der wenigen Leute, die für dieses Thema sensibilisiert sind, ist genau das passiert.
Welche Veränderung in der Szene könnte eine nachhaltige Wirkung haben?
TBM: Wenn es um Frauen in der Dance-Szene geht, reicht es nicht, sie auf die Line-ups zu setzen. Unsere Sicherheit muss gewährleistet sein, wir müssen geschützt sein vor jeder Form von Belästigung, es muss uns gestattet sein, alt zu werden. Wir müssen eine Kultur erschaffen, die weibliche Genies und weibliche Meisterschaft anerkennt und wertschätzt. Maestro oder Godfather sind eindeutig gegenderte Begriffe. Es gibt keine Godmother. Es gibt die Diva mit all ihren negativen Konnotationen. Wir haben noch nicht mal angefangen, uns eine Szene mit Frauen jenseits der Ingénue [der jungen, unschuldigen, naiven Frau; Anm. d. Red.] vorzustellen. Das ist komplizierter, als Prozentzahlen auszurechnen. Diese Dinge sind unsere Glasdecke. Als jemand, der schon lange darauf eindrischt, ist mir bewusst, dass es Scherben geben wird. Die Leute richten ihre Wut auf Konstantin. Ich kenne aber viele Frauen, die letzten Endes darunter zu leiden hatten. Frauen, die dafür bestraft wurden, dass sie ihre Meinung gesagt oder Fragen zu Line-ups stellten. Meine Sorge ist, dass wir auf Empörung abfahren, aber nicht zu einer Störung der Verhältnisse bereit sind.