Text: Daniel Fersch | zur Übersicht der 50 besten elektronischen Alben
Erstmals erschienen in Groove 145 (November/Dezember 2013)
Es sind die Stimmen, die dieses Album so außergewöhnlich machen, nicht das weiße Markenzeichen-Rauschen aus Regen-, Film- und Videospielgeräuschen im Hintergrund oder die nicht-quantisierten Drums, die sogar Digital-DJs beim Angleichen der Beats verzweifeln lassen. In den wenigen Interviews, die der große Unbekannte aus London bisher gab, betonte Burial mehrfach seine Liebe zu den Gesangsparts alter Jungle- und UK-Garage-Hymnen und dem Klang der „Diven aus der Nachbarschaft“, die auf ihnen zu hören waren. Diese Gesänge wehen als Echos durch Untrue. Manchmal sind es nur wortlose Töne, die gedehnt und verzerrt zu Melodien mutieren, an anderen Stellen sampelt Burial Teile von Refrains oder Strophen.
Gemeinsam ist den Stimmen, dass sie sich nicht eindeutig einem Geschlecht zuordnen lassen. Durch die Manipulation von Tempo und Tonhöhe löst Burial die Stimmen von den Körpern ab; sie schweben wie androgyne Geister durch die Stücke und singen Lieder der Sehnsucht. Ein Paradebeispiel dafür ist das Stück „Archangel“, das nicht von ungefähr stark an Roy Davis Jr. und dessen Ode an „Gabriel“, den „Erzengel der Liebe“ erinnert. Burials Engel ist der R&B-Sänger Ray J, der „Tell me I belong!“ fleht und dessen hohe Tenor-Stimme nach der Bearbeitung durch Burial verblüffender Weise weiblicher klingt, obwohl der Produzent die Tonlage senkte.
Es gibt viele solcher Überraschungsmomente auf Untrue, das die melancholische Grundstimmung des ersten Burial-Albums aufgreift, dessen Gefühlspalette und musikalischen Ausdrucksmittel aber stark erweitert. An vielen Stellen ist man einfach nur sprachlos und fragt sich: „Wo kommen bloß diese Klänge her?“ Man kann Burial eigentlich für seine Zurückgezogenheit nur dankbar sein. Denn welchen Nutzen hätte es etwa, zu wissen, welches Turnschuh-Modell Will Bevan (so Burials bürgerlicher Name) aus dem Süden Londons am liebsten trägt? Es würde wahrscheinlich nur von dem grandiosen Film ablenken, den seine Musik im Kopf erzeugt.
Stream: Burial – Archangel