Jeden Tag werden DJ-Mixe ins Netz geladen. Manche sind besser, manche sind schlechter und nur wenige werden uns jahrelang begleiten. Jeden Monat sucht das Groove-Team die fünf besten des vorangegangenen Monats aus, präsentiert in alphabetischer Reihenfolge. Den Anfang machen im Juni 2017 Heiko M/S/Os letzte Verbeugung vor dem Dorian Grey-Sound, Inga Mauers Erzählerqualitäten bei Dekmantel, Izabels ungewöhnlich tanzbarer Roof.FM-Mix, ein multistilistisches Set von Joe Goddard und Nick Höppners Gang durch die Welt des Reggae für NTS. Und wer danach noch nicht genug hat, schaut einfach mal beim Groove-Podcast vorbei.
5. Heiko M/S/O – The Myth Of Dorian Grey
Ach, wie soll man darüber schreiben, ohne emotional zu werden? Nachdem Heiko M/S/O in diesem Jahr eine überraschende Krebsdiagnose erhalten hatte, nahm er in den letzten Wochen vor seinem Tod noch zwölf DJ-Sets auf, die er für jeden zugänglich machen wollte. Es sind – das wird schon bei diesem ersten Mix deutlich, nicht einfach nur irgendwelche Sets geworden, sondern eine thematisch geordnete musikalische Enzyklopädie seines Lebens. Der Frankfurter DJ, Producer und Betreiber der für viele Jahre so ungeheuer wichtigen Labels Playhouse, Klang Elektronik und Ongaku nimmt sich hier also den Sound der ehemaligen Flughafendiskothek Dorian Grey zur Brust – und zwar den Sound, der dort in den Jahren 1987 und 1988 gespielt wurde.
Der fünfeinhalbstündige Mix ist in fünf Parts gegliedert und beginnt mit 80er Pop Songs wie Caroline Loebs “C’est La Ouate”, The Cures “Lullaby” oder Depeche Modes “Never Let Me Down” im Aggro-Mix, viele eiskalte Synth-Pop Klassiker wie obskure Tracks sind zu hören – interessanterweise sind diese auch, wie es damals halt noch üblich war, nicht wirklich gemixt, sondern nur sanft ineinander geblendet. Ab dem zweiten Teil wird es deutlich elektronischer und Heiko M/S/O setzt den Fokus zunehmend auf EBM- und New Beat Klassiker von The Klinik, Weathermen, Chris & Cosey, Front 242, Section 25, Nitzer Ebb oder Frankfurter Eigengewächse wie 16 Bit, die damals in den Prä-Techno-Zeit in Hessen populär waren. Verdammt viel gute Musik ist hier zu hören, es ist ein amtliches Zeugnis dieser spannenden Zeit kurz vor dem Szene-Urknall – man kann sich da nur auf die noch folgenden Mixes von Heiko freuen. (Thilo Schneider)
Alle fünf Mixe sowie einen weiteren könnt ihr auf Heiko M/S/Os Homepage hören. Lest hier Roman Flügels Nachruf auf den jahrelangen Wegbegleiter.
4. Inga Mauer – Dekmantel Podcast 126
Inga Mauer hat ihre Karriere im Radio begonnen und in gewisser Weise spiegelt sich dieser Hintergrund selbst in ihren Floor-freundlichsten Mixen wider. Ihr Podcast-Beitrag für die Geschmacksbastion Dekmantel nimmt einen fast hörspielähnlichen Anlauf, bevor es langsam in trancigen Pathos-Techno übergeht, dem sie mit verhuschten, polyglotten Vocals eine unheimliche Komponente injiziert.
Was Mauers Mixing so überwältigend scheinen lässt ist weniger ihr Timing als vielmehr ihre Ausdauer – sie denkt einen Mix als Erzählung und nicht als Summe seiner Teile. So findet russischer New Wave dann doch endlich den gemeinsamen Nenner mit steppenden Bigroom-Tools und Proto-Gangsta-Rap. Wer hätte es geahnt? (Kristoffer Cornils)
3. Izabel (Lullabies for Insomniacs) – ROOF.FM – Nr 84
Anders als man es von Izabel Caligiore kennt, ist dieser Mix für die Mixserie Roof.FM sehr tanzbar. Die Betreiberin des Labels Lullabies for Insomniacs, das die gebürtige Australierin betreibt, ist eigentlich bekannt dafür, musikalische Schätze ans Tageslicht zu bringen, welche man der experimentellen Ecke zuordnet. Seit Izabel in Amsterdam lebt gehört sie zum engeren Kreis um den Plattenladen Red Light Records und hostet regelmäßige Radioshows bei Amsterdams Red Light Radio.
Izabels Mix ist ein auf und ab zwischen schweren Synthesizern und verspielten Tracks voller Perkussionselemente. Trotz diversen Einflüssen zeigt sich ein klarer roter Faden von Anfang bis ende und widerspiegelt Izabels breit gefächerten Musikgeschmack. (Dominik André)
2. Joe Goddard – Solid Steel 23/06/17
Kommt auch nicht alle Tage vor: In den Mixcloud-Charts tauchte Joe Goddards Mix für Solid Steel vom 23. Juni sowohl in den Jungle-, Grime-, Reggae-, als auch in den Techno-Charts auf. Der Mix erschien anlässlich der Veröffentlichung des neuen Solo-Albums Electric Lines des Hot Chip- und 2-Bears-Mitglieds. „Die Hitzewelle in London brachte mich dazu, druckvollere und schnellere Musik zu spielen, als ich es normaler Weise tue – also habe ich diesen Mix aus altem und neuen Garage, Reggae, Techno und Jungle zusammengetan, der mich an Pirate Radio und Sommer in der Stadt erinnert.“
Tatsächlich weckt der Mix Erinnerungen an englische Piratensendern und Notting Hill Carnival – er fängt mit einem alten UK-Garage-Remix von Zed Bias an, hört mit einem Reggae-Klassiker von Derrick Harriott auf und ist zu weiten Teilen eine Klangreise durch das britische Hardcore Continuum. Doch was diesen eine Stunde dauernden und 20 Tracks umfassenden Mix so besonders macht ist, das er noch mehr ist: Bjarkis Techno-Stomper „I Wanna Go Bang“ etwa folgt auf einen Bass-Track von Champion und Jay Zs-Hit „Nigga What Nigga Who“ trennt nur ein Stück von Marcel Dettmanns „Bad Boy“ – und das von einem DJ, der berüchtigt dafür ist, eines der schlechtesten DJ-Sets der Berghain/Panorama Bar-Geschichte abgeliefert zu haben. (Heiko Hoffmann)
1. Nick Höppner – NTS Radio 20th June 2017
Der Juni war für Nick Höppner ein besonders umtriebiger Monat: Neben seiner zweiten Solo-LP Work für Ostgut Ton veröffentlichte der Panorama-Bar-Resident im Zuge seiner NTS-Radio-Residency insgesamt vier zweistündige Mixe. Das Schöne an den einzelnen Episoden ist, dass sie sowohl eine persönliche Geschichte erzählen als auch Einblicke in den vielseitigen Geschmack des Musikliebhabers gewähren – sei es der Ambient-Mix mit entdeckungswürdigen Perlen aus den Bereichen Drone und Soundtracks oder die House-Zusammenstellung inklusive einem Deutschrock-Song von Karat.
Mein Highlight ist aber sein (erstes) Reggae-Mixtape, das zudem ein Fingerzeig an Höppners Hamburger Zeit Anfang der Neunziger darstellt. Nach eigener Aussage hat der Mittvierziger erst kürzlich begonnen, diese Musik zu sammeln und verewigt hier weit mehr als nur Genre-Klassiker von Horace Andy oder Lee ‘Scratch’ Perry. Summer vibes right here! (Sebastian Weiß)