burger
burger
burger

September 2023: Die einschlägigen Compilations

AE-MJ-001.2 COMP.VOL 2 (Amniote Editions x Mala Junta) 

Mit The Collective Capsule präsentiert das von Mama Snake und Tanya Akinola betriebene Label Amniote Editions mit dem Berliner Malta-Junta-Kollektiv eine Compilation mit neuen, progressiven Clubtracks. Zu finden sind Stücke von Prodzent:innen wie LDS, Vel, D.Tiffany, aber auch von den Mala-Junta-Resident-DJs wie D.Dan, DJ Tool, Hyperaktivist oder auch Yazzus.

So versammeln die Künstler:innen hier trendige Ansätze wie Progressive Trance, Psytrance, Breaks oder auch funktionalen, monotonen Hypo-Groove. Alles Stile, die man beim Besuch einer Mala-Junta-Party erleben kann. Denn inzwischen fächert sich deren Musikverständnis immer weiter auf. Da deutet sich auch Spielraum für experimentellere Genres an, wobei der Fokus hier noch weitgehend auf dancefloortauglichen Tracks liegt – und auf Erfolg.

 Durch Veröffentlichungen wie dieser erschafft sich Mala Junta einen immer größer werdenden Hörabdruck auf den Dancefloors der Welt. Dennoch hat es die Partyreihe geschafft, trotz einer gewissen Kommerzialisierung weiterhin vom Untergrund akzeptiert zu werden – bleibt nur zu hoffen, dass die Community sich selbst zu schützen weiß. Vincent Frisch

AIMCRVA001 (Mind Controlled Rectifier)  

AIMCRVA001 auf dem georgischen Label Mind Controlled Rectifier umfasst sage und schreibe 33 Stücke – zu jedem einzelnen Track wurde ein spezielles Artwork angefertigt. Der im Vergleich dazu spärliche Infotext lässt erahnen, dass nicht Dutzende Grafiker über die Entwürfe grübeln mussten, sondern dass hier eine KI im Einsatz war. So erschließt sich dann auch die Buchstabensuppe im Titel als, wie es in besagtem Info heißt, „Intersection of AI and MCR”, also so etwas wie „Schnittmenge von KI und Mind Controlled Rectifier”. 

Als genauso interessant wie das Konzept entpuppt sich auch eine große Anzahl der Songs. Stilistisch machen Electro- und verwandte Breakbeat-Stücke zwar etwa zwei Drittel aus, dennoch ist die Abwechslung groß. Der Mehrzahl der Tracks ist ein gutes Quantum Experimentierfreude gemeinsam, oder, um nicht allzu große Brötchen zu backen, eine unüberhörbare Freude an unkommerziellen Sounds und Arrangements. Es lohnt sich, AIMCRVA001 mit Kopfhörern zu hören. Viele Produktionen enthalten Details, die über Boomboxen und Laptopspeaker leicht verpasst werden können.

Und um die latente Überforderung, die einer solch umfangreichen Veröffentlichung innewohnt, nicht überhandnehmen zu lassen, hier die Reaktivierung eines musikjournalistischen Fossils – des Anspieltipps (natürlich im Plural): „Tasting Battery Acid“ von Terrestrial Access Network, Vulkanskis „Untitled”, „Ghosts In The Stream” von Zesknel und Gacha Bakradzes „Chatter”. Mathias Schaffhäuser

Denshi Ongaku No Bigaku –  電子音楽の美学 (The Aesthetics of Japanese Electronic Music) Vol.1&2 (Cosmocities) 

Wählen Sie nun Ihren Avatar: Das Cosmocities-Label diggt und stellt zusammen – mit der Volume 1: Technoides, Housiges, Ambientiges auf Japan, mit der Volume 2 eher so Boogie-Loungiges. Es macht Spaß zu spoilern, dass hier so gut wie alles wert zu hören ist. Denn trotz des sachlich-geografischen Topics klingt aus jedem Tönchen dieser Compilation eine kindliche Freude an Musik für die Tanzflure.

Beginnen wir aus reiner Willkür mit Volume 2. 909 State (der Name, Herzchen-Emoji!) entfaltet eine Gardine aus leuchtenden Gaze-Bahnen und lässt sie flatternd fliegen. The Backwoods arrangieren aus einer Jazz-Gitarre und einem House-Beat einen Loop, der irgendwo bestimmt die Unendlichkeit berührt. „Celebrate Your Life” von Seiji Ono ist ebenso jazz-inspiriert, macht daraus aber ein Boogie-Downbeat-Stück. Was heißt „Gem” nochmal auf Deutsch? Vielleicht ja „Neon Forrest” wie der Track von Jazztronik mit seinen Kalimba-Clustern. 

Und auch das Volume 1 hat es in sich. Kaoru Inoue leitet sie ein mit einem Aggregatzustand aus Tönen, der dem Fluiden am Nächsten ist, in seinen Bewegungen aus Percussion und diversen Keyboard-Flächen jedoch auch ganz eigene Muster erschafft. Die „Rainy Night In Shibuya” von Aquarium erzeugt dann höchste Neugierde, genau diese zu erleben. Crunchy und zur Ruhe bringend. Auch die nachfolgenden Stücke von Nachito Uchiyama und Keta Ra bleiben in dieser Stimmung – ach, belassen wir’s dabei. Es gibt etwas zu hören. Eine Entdeckung. Christoph Braun

fabric presents Helena Hauff (fabric) 

Es beginnt mit einem neuen, frisch auf fabric veröffentlichten Helena-Hauff-Track und endet mit einem altbekannten Klassiker aus ’99 von Autechre. Dazwischen ist Zeit, ja, angenehm viel davon. Siebzig Minuten. Die lang sein können. Die sich, wenn man’s falsch anstellt, schon auch anfühlen können wie eine halbe Ewigkeit. Zäh und ledrig, eben ohne Saft und ohne Ziel. Aber die Kuration von Hauff zerfaselt auch auf 19 mächtigen, von ihr ausgewählten Tracks nicht. Ja, der größte Hamburger Exportschlager seit Astra Pils schweift zwar aus, ja, kurz ist es auch viel, aber nein – Hauff schweift auf der Compilation des Londoner fabric-Labels dennoch nicht.

Denn da slammen Slam & Optic Nerve in den Anheizer von Clarence G, der so verspielt vor sich hinwackelt, dass man frohlocken muss. Der Bass zielt, feuert, die metallischen Drums ziehen nach. Ei, das passt. Und dann rappelt Helena. Weil Helena das im schunkeligen Pudel oder dem überdimensionalen Festival ach-so-gerne tut. Da wählt sie mal das Lysergsäurediethylamid-Ticket von Yarn Innit dafür, die erst auf ihrem Album Good Call gezeigt haben, wie die Vergangenheit in der Gegenwart zu klingen hat. 

Dann die schon feuchte E-Pille für die Ohren von Illektrolab. Die erst monoton wirken mag, aber eigentlich nur stabil ist. Und wer sich hier nun traut, sagt „runter damit” – und fährt gut damit. Obwohl bei der hohen Dosierung dann bald der eine Moment folgt, in dem alles kurz entgleitet. Selbst Hauff. Wo sie sich zu sehr aus dem Fenster lehnt, die Kacke selbst zu sehr am Dampfen ist. 

Zurück in den richtigen Film holt sie einen dann aber mit der guten, alten Electro-Radioaktivät. Der Strahlensatz des Briten Keith Tenniswood, seit dem Millennium Radioactive Man genannt, bringt wieder Ordnung ins Chaos. So hat die folgende letzte Sequenz wieder Struktur, die sich dann in Autechre auflöst. Und einen die gesamte Veröffentlichung noch einmal von vorne hören lässt. Andreas Cevatli

Kompakt 23 (Kompakt) 

Man könnte zu Total 23 aus Sicht des Chronisten trefflich darüber streiten, ob man die Zeit als Delirium Köln zur Labelgeschichte dazu zählen muss, oder ob die bereits im Januar 1998 veröffentlichte Köln Kompakt 1 CD eigentlich die Total 0-Edition ist. Aber ehrlich, für die musikalische Substanz ist das eher unerheblich. Da ist Total 23 tatsächlich und ganz gegenwärtig über alle Zweifel erhaben eine der großartigsten Editionen der beliebten Kölner Sommergeschichten. Und so beginnt der Reigen mit Michael Mayers „Talmi” gleich mit beiden Füßen im Ausnahmezustand. 

Die Kölner DJ-Ikone schafft in der Schnittmenge zwischen funky Disco, Detroit Trance und Bleep Techno mit traumwandlerischer Sicherheit einen jener seltenen Konsensmomente, aus denen Clubgeschichte geschrieben wird. Jürgen Paape nähert sich der Discokugel dann von hinten und nimmt das Tempo ein gutes Stück raus, vermag aber mit Cosmic Disco-betontem Ansatz bei „Iwanger” gleichsam zu überzeugen. Das Trio der „alten heißen Männer” komplett macht dann Jörg Burger. „Newtro: Cinematic Dance” öffnet die Modernisten-Welt ganz weit in Richtung Ibiza und gepflegtes Meeresrauschen ist doch immer gut für eine Sommerliebe, in die sich nach drei Minuten auch noch ein EBM-eskes Synthie-Ostinato und andere klangliche Eighties-Flirts einschleichen. 

Und so könnte man zu allen neun exklusiven Stücken der Total 23 ins Schwärmen geraten. Chloé Alexandra Raunet und Patrice Bäumel spurten mit einem sinnlichen Techdub-Hymnus in die Peaktime, Perel und Kourtesis schnuppern nach dem Break in Richtung UK-Pianorave der frühen Neunziger, während der Kölner Newcomer M.A.P.E. mit grandiosen Stringflächen einen dieser von uns allen so geliebten Hands-in-the-air-Momente setzt. Reinhard Voigt beschließt diese Weg weisende Compilation mit überraschend stoischem und gerade deshalb eben auch Kompakt-typischem Polkatechno, hier mit humoristischen Telefonvocals aus dem Erdinger-Universum („Endlich XXL”). In diesem Sinne: „Prösterchen” – meine Compilation des Jahres! Jochen Ditschler

The Beat by SPUN – Volume 1: West Coast Breakbeat Rave Electrofunk 1988-1994 (Above The Board)

Seit einigen Jahren nehmen Breakbeats und Rave-Sounds wieder einen festen Stellenwert in der elektronischen Tanzmusik ein. Während wir hierzulande häufig mit Abkömmlingen des UK-geprägten Hardcore Continuums zu tun haben, will diese Compilation ein Licht auf die frühen Strömungen an der amerikanischen Westküste werfen. Den Ursprung dessen sucht DJ Spun im Post-Disco-San-Francisco der späten Achtzigerjahre, dessen Clubszene damals auch einfach nur „The Beat” genannt wurde. 

Dort schmiedete sich eine Fusion aus Hip-Hop, Freestyle, New Wave, Boogie – und den ersten Auswüchsen von Techno, House und Rave. Dieser eklektische Mix nahm zusehends Einflüsse aus New York, Chicago, Detroit und Europa (allen voran natürlich dem UK) auf, behielt aber einen eigenen Charme und Charakter. Er zog junge, talentierte DJs an und kreierte so seine ganz eigene Rave-Szene. 

Obwohl die Major-Labels damals noch nichts mit dem Sound zu tun haben wollten, schafften es Independent-Labels, „The Beat” als Genre weiterzuentwickeln und auch global sichtbar zu machen. Während die acht Tracks dieser Compilation sogenannte „sure shots” (also Publikumslieblinge von damals) sind, geben sie doch einen extrem guten Eindruck, was zu dieser Zeit in San Francisco und an der breiteren Westküste der USA gespielt wurde. Sie machen den wilden Eklektizismus der oben genannten musikalischen Zutaten erfahrbar und transportieren die aufregende Stimmung der Anfangstage einer neuen Bewegung. Leopold Hutter

In diesem Text

Weiterlesen

Reviews

Motherboard: November 2024

In der aktuellen Nischen-Rundschau hören wir schwermetallgewichtigen Rock, reife Popsongs und Werner Herzogs Vermächtnis.

Lunchmeat 2024: Der Mehrwert liegt im Imperfekten

Auch in diesem Jahr zelebrierte das Lunchmeat die Symbiose aus Musik und Visuals bis zum Exzess. Wir waren in Prag mit dabei.

Motherboard: Oktober 2024

Unser Autor würde sich gern in Kammerpop legen – in der aktuellen Avantgarde-Rundschau hat er das sogar getan.

Waking Life 2024: Der Schlüssel zum erholsamen Durchdrehen

Das Waking Life ist eine Anomalie in der Festival-Landschaft, was programmatischen Anspruch und Kommerzialität anbetrifft. Wir waren dabei.