Es gibt immer wieder so Stücke, die koordinieren und bringen – gewollt oder nicht – auf den Punkt, was gerade an kulturellen und sozialen Zusammenhängen, Erinnerungen und Inspirationen so herumschwirrt. Für diese Kolumne waren im vergangenen Jahr zum Beispiel das Minialbum von Damiana oder Oko von Sasha Vinogradova und Alina Anufrienko solche Netzwerkknoten, die die verschiedenen Fluchtlinien, die Ambient und Elektronik gerade einschlagen, bündeln konnten und auf konzentrierte Weise in etwas Neues transformierten. Stichworte damals: Freiheit, Improvisation, Elektroakustik, Song im Track und umgekehrt. Für dieses Jahr stehen die Chancen nicht schlecht, dass Yhdessa, wohl nicht zufällig schon wieder ein nichtmännliches Duo, das leisten könnten. Das stiloffene Ambient-Projekt von Aimée Portioli (Grand River) und Enrica Falqui (Eris) findet auf der Mini-LP Along The Simple Lines (Concentric, 23. September) Wege und Mittel, sehr viel von dem, was dieses Jahr für Ambient und Co. wichtig war (wieder Freiheit, Offenheit und Improvisation, Stimmen und alte Synthesizer), in fünf viel zu kurze Stücke zu kondensieren.
Die japanische Sängerin und Produzentin Ayuko Goto alias Noah stellt für das Motherboard eine ähnlich prägende und umfassende Integrationsfigur dar. In ihren Arbeiten treffen sich verwehte Echos von Bedroom-R’n’B und J-Pop mit elektroakustischem Bewusstsein für Nuancen von Sound und Atmosphäre, was in japanoidem Lo-Fi-Folk enden kann oder in nostalgischen Hongkong-Beats. Oder eben in extrem verfeinerten ambienthaften J-Chansons wie auf Noire (FLAU, 26. August).
Es sieht so aus, als wäre eines der originellsten Ambient-Projekte, das als Album-Tetralogie unter dem Alias Meitei / 冥丁 erschien, nun auserzählt. Schade, aber nicht ganz schlimm, denn der Japaner, der sich hinter dem Projekt, das sich vornahm, die Klänge des historischen Japans in einen modernen Zusammenhang zum Grooven zu bringen, verbarg, macht als Tenka (天火) weiter. Wie der Name andeutet, der sich grob als Himmelsfeuer übersetzen lässt, geht es nicht mehr im engeren Sinn um die japanische Tradition, sondern um Naturphänomene, den Klang der Wälder, des Wassers, der Berge. Also immer noch typisch japanische Themen, aber offener in Kontext und Ergebnis. Das liegt näher an der ersten Welle der japanischen Environmental Music mit ihrer spezifischen Mischung aus Field Recordings und minimalen Synthesizerklängen. Hydration (Métron Records, 14. September) ist aber in aller Kankyō-Ongaku-Affinität und mit typisch japanischen Soundeigenheiten wie einer Vorliebe für extrem hohe Frequenzspitzen deutlich mehr als die Fortführung oder Neuerweckung eines alten Genres. Dafür agiert Meitei bzw. Tenka viel zu eigenwillig. Jedes Stück spielt in der Metapher des (menschlichen?) Metabolismus, und das Album als Ganzes funktioniert wie einer und kommt mit einem speziell dafür kreierten Duft, der ebenfalls über das Label erhältlich sein wird.
Die Italienerin Sara Berts produziert ebenfalls Klänge im Gravitationsfeld von minimalen Synthesizer und Field Recordings aus der Natur. Auf ihrem Quasi-Debüt Ayni (Motherboard berichtete) waren die Naturaufnahmen und Samples stärker im Vordergrund, auf ihrem Tape Braiding Fragments (Muzan Editions, 16. September) ist es der analoge Synthesizer Buchla Easel, der Ton und Struktur der Stücke vorgibt. Beides ist in völligem Einklang mit der Tradition der Environmental Music.
Endurance ist das Ambient-Alias des Kanadiers Joshua Stefane, einem der beiden Labelbetreiber von Muzan Editions in Osaka. Sein jüngstes Tape Verb (Muzan Editions, 16. September) führt die Ästhetik des Kankyō Ongaku mit einem modernen Verständnis von digitalem Soundprocessing durch Verdichtung in neue Tiefen. Die Natursamples sind gerade noch erkennbar, geben aber eher eine feine Textur über den üppigen Sound ab, wirken also eher indirekt, aber dennoch beeindruckend und deutlich.
Die türkische, zur Zeit in Großbritannien lebende Sound-Art-Künstlerin Elif Yalvaç arbeitet ebenfalls gerne mit Naturphänomenen. Ausgehend von Feldaufnahmen aus bevorzugt nordischen Gefilden, die sie mit Gitarren-Feedback, Soundprocessing und hochfrequenten Synthesizerschleifen kombiniert, schafft sie erzählende Soundscapes, die manchmal an die Pioniere des arktischen Ambient wie Biosphere oder Deathprod erinnern, aber komplett auf die Klischee gewordenen Zutaten des Genres wie etwa kryptische Funksprüche, Morsesignale oder Radiofrequenzregeldreher verzichtet. Auf Green Drift (Expert Sleepers, 23. September) erstmals in Kombination mit der Bassklarinette des Schotten Andrew Ostler, auf dessen Label das Album auch erscheint.
Selbiger Andrew Ostler hat im Juni das tolle Soloalbum Rolling Like A Bullet (Expert Sleepers, 15. Juni) vorgelegt, auf dem er auf zwei je 20-minütigen Stücken einen beeindruckend reichhaltigen und feinstofflichen Drone aus beeindruckend sparsamen Werkzeugen, eben die Bassklarinette, ein alter AKAI-Synthesizer und eine Bandmaschine, erschafft.
Und Fallout 4 (Expert Sleepers, 28. August), die dritte aktuelle Veröffentlichung auf Ostlers Label, von seinem seit den frühen Neunzigern aktiven Duo Darkroom mit dem Gitarristen Michael Bearpark verantwortet, gibt sich nicht weniger klanglich raffiniert und großzügig. Mit einer für das Projekt typischen Schlagseite in Richtung Kraut, Prog und Kosmische Musik. Also brummende Analog-Synthesizer, sanfte Motorik und der ubiquitäre Sound eines E-Bow.