Man spanne die Spulen, Tapestry drückt wieder auf die Play-Taste! Während Subwoofer weiter schlummern und die Erinnerung an den letzten Rave nur noch als Flashback an uns vorbeirauscht, sorgen Kassetten für Knister-Stimmung unter der Patchwork-Decke. Reinschieben, abspielen, zurücklehnen – wer dem selbstauferlegten Entschleunigungs-Diktat mit einem Sinn für Nostalgie entgegenschnarcht, braucht kein Geknatter im Viervierteltakt, sondern – yeah! – das richtige Tape zur richtigen Zeit. Groove präsentiert zehn Empfehlungen aus dem Kassetten-Kosmos, zwischen Weltraumforschung auf dem Regenbogen-Spacewalk und alternativen Fakten zum Weißwurscht-Futtern.
She Was A Visitor – ISO 220320 (Bare Hands)
Robert Schwarz ist der Wiener Caretaker. Immer schon gewesen. Mit Projekten wie Parken knirscht und knarzt es des Sommers auf Grünflächen der Stadt. In seiner vom Schallplattenladen zur begehbaren Installation umgebauten Lax Bar braucht man keine Drugs, um mit Geistern zu plaudern. Und wer seine Rauschungen auf Labels wie Gruenrekorder oder AVA gehört hat, stellt sich der Vergangenheit mit erhobenen Händen. Übrigens: Hände! Für Bare Hands hat Schwarz wieder in die Trickkiste gegriffen. Als She Was A Visitor produziert er „Pop-Songs, die durch einen starken Wahrnehmungsfilter gelaufen sind”. Na ja, es gibt immer mehrere Wahrheiten. Schließlich klingen die Stücke so, als hätte sich Lana Del Rey fünf Packungen Valium reingeknallt, um sich hinter die Kirchenorgel des Stephansdoms zu klemmen, drei Rosenkränze runterzuhobeln und den Gottesdienst auf My Bloody Valentine zu verschieben. Geschlossen wegen vorübergehender Ekstase, vergelt’s god! Aber: Gebenedeit sei der Rausch eures Lebens.
Robin Barnick – Sinusoidal Frequency Modulations (Superpolar Taïps)
In den 80ern schmachtete ein Synthesizer von Yamaha über jeden zweiten Lovesong von Whitney Houston. 40 Jahre später glucksen die Teile nur noch auf Oldtimer-Treffen von Menschen mit lichtem Haupthaar. Könnte man meinen, aber denkste! Das Kölner Paradelabel für verhaltensauffällige Experimente aus dem Elektro-Kosmos hat Robin Barnick entdeckt. Straight aus der Heiligen Dreifaltigkeit Niederkassel-Lülsdorf-Ranzel kommend, versemmelte der seinen Synthie zwar schon vor 20 Jahren, hatte davor aber die Gelegenheit, eine Platte aufzunehmen, oder sagen wir: ein letztes Mal an den Knöpfen rumzudrücken und das Gerausche auf Band zu bannen. Weil er vor dem Verkauf aus Verseh, äh… zur Sicherheit alle Presets löschte, klingt das Teil weniger nach Pop-Geknatsche aus den wilden 80s, sondern wie zwei fremde Raumsonden, die sich in der Schwerelosigkeit ein Milky Way teilen – Solipsismus im Space Race, Rauschen aus dem Walkie-Talkie. Irgendwie gruselig, für Psychonaut*innen aber genau der richtige Stoff.
Die Weltraumforscher – A Young Person’s Guide To The Early Welttraumforscher (A Colourful Storm)
Wir waren schon lange nicht mehr auf dem Mond. Dafür halt am Mars. Enthusiasmus-Potenzial in 200 Millionen Kilometern Entfernung: eher so gegen Null. Gäbe ja auch wirklich wichtigere Dinge zu erledigen, als Elon Musk die Arbeit abzunehmen. Außerdem war ein Schweizer schon in den 80ern dort. Hat nix gefunden. Oder nix zurückgelassen. Christian Pfluger, der Zürcher Astronaut mit Hang zu Casio-Käse, schwirrt seit 1981 in Outta Space. Vor 40 Jahren seien drei Außerirdische in sein Leben getreten. Seitdem sei er dazu verpflichtet, die interstellarsten Melodien über Humpty-Dumpty-Beats zu streicheln und sich dafür Namen wie „Kleiderschrank auf Mütze” oder „Die Eule hinterm Ofen” einfallen zu lassen. Kein Wunder, dass Felix Kubin, Mouse on Mars und Neoangin schon 1999 an den Stücken rumgemischt haben. Als Generaldilettant ist Pfluger der Gagarin der Eidgenossen, hätte aber auch locker den DDR-Sandmann vertonen können. Immerhin: Das australische Label A Colourful Storm stößt mit A Young Person’s Guide To The Early Welttraumforscher auf unentdecktes Leben und bastelt an einer ordentlichen Verschwörungstheorie.
kritzkom – Fuzziness (Jollies Records)
Klar, Sex ist geil, aber kennt ihr schon das Gefühl, auf einer Wellenlänge unterwegs zu sein? Egal ob Laberflash im Club, Contact High beim Chillen oder wahre Liebe – das Gefühl des Verstandenwerdens, ohne Worte oder mit viel zu vielen, kann keine limitierte Vinyl-Auflage irgendeines japanischen Reissue-Labels aufwiegen. Interessanterweise gibt es dasselbe Gefühl nicht nur bei Personen, sondern auch mit Musik. Eine Harmonie, ein Rauschen, drei Takte aus dem Drumcomputer können dazu führen, die eigene Plattensammlung rigoros zu hinterfragen und klammheimlich auf Discogs zu verscherbeln. Bevor jemand fragt: Nein, der Typ, der diese Zeilen tippt, hat nichts eingeworfen. Er ist nur gerade damit beschäftigt, seine Guilty-Pleasure-Tapes zu zerfleddern. Soll heißen: Wer grad keine Änderungen im eigenen Leben brauchen kann, lässt lieber die Finger von kritzkom und schiebt sich was von James Last ins Kassettendeck. Alle anderen dürfen mich gerne der Heilungsmusik, des Hokuspokus oder ASMR-Geschwafels bezichtigen, aber: Irgendwas passiert auf Fuzziness, dem neuen Tape der in Berlin lebenden Französin, das in meinem Kopf die Knoten löst. Da ist Wärme, wo keine Wärme sein sollte; da überlagern sich Harmonien, wo man sie nicht erwartet. Das ist Musik, um den Kopfgarten frühlingsfit zu machen.
V.A. – SPACEWALK (Metrozehnelf)
OK, Siri: Gib mal gute Mukke aus Frankfurt! Ne, sorry, die neue Platte von Celo & Abdi zählt nicht. Lieber was zum Träumen. Oder Ballern. Oder doch einfach nur den Tag rumkriegen! Ich weiß nicht, wie wir jetzt schon wieder dort gelandet sind, aber Space is heute the place! Die Spacewalk-Compilation des Irgendwas-mit-Kunst-und-Design-Projekts Metrozehnelf schießt uns vom Main bis zum Mond. Während Vierviertel-Brachiales von négatif oder Noetik die Turbinen in den Boden stampft, kapselt man sich mit dem House-Take von paawl ein erstes Mal ab, nur um von DJ Lazerhaze den Jungle endlich mal von oben betrachten zu können. DaSuno springt derweil schon mal in den Kosmonauten-Anzug – angesagt ist Außendienst mit Lennart Deneke, der Hans Zimmers Soundtrack zu Interstellar nicht nur auseinanderschraubt, sondern so klingen lässt, als hätte der gute Zimmer in der Schwerelosigkeit mit arger Verstopfung zu kämpfen gehabt. Zwischen Triebwerk-Techno und Sternestarren mit den Engeln aus dem Singer-Songwriter-Camp vom Mars passt hier keine Atmosphärenschicht.
Mazzo – Soft Breeze of Silence (Cudighi Records)
Gestern war Frühling. In den Ohren. Immerhin. Mazzo, der Mann für Feingeraspeltes aus dem New-Age-Fach für geheimes Wartezimmer-Geplärre bei Kassenzahnärzten, hat ein neues Tape draußen. Nachdem sein 2019er-Take auf Doom Chakra Tapes zum Garteln animieren sollte, staubt er mit Soft Breeze of Silence die VHS-Sammlung vom Urlaub in Italien 1986 ab. Keine Frage, wenn Khotin vor vier Jahren genügend MDMA eingeworfen hätte, hätte der Typ genauso auf den weißen Tasten geklimpert wie Mazzo heute. Verrauschte Träume, verlorene Zukünfte. Wenn salzige Brisen die Föhnfrisur versauen, begibt man sich auf eine Voyage Futur II – eine Reise, die bereits abgeschlossen sein wird, sobald wir dort ankommen gewesen sein werden. Während die ganz Schlauen noch damit beschäftigt sind, den letzten Satz mit drei Integralen zu berechnen, kurbelt man auf dem Weg zum „Treehouse” die Fenster des alten VW-Käfers runter und lässt die gute Laune rein. Sorry, das hört sich so schmierig an wie drei Koks-Heinis an der deutschen Börse, ist aber nichts als die Wahrheit: Ein Tape, das man sich für bessere Zeiten aufbehalten muss!
V.A. – Alternative Fakten Vol. 2 (Alternative Fakten)
Scheiß auf die Wahrheit, wir brauchen Alternative Fakten! Das Münchner Kollektiv rund um eine Veranstaltungsreihe von Tom Zwotausend für „untergründige Strömungen” schiebt der Corona-Schickeria ein Tape in den Rachen, das alles rauswürgt, was zwischen Hadern und Schwabing in Proberäumen auf Bändern raschelt. Gekotzt wird bereits zum zweiten Mal, aber halt for the good! Ob der Bohren-und-Zeitlupen-Rave von Carl Gari, das Sauerkraut-meets-Dada-Geschwurbel von Faileri Failera oder der Post-Punk-Puschel aus den Saiten von Neue Deutsche Romantik, hier ballern 21 situationselastische Datensammler*innen gegen Provinz-Kacke und Querdenker-Idiot*innen. Zum Power-Pumpen im SuperCycle-Studio mit Frauenstrasse oder beim kabellosen Befreien der Ideale aus ihren Schalen mit WLAN, Alternative Fakten Vol. 2 schießt maximal gegen Minga – und mindestens ein Szeneporträt. Wer was dagegen hat, hält es einfach mit Die Spiiiders: „Ich bin ein Kaltgetränk, ich wohne im Kühlschrank!” OK, cool!
Oh No Noh – where one begins and the other stops (Teleskop)
Markus Rom bedient seine eigene Kapelle. In einem seiner Live-Videos säbelt er an der Gitarre herum, während neben ihm Klangschalen, Fahrradklingeln und Keksdosen den Beat pflücken – automatisch und wie von Zauberhand, als ob man zufällig Zeuge der Selbstverwirklichung eines verrückten Elektronik-Pioniers in dessen Hobbykeller geworden wäre. Schließlich scheppert und klampft es, dass man den Schlegel am liebsten selbst in die Hand nehmen und auf einem der Einweckgläser rumbimmeln würde. Rom sprüht dabei mit Gitarren-Melodien, zu denen Mark Nelson von Pan American drei Badebomben in die Wanne wirft. Boom! Ganz schön Kranky, sag ich nur! Erscheinen wird das Tape Ende März auf dem Leipziger Label Teleskop. Oh No Noh, so lange noch? Für alle, die ihren Geduldsfaden noch nicht bei Zalando-Bestellungen zerhäckselt haben, hier ein Überbrückungs-Video, in dem eine Kassette in eigener Mission einen Ventilator lyncht, um ihrem Freund, dem Synthesizer, wieder Leben einzuhauchen. Grande, grande!
VLK – Nun Darme Stu Turmiento (Strategic Tape Reserve)
VLK ist zurück! Den DJ liebte Eamon Hamill auf dem letzten Tape in Malle, auf Dauer war der Spaß auf der Schinkenstraße aber nix fürs sanfte Gemüt, das von New Jersey kommend in die Karnevalsstadt crashte. Deshalb hat sich Hamill, in einer Art Sinnkrise, zurück in seine Jugend gebeamt. Als Hilfskellner in einem italienischen Ristorante schupfte er zwischen Celentano und Ramazotti die Calzoni auf die Teller und hobelte mit italienischem Dialekt am Parmigiano. Die Leute standen drauf. Er durfte den Schein wahren – und nur in der Küche damit brechen, um dort Neon-tighten Power-House zu ballern. Was auch immer an der Geschichte dran ist, sie hat sich eingebrannt wie fünf Flaschen Chianti zum Dreigänge-Menü. Deshalb zieht VLK das Klischee-Gejaule unter neapolitanischen Fake-Tapeten durch die Bandmaschine, bis sich Nun Darme Stu Turmiento akzentfrei über Gegenwarts-Krach zerbröseln lässt. VLK ist und bleibt der Hausmeister aus dem Vereinsregister für Dada-Dilettanten.
V.A. – Emotional Waves Vol. 1 (EMOTIONAL WAVES)
Es gibt Tapes, für die man sich mit geschmolzener Butter übergießen möchte, um eingefettet durchs Wohnzimmer zu aalen. Emotional Waves Vol. 1 ist so ein Teil. Elf Producer*innen microdosen sich auf der Regenbogenstrecke zur Augen-zu-Hände-hoch-Ekstase. Die Synthies glitzern, die Bässe schnattern – und weil der Rausch im Kollektiv viel geiler ist, wischt man aus einer nasty habit mit Breaks drüber, bei denen der rumble im jungle zu einem Trance-induzierten Happening eskaliert. Christoph de Babalon ist schon into it, bevor wir überhaupt out of it sein können, weil: Bänger folgt Bänger folgt Bänger! Wer seine Aufmerksamkeitsstörung bisher mit homöopathischen Dosen von 90s-Trance therapiert hat, greift in Zukunft zu diesem Tape. Außerdem wirkt sogar das Cover, als hätte sich die vierjährige Tatjana im Freundschaftsbuch von Georg verwirklicht. So viel also dazu, dass Picasso ein ganzes Leben gebraucht habe, um wieder so zu schmieren wie als Bengel in der Sandkiste.