Foto: Julia Gunther
Mit ihrem Hit „Gegen” hat Paula Temple die Technowelle der 2010er geprägt wie kaum eine andere Künstlerin. Dabei unterscheidet sich Paula Temple von Nina Kraviz oder Rødhåd, weil sie schon seit den späten Neunzigern aktiv ist. Nun erscheint ihr Debütalbum und Christoph Benkeser hat sich erklären lassen, warum Paula Temple ihren Techno als politische Äußerung versteht.
Als ich Paula Temple an einem Dienstagmittag über Skype erreiche, sitzt sie gerade im Pyjama vor ihrem Computer. Die britische Techno-Produzentin hat am vergangenen Wochenende in Genua und Paris gespielt. Gerade legt sie eine kurze Pause in ihrer Wohnung in Berlin ein, da beginnen die Tage schon mal später. Schließlich geht es bald wieder weiter. Nach Rotterdam, bevor Paula am Sonntag in einem Club in Madrid auflegt. Ihr Tourkalender ist gut gefüllt, bald kommt ihr Debütalbum. Sie wirkt trotzdem gelassen.
Paula Temple ist seit fast 20 Jahren als travelling DJ aktiv. Sie wuchs im Nordwesten Englands auf, in einem kleinen Dorf in der Grafschaft Lancashire. Als sie dort, Mitte der 90er, zum ersten Mal auf Raves ging und die Energie elektronischer Musik spürte, wusste sie: „Das will ich auch machen.” Sie besorgte sich einen Drumcomputer, experimentierte mit billigen Synthesizern herum und kaufte Technoplatten. „Das Produzieren war zu Beginn nur eine Spielerei”, sagt Paula. „Ich konzentrierte mich aufs Auflegen.” Als 2002 der irische Techno-Produzent und Labelbetreiber Chris McCormack auf sie aufmerksam wird und ihre erste Platte The Speck of the Future veröffentlicht, ging alles schnell. Jeff Mills verwendete den Track „Contact” auf seinem Exhibitionist Mix – der Durchbruch für Paula Temple.
Stream: Paula Temple – „Contact“
Auf einmal war Temple Teil der Szene, die sie wenige Jahre zuvor noch von außen bewunderte. Sie spielte in Clubs in ganz Europa und arbeitete an der Entwicklung eines Midi-Controllers mit, der für sie in Verbindung mit dem gerade veröffentlichten Ableton Live neue Möglichkeiten eröffnete. „Seit ich mit 16 als DJ begonnen hatte, legte ich mit Platten auf. Als die erste Version von Ableton rauskam, wusste ich sofort, dass das meine Sets verändern wird. Ich konnte meinem Stil treu bleiben und trotzdem mehr zusammenbringen als zuvor mit Vinyl.” Gleichzeitig merkte Paula, dass sie sich in einer männlichen Szene bewegte. „Die Lineups im Club waren fast immer ausschließlich von Männern besetzt. Ich war oft die einzige Frau hinter dem Pult”, sagt Paula rückblickend: „Ich stieß auf Vorurteile, die männlichen DJs überhaupt nicht bewusst waren und ich kritisierte dieses Ungleichgewicht. Damit stieß ich nicht immer auf Verständnis. Aber zum Glück hat sich das seit meiner Rückkehr verändert.“
Eine zweite Karriere
Mit ihrer Rückkehr meint Paula ihre „zweite Karriere“. Ihre erste endete 2006, als sie sich entschloss, sich aus der Szene zurückzuziehen, um Jugendliche zu unterrichten. „Das hatte viele Gründe. Das ungleiche Geschlechterverhältnis und die Tatsache, dass das viele nicht ändern wollten, war einer davon. Außerdem kam Minimal Techno auf. Ich konnte mit diesen ewigen Loops nichts anfangen”, sagt sie. „Für mich war das langweilig, meine Vorstellung von Techno war eine andere.“ Was sie sich unter Techno vorstellte, zeigte sie mit ihrem Comeback 2013 für R&S Records. „Ich hatte auf einmal wieder den Drang, mich kreativ auszuleben”, sagt Paula im Rückblick über die Entscheidung, sich erneut mit Musik zu beschäftigen. Die EP Colonized katapultierte sie mit brachialen Kicks zwischen halsbrecherisch-übersteuerten Synthesizerriffs zurück auf die düsteren Tanzflächen der Welt.
Stream: Paula Temple – „Colonized“
Es folgten Club-Hymnen wie „Gegen” oder die Decon/Recon–Reihe, auf der Temple gemeinsam mit Olof Dreijer, Jam Rostron oder Hermione Frank an einem kollaborativen Projekt ohne unmittelbare Autor*innenschaft arbeitete – Techno als Synthese verschiedener Persönlichkeiten, der ganz im Zeichen ihres zuvor veröffentlichten Noise-Manifests stand: Lärm heilt die Welt, in der sich Produzent*innen von ihren Identitäten trennen und sich auf einer Ebene mit den Instrumenten stellen, die sie bedienen. Kreative Inputs wurden anonymisiert, eine Urheber*innenschaft war in den unterschiedlichen Tracks nicht mehr auszumachen. Paula verstand diese Herangehensweise als Abkehr von dem Personenkult in der Szene.
„Mich zu fügen, weil manche mich nicht verstehen, das wäre zu schmerzhaft.”
Anfang Mai erscheint nun das erste Album von Paula Temple. Unter ihrem eigenen Namen. Und nicht auf einem großen Label, wie man erwarten könnte. Sondern auf ihrem eigenen, Noise Manifesto: „Ich habe das Album zuerst R&S angeboten, weil ich es Renaat (Vandepapeliere, Anm. d. Autors) versprochen habe.” Doch die Gespräche seien schwierig verlaufen. Temple stand voll hinter ihrem Konzept, wollte nicht davon abweichen. Renaat habe die Idee aber nicht verstanden. „Also hab ich es selber gemacht, auch wenn es schön gewesen wäre, ein großes Label mit großer Reichweite hinter dem Album zu haben”, sagt sie. Paula spricht offen und überzeugt über diesen Aspekt. Sie weiß, dass sie mit manchen Aussagen anecken könnte. „Aber mich zu fügen, weil manche mich nicht verstehen, das wäre zu schmerzhaft.“
Ein Debüt voll ernsthafter Themen
Dass ihre Debüt-LP erst jetzt erscheint, ist auch ihrer eigenen Entwicklung geschuldet. „Ich spielte eine Zeit lang in drei, vier Städten pro Woche.” Das ständige Reisen habe nicht nur ihren Körper, sondern auch ihre Kreativität belastet. „Deshalb habe ich mir Anfang 2018 ein paar Wochen Pause vom Touren genommen und mir die Herausforderung gestellt, in zwei Wochen ein Album zu machen”, erklärt sie. Herausgekommen seien zehn Skizzen. Aus fünf habe sie dann das Album entwickelt.
Eine Flüchtigkeit, die in Paulas Musik eher nicht zu finden ist. Im Gegenteil: Edge of Everything ist eine ernste Platte geworden. In gewisser Weise kann man das Album in seiner Ganzheit als dialektischen Pfad einer Befreiung von gegenwärtigen Problemen der Menschheit hören. Wabernde, in sich zusammenstürzende Synthesizerflächen in „Berlin” kündigen zu Beginn den drohenden Untergang an. „Joshua & Goliath” verbreitet mit einem ruppigen, an „Gegen” erinnernden Arrangement eine Stimmung von Chaos und Verzweiflung und führt mit dem wahnwitzigen „Future Betrayed” in eine Phase der Bewusstseinsschärfung, um mit „Raging Earth” die Energien zu bündeln. Am Ende ist alles anders, „Post Scarcity Anarchism” bricht aus, was Raum für Interpretationen zulässt. „Mir wurde klar, dass die Themen, über die ich viel nachgedacht habe, sich in meiner Musik niederschlagen”, erklärt Paula.
Stream: Paula Temple – „Raging Earth”
Gedanken, die sie vor allem aus Büchern von Öko-Anarchisten wie Murray Bookchin ziehe, in denen es darum gehe, mit den Ressourcen der Welt in Einklang zu leben und sie nicht durch Macht- und Profitinteressen kaputt zu machen. Sie beschäftige sich aber genauso mit Theorien des „Venus Projects” von Roxanne Meadows, das Ideen einer ressourcenbasierten Wirtschaft mit denen einer Sharing-Economy vereint. „Veränderungen in unserer Welt sind überfällig“, sagt Paula und wird ernst. „Diese Themen fanden wie von selbst auf mein Album. Meine Umgebung beeinflusst meine Musik. Ich mache mir Sorgen um unsere Zukunft, das hat einen unmittelbaren Einfluss auf meine Arbeit. Für mich gibt es da keine Trennung, alles verbindet sich, Gedanken und Musik werden eins.“
„Man kann nicht genau beschreiben, was man fühlt. Aber es ist da.”
Die eigene Beklemmung umgesetzt
Man merkt, dass Paula Temple für diese Themen brennt. Und dass dieses Feuer auf Edge of Everything weiterlodert. „Wenn ich Musik mache, muss sie einen Sinn haben. Sie muss etwas transportieren.” Deswegen habe sie sich für das Album vorgenommen, alle Einflüsse und Ideen miteinander zu verbinden – „auch wenn ich das Gefühl hatte, dass sie zu nichts führen könnten”, sagt Temple. Aus dieser Offenheit seien Songstrukturen entstanden, die wahrscheinlich als normale Songs mit Texten und Sänger*innen funktionieren hätten können. „Aber mir wurde klar, dass ich dafür noch nicht bereit bin. Ich ließ diese Ideen wieder los, und produzierte puren Techno.” Sich auf das zu beschränken, was funktioniert, ohne Risiken einzugehen: Schneidet sich das mit nicht dem, was sie mit dem Konzept des Albums rüberbringen will? Statt aus dem Technokontext auszubrechen, hat sie sich zum ersten Mal bewusst auf das Sounddesign ihrer Stücke konzentriert und so die Beklemmung umgesetzt, die sie empfindet.
Ganz so, als würde sie einen Film noir vertonen. „Ich fühlte mich wie eine Person, die sich auf ein Gemälde einlässt. Man kann nicht genau beschreiben, was man fühlt. Aber es ist da.” Zu hören ist diese kinematographische Komponente vor allem in den langsameren Ambient-Stücken wie „Nicole” oder „Berlin”. Die Musik von Burial habe einen großen Einfluss auf den Entstehungsprozess des Albums gehabt. „Er schafft diese Atmosphäre, die dich in einer nächtlich-urbanen Welt ausspuckt. Das hat mich schon immer fasziniert”, sagt Temple, als sie über „Berlin” spricht.
„Berlin” trägt auch eine persönliche Geschichte in sich. 2014 zog Paula, nachdem sie und ihre heutige Ehefrau wiederholt mit Homophobie konfrontiert wurden, vom Norden Englands in die deutsche Hauptstadt. Für ihre ehemalige Heimat hat sie rückblickend nicht viel übrig. „England ist eine arrogante, abgeschottete Insel, die sich nicht darum schert, was sich innerhalb Europas tut und immer nur auf sich selbst bezogen ist. In Berlin sei das anders, sagt sie. „Die Menschen sind viel offener, ich fühlte mich auf einmal freier, stärker und selbstsicherer – nicht nur innerhalb der queeren Community. Die Stadt war meine erste Chance, die Dinge aus einer anderen Perspektive zu sehen.” Das habe sich nicht zuletzt auch auf die Energie in ihren Tracks ausgewirkt.
Stream: Paula Temple – „Joshua & Goliath (Techno Version)“
Besonders gut lässt sich das auf den beiden Versionen von „Joshua & Goliath” hören. Zwei Stücke, die sie nach einem Jugendlichen aus Hong Kong benannt hat, der 2014 das Gesicht der sogenannten Regenbogen-Revolution in Hongkong war. Für Paula seien Aktivist*innen wie Joshua ein Grund zur Hoffnung, weil sie sich mit aller Kraft für eine bessere Welt einsetzten. Deshalb habe sie beschlossen, ihm diese zwei Tracks zu widmen. Ein klassischer Technotrack – und eine deutlich langsamere, reduzierte Version. Bei den verschiedenen Fassungen geht es darum, eine Verbindung zwischen Verschiedenem herzustellen: „Wir müssen lernen uns zu öffnen und die Lebensrealitäten von anderen Menschen zu berücksichtigen“, sagt Paula und verweist auf den Unterschied zwischen beiden Tracks. Im einem Moment galoppieren knüppelharte Kick Drums über Synthsounds, die sich in ihrer Dringlichkeit überschlagen. Im nächsten weichen sie einer Stimmung, die mehr an ein Orchester unter Wasser erinnert. „Wir müssen hinterfragen, was wir sehen und hören und nicht alles für gegeben annehmen“, sagt Paula. „Das geht nicht ohne Empathie für andere Menschen.“
Stream: Paula Temple – „Joshua & Goliath (Slow Version)“
Hoffnung aus dem schwarzen Loch
Die Frage nach Empathie verfolgt Paula Temple nicht nur auf ihrem Album, sondern auch auf dem Cover von Edge of Everything. „Dieses schwarze Loch hat mich direkt gefasst. Es stammt von Mark Warrington, einem Künstler, der zum Beispiel das Sonic Sunset-Artwork für Modell 500 gestaltet hat. Wir wissen nicht, was im schwarzen Loch ist oder was uns dort erwarten würde. Aber diese bunten Kreise rundherum geben Hoffnung. Sie vermitteln ein Gefühl, dass wir nicht nur überleben, sondern uns weiterentwickeln können.”
„Ich kann gut verstehen, dass viele nach einer beschissenen Woche in den Club gehen, um sich für ein paar Stunden zu vergessen. Dieses extreme Erlebnis kann eine nachhaltige Wirkung auf uns haben.”
Für manche stellt der Club als utopisch-befreiender Raum eben so eine Möglichkeit zur Weiterentwicklung dar. „Ich kann gut verstehen, dass viele nach einer beschissenen Arbeitswoche in den Club gehen, um die Welt um sich herum für ein paar Stunden zu vergessen”, sagt Paula. Schließlich suchen wir das extreme Erlebnis im Club. Diese Abschottung von der „realen“ Welt und das Verlangen nach einem Raum, in dem man der Realität entziehen und sich gehen lassen kann sei für Paula kein Widerspruch. Wie bei den beiden Versionen von „Joshua & Goliath” geht es gerade um die Spannung zwischen den beiden gegensätzlichen Polen: “Dieses extreme Erlebnis, zwischen zwei Welten zu stehen, kann eine nachhaltige Wirkung auf uns haben. Der Club ist mehr als eine Flucht aus dem Alltag.“ Wir entfliehen der Realität, um uns gleichzeitig mit ihr zu beschäftigen, indem wir mit anderen Menschen einen intimen Moment teilen. „Das muss nichts Sexuelles sein“, sagt Paula. „Es geht vielmehr um die Musik, die uns umspült und uns ein Gefühl der Entwicklung gibt. Das ist es, was Techno intim macht. Du spürst das am ganzen Körper.“
Paula habe versucht, dieses Gefühl auf ihr Album zu bringen, es über die zwölf Tracks zu vermitteln. Lässt man sich in seiner Ganzheit darauf ein, ist Edge of Everything ein kohärentes Techno-Album, aufgeladen mit einer Dringlichkeit, die Paula aus ihrer Umgebung zieht. Es ist gleichzeitig aber auch eine Absage an alle, die auf eine Hymne wie „Gegen“ gehofft haben. „So eine ist im Album nicht zu finden“, sagt Paula und fügt gleich an: „Ich brauche keine Nummer 1 in den Charts.“ Ob sie damit Leute abschrecke, sich dem Album zu nähern? „Vielleicht, aber das ist egal. Ich bekomme manchmal Nachrichten von Menschen, die mir sagen, dass ihnen meine Musik hilft, um am Leben zu bleiben. So eine Botschaft rüberzubringen, darum geht es mir.“