“It must be as ignorable as it is interesting”, schrieb Brian Eno in den Linernotes zu Ambient 1: Music For Aiport über das Genre, dessen Namen er mit der Veröffentlichung der LP im März 1978 erst prägte. Vierzig Jahre später ist Ambient wieder in aller Munde, doch ignoriert wurden tatsächlich einige interessante Platten. Die Groove-Redaktion empfiehlt in einer ausgesprochen subjektiven, nach alphabetischer Reihenfolge geordneten Auswahl zehn Ambient-Alben aus den letzten 25 Jahren, vor allem aber der jüngeren Zeit, die ihr unbedingt gehört haben solltet.
A Winged Victory for the Sullen – A Winged Victory for the Sullen (Erased Tapes, 2011)
Das Projekt mit dem wundervollen Namen A Winged Victory For The Sullen ist eine Kollaboration zwischen dem amerikanischen Pianisten und (Film-)Komponisten Dustin O’Halloran und seinem Landsmann Adam Wiltzie, seines Zeichens Mitglied beim Duo Stars Of The Lid, das Avant-Experten ja ohnehin im Bereich Drone/Ambient als unerlässlich gilt.
Anstatt ihr erstes gemeinsames Album im Studio aufzunehmen, spielten die beiden die sieben Instrumentalstücke in Kirchen und geschichtsträchtigen Rundfunkanstalten, wie etwa den ehemaligen DDR-Radiostudios in Berlin, vollkommen analog ein. Das ist umso erstaunlicher, weil die Nachtmusik auf A Winged Victory For The Sullen nicht etwa in biedere Neo-Klassik-Dekadenz verfällt, sondern den ungemein kurzweiligen, meistens aufmunternd melancholischen Klangkulissen jene tiefen Drone-Frequenzen gegenüberstellen, die trotz ihrer vibrierenden Potenz niemals das harmonische Gleichgewicht ins Wanken bringen. Ambient mit Kammermusik-Attitüden, der die Postrock-Gesten gravitätisch zu kaschieren versteht. (Sebastian Weiß)
Air – Air (Fax +49-69/450464, 1993)
Peter Kuhlmann alias Pete Namlook gehörte zu Lebzeiten zu den profiliertesten und produktivsten Ambientmusikern. Zwischen 1992 und seinem Tod 2012 erschienen von ihm über 300 Alben unter etwa 60 Pseudonymen, die er allein und mit anderen Musikern wie unter anderem Richie Hawtin, Move D und Bill Laswell aufnahm. Dass Kuhlmanns Musik heute nicht die Aufmerksamkeit zukommt, die sie verdient liegt unter anderem an der Vertriebssituation: Seine Musik ist nicht auf Streaming-Plattformen wie Spotify erhältlich, nur wenige Alben – wie seine Dark Side of The Moog-Serie mit Klaus Schulze – wurden wiederveröffentlicht und die meisten der Veröffentlichungen auf seinem Label Fax +49-69/450464 erschienen nur in limitierter Auflage auf CD.
Zu den Höhepunkten seines Werks gehört der Auftakt zu seiner Air-Serie von 1993. Auf dem eine Stunde lang dauernden Ambient-Album sind analoge Synth-Klänge zu hören, die an die Berliner Schule der siebziger Jahre erinnern, pulsierende Sequenzen und synthetische Chorstimmen. Dazu kommen auf Stücke wie “Je suis seule et triste ici” oder “Chaque Ligne De Ta Peau Fut Aimée“ als Kontrast locker klingelnde Becken. (Heiko Hoffmann)
Chino Amobi – Airport Music for Black Folk (NON, 2016)
Den meisten würde beim ersten Hören von Chino Amobis Airport Music for Black Folk vermutlich viel durch den Kopf schwirren, an Ambient dürften sie jedoch sicherlich nicht denken. Zuerst ist es auch der Titel allein, der an Brian Enos Platte denken lässt, die dem Genre seinen Namen verleiht. Doch darin genau liegt der Clou. Denn wo Eno eine Art sedierende Gebrauchsmusik für Nicht-Orte herbeifantasieren konnte, da stellt Amobi als schwarzer Künstler dem eine knallharte Realität entgegen: Flughäfen, das sind vor allem Orte “zufälliger” Sicherheitskontrollen und anderer Demütigungen. Kein Freiheitsversprechen, sondern eine Erinnerung an die Abwesenheit eben jener Freiheit. Ein bloßes Hintergrundrauschen und -flauschen würde daran erstmal herzlich wenig ändern.
Von London über Malmö und Warschau hin nach Rotterdam entfaltet Amobi ein beklemmendes Panoptikum über die europäische Flughafenszenerie, die er als reisender Künstler erlebt. Ein Track ist dabei auch Berlin gewidmet, wo Amobi die LP 2016 produzierte. Mit seinen schroffen EBM-Grooves und den zerhäckselten Vocoder-Lyrics klingt “Berlin” allerdings wie eine ernüchternde Antwort auf den Kraftwerkschen Futurismus. Das macht Airport Music for Black Folk sicherlich nach klassischem Verständnis noch kaum zu einer Ambient-Platte, wohl aber zu einem mehr als wichtigen Debattenbeitrag zur Frage: Was überhaupt ist Ambient? Denn vielleicht muss das klasische Ambient-Verständnis mal überholt werden. (Kristoffer Cornils)
Chris Watson – El Tren Fantasma (Touch, 2011)
Wo hört eigentlich bloßes Geräusch auf, wo fängt Musik an? Kaum je ist diese Frage berechtigter, als wenn sie dem Werk von Chris Watson gestellt wird. Seitdem der Engländer sich von Cabaret Voltaire verabschiedete, dient er überwiegend nicht mehr Indie-England, sondern meistens der BBC. Nicht allein für die Öffentlich-Rechtlichen allein arbeitet der kongeniale Aufnahmekünstler (für den Begriff “sound recordist” gibt es im Deutschen tatsächlich keine Entsprechung). Sondern er veröffentlicht auch regelmäßig Alben mit seinem Schaffen aus den verschiedensten Regionen der Erde.
El Tren Fantasma verwischt wie keine zweite seiner Platten die Unterschiede zwischen Klang und Musik. Dort schält sich aus dem Schienengeratter des Gespensterzugs ein Dub Techno-Beat, hier zerfließt der Vogelgesang plötzlich in Harsh Noise. Der als Radiosendung aus viel Archivmaterial hergestellte fiktive Trip von der mexikanischen Pazifik- zur Atlantikküste ließ bei seiner Erstausstrahlung 2010 nicht allein einen längst zur Ruhe gestellten Zug wieder auferstehen, sondern stellte zudem mit Dringlichkeit in Frage, wie wir eigentlich zwischen Natur und Menschengemachten unterscheiden. Ein gespensterhaftes Meisterwerk, das selbst in Watsons Katalog eine Sonderrolle einnimmt. (Kristoffer Cornils)
Elve – Emerald (Virtual 2010)
Bis vor wenigen Wochen hatte ich noch nie von Matt Hillier gehört. Das änderte sich erst, als mir Jon Hopkins bei einem Gespräch von dem Ambient-Produzenten aus Cornwall vorschwärmte und erklärte, dessen Musik sei ein wichtiger Einfluss auf sein neues Album Singularity gewesen. Hillier ähnelt in seiner Produktivität Pete Namlook, alleine unter dem Alias Ishq hat er seit 2001 über 30 Alben veröffentlicht, hinzu kommen Tracks unter 40 (!) weiteren Pseudonymen und Platten als Teil von einem Dutzend Gemeinschaftsprojekten, wie auch Elve, bei dem er zusammen Jacqueline Kersley Musik macht.
Emerald ist erst 2010 erschienen, klingt aber wie eine fast klassische Mischung aus New Age und Ambient: Naturgeräusche wie Vogelstimmen und fließendes Wasser treffen auf spährische Synthflächen und Glockenklänge, die ganz ohne Beats auskommen. „Lang, immersiv und brilliant“, beschrieb Jon Hopkins die Musik und empfiehlt als weiteren Einstieg in die Ambient-Welt von Matt Hillier die Ishq-Alben der saisonalen Light-Serie. (Heiko Hoffmann)
HIA / Biosphere – Polar Sequences (Beyond, 1996)
Ein Album, dessen Entstehungsgeschichte (fast) so schön ist wie die Musik selbst. 1995 wurden die beiden Ambient-Musiker Geir Jenssen alias Biosphere und Bobby Bird alias Higher Intelligence Agency beauftragt, bei einem Projekt in Geirs Heimatstadt Tromsø in Norwegen zusammenzuarbeiten. Vorgabe war, dass bei den drei Konzerten Klänge aus der Umgebung Grundlage der Musik sein sollte – eine Art Nova Regio-Ambient also.
Und so sammelten die beiden Field Recordings von der Maschinerie der örtlichen Bergseilbahn, dem Schnee und Eis. Die Konzerte fanden dann in einer Hütte auf einem Berg statt, in der die Gäste mit der Seilbahn hinauf transportiert wurden. Das Album, 1996 auf Vinyl auf Beyond und 2003 digital auf Headphone veröffentlicht, ist für mich persönlich eines der gelungensten Ambient-Alben aller Zeiten – neben Alec Empires Low On Ice auf jeden Fall das schönste mit einem Winterthema.
Geir und Bird schaffen es tatsächlich, mit ihren Klängen eine schneebedeckte Gebirgslandschaft zu emulieren, die ganz eigenen Gesetzen folgt. Man meint förmlich durch einen Gletscher zu gleiten, schwerelos und doch fest verankert in der geographischen Struktur. Frostig, brillant und ungemein tröstlich. (Thilo Schneider)
Huerco S. – For Those Who Never (And Also Those Who Have) (Proibito, 2016)
Nachdem der in Kansas geborene und in New York lebender Producer Huerco S. bereits seit 2011 schwer kategorisierbare Musik an den Schnittstellen von rumpelnden House, Chain Reaction-Dubs und verschwommenem Shoegaze veröffentlicht hat, lässt sein zweites Album (das erste für Anthony Naples’ Proibito-Label) konsequent jegliche Bassdrums außen vor und zeigt ihn auf der Höhe seiner musikalischen Schaffenskraft.
Die neun Tracks auf For Those Who Never (And Also Those Who Have) wirken oft nicht mehr als Skizzen – eine außerweltliche, verrauschte Melodie, die sich im Loop zur vollen Schönheit entfaltet, ein Rauschen und Knistern hier, ein Pochen und eine zarte Bassline dort. Oft brechen die Tracks abrupt und ohne Vorwarnung ab. Und doch nimmt einen die Musik sofort gefangen.
Auch wenn man manchmal an Aphex Twins Selected Ambient Works Volume 2 oder an Wolfgang Voigts GAS-Alben denken mag, beweist Huerco S. hier eine extrem eigene Handschrift. Jeder Klang auf diesem Album ist von einer zerbrechlichen Schönheit und Eigenheit, die einem nur sehr selten als Musikhörer begegnet. Und das ist schließlich mehr, als man von den meisten aktuelleren Ambient-Alben sagen kann. (Thilo Schneider)
Kara-Lis Coverdale – Aftertouches (Sacred Phrases, 2015)
Kara-Lis Coverdale machte 2017 mit ihrer LP Grafts für Boomkat über sich reden, doch ihre frühere Veröffentlichungen lohnen sich ebenso. Da wäre beispielsweise Aftertouches, ein Album, das eine Welt nach den Musikinstrumenten erschaffen möchte. Dazu hat die Kanadierin vor allem viele Klangbibliotheken ausgeräubert und bietet über neun Songs eine Menge instrumental klingende Sounds mit viel uncanny valley-Effekt: Was da als Streicher, Klaviere, Bläser und Stimmen seinen Auftritt feiert, klingt immer höchstens zu 95% echt und authentisch. Stattdessen fließen die einzelnen Klangsignaturen ineinander und bilden eine Art überpoliertes Mischmasch aus Sounds, die kaum auf einen Ursprung verweisen.
Luftleerer klang der Raum um Musik nur selten und sehr nach Weltall das Resultat von Coverdales Experimenten. Aftertouches ist die spacigste Fahrstuhlmusik, die je geschrieben wurde, komplett für sich allein stehend und dennoch total amorph. Eine im wahrsten Sinne des Wortes brillante, unheimliche und dezidiert gegenwärtige Platte. (Kristoffer Cornils)
Martina Lussi – Selected Ambient (Hallow Ground, 2017)
Selected Ambient heißt das Album, die Tracks sind allesamt nach Gestein benannt: Der Fall scheint da mehr als eindeutig. Tatsächlich aber hat weder Martina Lussi noch ihr aus vier Stücken bestehendes Album viel mit Aphex Twin oder seinem Ambient-Meilenstein Selected Ambient Works 2 zu tun, auf das hier so offensichtlich referiert wird.
Vielmehr überzeugt die vorrangig in der Kunst- und Installationsszene umtriebige Schweizerin mit trauriger Psychedelik über satten Texturen (“Sodalith”), post-punkigen Techno-Vibes (“Achat”), einer kleinen Reminiszenz an Leyland Kirbys The Stranger-Nebenprojekt plus vernebelten Rave-Signalen (“Citrin”) und einer grenzenlos geduldigen Gitarrenmeditation (“Opal”).
Selected Ambient wartet mit vier schillernden Überraschungen auf, die unter der Verpackung kaum zu erwarten waren. Vor allem zeigt es Lussi als gleichermaßen abenteuerliche wie abwechslungsreiche Produzentin, die dichte und immersive Stimmungen stiften kann. (Kristoffer Cornils)
Sven Weisemann – Xine (Wandering, 2009)
Sven Weisemann ist eine sichere Bank. Nicht nur als versierter DJ nutzt er seine multiplen Dance-Interessen, gerade auch als Produzent hat er sich nie auf nur einen Pfad festgelegt – dafür stehen nicht zuletzt seine ansprechenden Nebenprojekte Jouem und Desolate. Und passend für jemanden, der zwischen den Welten wandelt, so ist auch Weisemanns Debütalbum Xine nicht the usual ambient record. Der Autodidakt, der sich selbst das Klavierspielen beibrachte, bezeichnete diesen imaginären Soundtrack aus 20 Kapiteln einst als sein Piano- und Celloprojekt – ein persönliches obendrein, ist es doch seinen Großeltern gewidmet.
Xine, das 2009 auf dem Mojuba-Ableger wandering erschien, steht exemplarisch für Weisemanns beinahe unheimliches Talent mit seinen Melodien die richtige Direktive, genau das geeignete Quantum Gefühl mitzugeben, um einen in diesen Kokon der Nachdenklichkeit zu hüllen. Es ist die Wechselwirkung aller Elementarteilchen, die der gebürtige Potsdamer mit seinem Debüt formvollendet zu einer immer wieder verblüffend fesselnden Listening-Erfahrung gebracht hat. (Sebastian Weiß)