2025 feierte das Innervisions-Label sein 20-jähriges Bestehen. Das von Âme und Dixon 2005 in Berlin gegründete Label definierte die House Music neu. Zum ersten Mal speiste sich House nicht mehr überwiegend aus dem Kanon der afroamerikanischen Musik, aus Soul, Funk oder Disco. Stattdessen nahmen Âme, Dixon und die anderen Innervisions-Künstler:innen ein breites Spektrum von Einflüssen auf.
Acts wie David August, Henrik Schwarz oder Howling ließen sich ebenso von eingängigen Pop-Melodien wie von den flächigen Soundscapes des Krautrocks oder World-Music-Klängen inspirieren. Gleichzeitig ging es bei Innervisions immer um einen zeitgemäßen, weitläufigen Look. So entstand eine Art Gesamtkunstwerk, das sich auch in die Mode und bildende Kunst erstreckte.
An einem kalten, sonnigen Dezembernachmittag besuchen die GROOVE-Autoren Alexis Waltzund Paul SauerbruchÂme – Kristian Rädle und Frank Wiedemann – in dem Dachgeschoss in Berlin-Kreuzberg, in dem sich neben dem Innervisions-Office auch die Booking-Agentur TS-Agency, der Plattenladen und -Vertrieb Muting the Noise und Wiedemanns imposantes Studio befinden.
Wie habt ihr den Geburtstag eures Labels gefeiert?
Frank: Für mich hat sich das zuerst nicht wie etwas Besonderes angefühlt, das muss ich ehrlich gestehen – bis zu dem Moment, in dem wir in der Panorama Bar waren und viele Leute zu mir kamen und mir gratulierten. Das hat mich wirklich gefreut, dass Innervisions so vielen etwas bedeutet.
Kristian: Auch, dass das über alle Generationen hinweg funktioniert. Da waren Leute dabei, die man seit zehn Jahren nicht mehr gesehen hat. Auch das Wochenende als solches, bei dem wir gleichzeitig im Berghain in Berlin und in der fabric in London gefeiert haben – auch, wenn die Erinnerungen daran ein bisschen nebulös sind. (grinst) Das war der Abschluss unserer 20-Years-Tour. Ich weiß gar nicht: Wie viele Veranstaltungen waren das am Ende?
Eure Tour hatte elf Etappen: Barcelona, Lissabon, Mykonos, Los Angeles, New York, São Paulo, Mexico City, Buenos Aires, Berlin und London.
Frank: In Buenos Aires warst du nicht dabei.
Kristian: In Buenos Aires war ich nicht dabei. Barcelona war die erste 20-Years-Veranstaltung. Die war für mich schon ein bisschen rührselig. Ich habe auf der Bühne geweint, als Bruno [Deodato, Trikk seinen Track] „Rigor” gespielt hat. Wir sind eigentlich nicht so die Nostalgiker, es geht immer weiter, man schaut immer nach vorne — deshalb bekommt man das gar nicht so mit, aber in solchen Momenten realisiert man es dann. Berghain war natürlich besonders, aber die fabric auch. Das Wochenende war verrückt.
Frank: Es war auch besonders, weil es zwei richtige Clubs sind. Es ist natürlich supertoll, in New York eine Party für 5.000 Leute zu geben – und das war eine wirklich gute Party. Aber es ist nochmal was anderes, wenn du das an den Orten machst, an denen alles angefangen hat.

Kristian: Die fabric ist jetzt auch nicht der coolste Club der Welt, normalerweise ist das Publikum da ein bisschen fragwürdig. Bei uns war das aber nicht so. Ich stand an dem Sonntag neben dem Besitzer des Clubs und der meinte nur: „So ein Publikum habe ich hier noch nie gesehen, das ist verrückt.”
Wie kam die Idee zustande, dass ihr die Party am selben Wochenende macht?
(Kristian und Frank lachen.)
Kristian: Das war logistisch die einzige Möglichkeit, dass alle dabei sein konnten.
Wie habt ihr das bewältigt?
Kristian: Bei mir kommt noch dazu, dass ich von Freitag bis Montag früh gespielt habe. Am Montag bin ich dann nach Dänemark geflogen, um zu heiraten. Dienstagmorgen stand ich auf dem Standesamt und war so: „Gott, wie bin ich denn hierhergekommen?”
Wow, herzlichen Glückwunsch.
Kristian: Vielen Dank.
Hattet ihr ein besonderes Konzept für die 20-Years-Partys?
Kristian: Nein, ganz ehrlich, das hätte auch ein Innervisions-Rave sein können. Wir hatten schon eine Weile keine eigenen Partys mehr gemacht. Das ist ein bisschen eingeschlafen im allgemeinen Trott. Wir haben das zum Anlass genommen, wieder eigene Veranstaltungen zu machen …
Frank: … und die vielleicht besser zu branden und uns mehr zu kümmern. Die „Lost in the Moment”-Partys waren unsere früheren Veranstaltungen, die waren sehr klein.
Kristian: Die wurden aber auch größer.
Frank: Dann haben wir festgestellt: Das war nicht mehr so unser Ding.
Was für einen besonderen Ort willst du dann noch finden?
Kristian Rädle
Kristian: Ich würde sagen: Die Geschichte war abgefrühstückt. Das Ding – ich mach’ an einem besonderen Ort eine Party – war auserzählt. Die Idee wurde dann ja auch schnell von anderen aufgegriffen, von Cercle etwa. Was für einen besonderen Ort willst du dann noch finden? Auf dem Mond, wie der Neffe vom Abramowitsch das mal machen wollte? Nach dem Motto: Lost in the Moment auf dem Mond. (grinst)
Du hast vorhin gesagt, dass du größtenteils aktuelle Musik spielst. Welche Rolle spielt dabei Innervisions? Wie gestaltet sich der Austausch zwischen Âme als DJ und Innervisions als Label?
Kristian: Das ist sozusagen durchgefiltert. Die Musik, zu der ich Zugang habe, stammt von den vielen Leuten, die bei uns veröffentlichen wollen. Da würde ich mich auch nicht nur auf Innervisions beschränken. Das ist ein ganzer Kosmos, zu dem auch Exit Strategy oder Bigamo gehören. Was hängen bleibt, was im Set heraussticht, das kommt dann durch die Filter an und erscheint auf Innervisions und den anderen Labels. Im Berghain und in der fabric ist es uns dann aufgefallen, dass es tatsächlich 20 Jahre sind, weil da Leute aus der Anfangszeit gekommen sind. In São Paulo gibt es so eine 20-jährige Beziehung nicht, in New York ein bisschen. Genau das war der Moment, in dem uns eine Nostalgie überkam.

Das ist heute für die Jüngeren kaum noch vorstellbar: Eure Single „Rej” und die Gründung von Innervisions waren in Berlin kulturelle Momente, viele erlebten das als Beginn eines neuen Kapitels in der Geschichte der House Music. Wie erinnert ihr euch daran? Wie habt ihr das erlebt?
Kristian: Ich erinnere mich ja nicht dran, ich lebe ja im Hier und Jetzt. Das müsstet ihr sagen.
Was hat euch all die Jahre angetrieben? „We try not to release any bullshit on Innervisions”, habt ihr 2006 in einem Interview gesagt. „We’ve known each other for a long time and we still want to be doing this in ten years.” Damals hattet ihr Platz 2 des GROOVE-Leser:innenpolls erreicht – im letzten Jahr dann endlich Platz 1.
Kristian: Das hat etwas länger gedauert. (lacht)
Wie gelingt es euch, über so lange Zeit relevant zu bleiben? Die meiste Clubmusik, die vor 20 Jahren produziert wurde, ist längst Geschichte.
Frank: Ich glaube, wenn ich’s mal kurz mit der Âme-Brille sagen darf: Wir sind uns sehr bewusst, dass das etwas Besonderes ist. Ich glaube, das liegt auch daran, dass wir keine bestimmte Schublade bedienen. Auch wenn es im Nachhinein vielleicht so etwas wie einen Innervisions-Sound gibt, hab’ ich das nie so empfunden. Ich persönlich spiele noch am ehesten alte Sachen von uns. So oder so ist es eine extreme Ehre, dass wir nicht schauen müssen, was wir vor 20 Jahren gemacht haben, was wir jetzt wieder ausgraben könnten. Diesen Drang hatten wir auch nie.
Kristian: Es gibt eine enorme Menge an Musik, und es geht immer weiter. Meiner Meinung nach war das schon immer der Motor von House-Musik. Ich zitiere da gerne Kerri Chandler, der irgendwann – keine Ahnung, 1995 oder 1996 – gesagt hat: House absorbiert alles um sich herum, verarbeitet es und macht etwas Neues daraus. Und wir werden sehen, so Chandler weiter, dass House bald auch von den entlegensten Ecken der Welt kommt – dort machen die Leute etwas Eigenes daraus, Kwaito zum Beispiel. Da gibt es alles Mögliche. Dieser Motor hat sich nie geändert. Für mich ist das eine der wenigen Bestätigungen dafür, dass wir uns treu geblieben sind. Der Unterschied ist am Ende nur: Kommen dann 2.000 Leute zur Veranstaltung – oder nur 500?
Welche Rolle spielt dabei Berlin?
Kristian: Wir haben immer international gedacht, nie national oder nur an Berlin. Natürlich ist das unsere Heimatstadt und ich bin mit dem Berghain verbunden. Aber nur zu schauen, was hier gerade der heiße Scheiß ist – das hat uns nie interessiert. Unsere internationale Ausrichtung hat uns langfristig vielleicht auch geholfen.
Damals war es ja noch so, dass bestimmte Sounds für bestimmte Städte standen, Detroit-Techno etwa oder der Kompakt-Sound in Köln. Heute ist das völlig anders: Musik zirkuliert in der digitalen Sphäre, sie verbreitet sich sofort global. Vor 20 Jahren habt ihr aber in einem gewissen Moment den Sound of Berlin definiert. Ihr seid für eine bestimmte Aufbruchstimmung gestanden.
Kristian: Es war auf jeden Fall so, dass wir in dieser Zeit einen Hype hatten. Der Antrieb war aber nie, das zu erhalten und da weiterzumachen. Bei unseren Partys und Veranstaltungen war es auch so: Wenn etwas erfolgreich war, haben wir danach was anderes gemacht. Warum wir kein zweites „Rej” gemacht haben? Es hat uns schlichtweg nicht interessiert.

Frank: Wie Oli Kahn so schön sagt: Es gibt viele Bücher, die sagen, wie man nach oben kommt – aber keines, das dir erklärt, wie du dort oben bleibst. Das ist tatsächlich tricky. Uns ging es ja auch so: Es gab Jahre, in denen musikalisch nicht viel Relevantes passierte. Wir hatten keinen großen Erfolg mit dem, was wir gemacht haben – zum Teil haben wir auch kaum etwas veröffentlicht. Trotzdem ist das genau der schwierige Teil. Und aus der Perspektive von Innervisions finde ich, dass wir das gut hinbekommen haben: irgendwie relevant zu bleiben.
Euch ist gelungen, etwas zu erschaffen, das auch nach 20 Jahren noch nicht auserzählt ist. Das könnte man als deutschen Entwurf von House Music beschreiben, der auch einiges von jenseits des House-Kanons aufnimmt, der an einer bestimmten Modernität interessiert ist, der also auch in die Zukunft blickt.
Kristian: Immer weiter – das ist das Kerri-Chandler-Ding.
Wie siehst du das, Frank?
Frank: Das sehe ich genauso, auch wenn ich nicht immer dabei gewesen bin. Das ist nicht immer mein Stil gewesen.
Kristian: Den wir veröffentlichen. (lachen)
Frank: Das ist okay, ich weiß, dass das kein Schrott ist. Ich habe mich bewusst rausgezogen – oder wurde rausgezogen – (lachen). Schließlich lege ich seit 2010 nicht mehr auf und habe auch nicht mehr das Gefühl dafür, was eine gute DJ-Platte ist. Das musste ich beim Produzieren erst wieder lernen.
Ich habe euch früher, im Watergate zum Beispiel, gemeinsam an den CDJs erlebt.
Frank: Für mich haben wir gefühlt in Karlsruhe das letzte Mal zusammen aufgelegt, zumindest regelmäßig. Natürlich gab es Innervisions-Partys, wo wir dann am Schluss gemeinsam gespielt haben. Selbst in der Panorama Bar hat jeder eine Stunde gespielt.
Kristian: Bis 2010 haben ja am Wochenende meistens unabhängig voneinander zwei Shows gespielt.
Langfristig zahlt sich das aus, diese Crowd zu bespielen – das war in erster Linie eine künstlerische Entscheidung.
Kristian Rädle
Noch einmal kurz zum Thema Nostalgie: Der Label-Name, Innervisions, ist als Titel eines Stevie-Wonders-Albums von 1973 durchaus auf die Vergangenheit bezogen. Wie seid ihr auf den gekommen?
Kristian: Steffen [Berkhahn, Dixon] hatte damals die Inner-City-Partys initiiert, dort kam alles zusammen. Aus Inner City wurde Innervisions — auch im Sinne einer inneren Vision. Die Stevie-Wonder-Platte finden auch alle ganz toll – das passte einfach.
Frank: Die Idee war, dass das Label direkt an die Partys angeschlossen war.
Wir haben uns gefragt, ob Innervisions auch vom Sound her Vorbild war. Stevie Wonder ist auf dem Album klanglich mehr in die Tiefe gegangen als in den Alben davor und danach. Er hat die Möglichkeiten der Studiotechnik der Zeit ganz und gar ausgeschöpft. War das ein Vorbild für den komplexen, raumgreifenden Innervisions-Sound?
Frank: So weit ging das nicht, das hat einfach gut gepasst. Aber so genau kann ich das nicht sagen, das war ja Steffens Idee.
Kristian: Nein, der Titel war nicht Steffens Idee. Das ist im Prozess entstanden, auch mit Pierre [Becker, Innervisions Art Director].
Und wo kam Inner City her?
Kristian: Schon von Inner City. Und die Party fand in der Inner City statt, im Weekend.
Wir haben auch eine Frage direkt zu Âme: Ihr funktioniert in Underground-Clubs wie Fold, Bassiani oder Berghain. Gleichzeitig kommt eure Musik auch in den ganz großen Läden an, im Space Miami oder Pacha Ibiza etwa. Wie erklärt ihr euch das? Wie bleibt man für Menschen interessant, die sich wirklich für Musik begeistern, und erreicht trotzdem auch ein großes Publikum?
Kristian: Vielleicht, weil wir immer eine gute Balance zwischen groß und klein gehalten haben. Wir haben immer weiter in der Panorama Bar gespielt, wir haben immer auch im Robert Johnson gespielt. Langfristig zahlt sich das aus, diese Crowd zu bespielen – das war in erster Linie eine künstlerische Entscheidung.

Frank: Man kann es ja ganz allgemein sagen: Wir haben sehr große Shows gespielt, gleichzeitig war es uns aber wichtig, weiter für ein paar hundert Leute in kleinen Clubs aufzutreten. Einfach, weil wir die Atmosphäre mögen. Loco Dice hat mal eine „Under-500”-Tour gemacht, um für kleine Clubs zu werben. Da hat er nur in Clubs gespielt, deren maximale Kapazität bei 500 Gästen liegt. Ich mag den sehr gerne, bitte nicht falsch verstehen. Aber wir haben das einfach so gemacht, regelmäßig. Ich habe von ein paar Leuten gehört, dass sie das krass fanden, dass wir auf der Tanzfläche in der fabric und im Berghain getanzt haben. Für mich war das nicht so besonders. Ich tanze zwar nicht oft — aber anscheinend bleibt so etwas hängen.
Wir wollen noch über den Look von Innervisions sprechen. Ihr habt früh gesagt: Auch die Ästhetik ist entscheidend. Alle Platten sind aufwändig gestaltet. Ihr produziert ambitioniert Merch, zum Teil mit Partnern aus der High Fashion. So entsteht eine Art Gesamtkunstwerk. Hattet ihr da ein konkretes Vorbild, oder hat sich das organisch entwickelt?
Kristian: Ich glaube, das ist aus den Persönlichkeiten entstanden. Am Ende treffen wir die Entscheidungen doch selbst, lassen uns ungern von jemand anderem was sagen. Wir haben da eine klare Vision, obwohl man die ja nicht haben sollte, wie Helmut Schmidt gesagt hat. Wir haben eine klare Vorstellung, das hat uns immer geleitet. Das merkt man, wenn man einen Vertrieb hat, der einem ständig sagen will, wie man das jetzt machen soll.
Frank: Der eigene Vertrieb war am Anfang auch eine finanzielle Entscheidung. Viele Vertriebe wollten oder konnten nicht finanzieren, was wir machen wollten. Die Produktionen waren mit Full-Cover, Cut-outs oder Prägedruck einfach zu teuer. Der Vertrieb konnte da nicht mehr vernünftig daran verdienen, gleichzeitig wollten die Platten nicht teurer verkaufen. Für uns war das am Ende der Moment zu sagen: Die 50 Plattenläden auf der Welt, die am meisten von uns verkaufen, die kennen wir eh — die können wir direkt beliefern. Und dann kam dieses Ding, das Internet, dazu. Plötzlich gab es die Möglichkeit, einen eigenen Shop online zu machen.
Wie stellt ihr euch die Zukunft von Innervisions vor? Wie überlebt man im extremen Tempo der digitalen Welt?
Frank: Vermutlich wird es am Ende das sein, was wir schon immer gemacht haben: Nicht einen krassen Plan entwickeln, sondern einfach machen und uns Mühe geben. Das gilt immer noch für jeden, auch, wenn du zum Beispiel Schreiner bist. Wenn du dafür brennst und Bock hast, es gutzumachen: Mehr brauchst du nicht im Gepäck. Viele fragen mich: Wie schafft man es, gehört zu werden, mit den Releases? Dafür gibt es keine Formel. Du machst etwas, hinter dem du stehst – und du legst es auf den Tisch.
Kristian: Und du hast Glück. (lachen)

Wenn ihr in zehn Jahren das 30-jährige Innervisions-Jubiläum feiert: Wo seht ihr euch dann? Was wünscht ihr euch?
Kristian: Ich kann nicht in die Zukunft schauen. Ich lebe im Hier und Jetzt. Ich finde es wichtig, nicht nach hinten zu gucken und nicht zu weit nach vorne. Den künstlerischen Entscheidungen zu vertrauen, die man trifft. Dann kann man nur hoffen, dass das rezipiert wird, das kann man aber nicht kalkulieren. „Das wollen die Leute jetzt hören, da ist jemand, der das macht und deshalb kopieren wir den jetzt”: So haben wir da nie drauf geguckt.
Wie sieht der kuratorische Prozess bei Innervisions und den anderen Labels genau aus? Ihr bekommt viel Musik zugeschickt, oft von Leuten, mit denen ihr im Austausch seid, die euch vertrauen. Einiges davon spielt ihr in euren Sets. Wie geht es von da weiter?
Kristian: Ursprünglich war das noch nicht so. Damals hat man vor allem mit befreundeten Produzent:innen gearbeitet und aus diesem Pool ausgewählt. Dann gab es Künstler, die man toll fand. Die hat man gefragt, ob die einem etwas schicken. Über die Jahre ist das immer mehr geworden; der Pool wurde größer. Aber die kuratorische Entscheidung war immer dieselbe: Steffen und ich müssen es spielen — und wir müssen es beide gut finden. Es hat nicht funktioniert, wenn nur einer etwas mag und der andere nicht. Kompromisse gehen da nicht auf. Es gab einige Ausnahmen, wo man gesagt hat, man ist doch gut mit dem befreundet, jetzt machen wir das doch. Das hat aber nicht funktioniert. Von da an wurden wir ganz strikt.

Innervisions ist also die Schnittmenge aus zwei Geschmäckern.
Kristian: Es ist nicht der kleinste gemeinsame Nenner, sondern der größte. Inzwischen sind an diesem Prozess auch Bruno, Trikk und [Jimi] Jules beteiligt. Die Auswahl kommt heute also aus einem Pool von uns vieren. Aber auch da haben wir klar gesagt: Wenn nur eine Person etwas gut findet, hat das am Ende keine Chance. Mindestens drei von uns vieren müssen dahinterstehen. Wir kommen ja ursprünglich aus einem Kollektiv, dem Sonar Kollektiv. (schmunzelt) Da haben wir gelernt: Wenn man sich immer nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigt, sind die Erfolgsaussichten geringer.
„Früher hat man nach Labels gekauft”
Frank Wiedemann
Heute wird unglaublich viel Musik von einzelnen Leuten autonom veröffentlicht.
Kristian: Wir sind immer noch der Filter, der Gatekeeper, den es früher gab. Den gibt es bei uns immer noch.
Diese Kultur habt ihr bewahrt, obwohl sie heute nicht mehr nötig wäre.
Kristian: Sie existiert nicht mehr. Meiner Meinung nach ist sie auch heute noch notwendig – aber das ist nur meine persönliche Meinung.

Frank: Neulich hatte ich ein Gespräch mit Sebastian Mullaert. Da haben wir festgestellt: Früher hat man nach Labels gekauft. Man ging in den Plattenladen und hörte sich die neue Strictly Rhythm an. Vielleicht gilt das für DJs noch, aber für die meisten Musikkäufer ist dieser Ansatz weg. Stattdessen gibt es heute starke Marken. Keinemusik, Afterlife und vielleicht auch Innervisions. Die verkaufen sowas wie eine Welt. Da ist es immer noch notwendig, dass man nicht sagt, wir öffnen jetzt alle Tore, wir lassen jetzt alles rein. Da muss man sogar noch strenger sein. Wir sagen: Das ist unsere Welt, wir entwickeln die weiter mit Jimi und Bruno, damit das nicht stehen bleibt und mit uns altert.
Kristian: Mit uns alten weißen Männern. (schmunzelt)
Frank: Genau. Ich glaube, dass es immer noch Sinn macht, einen Filter zu haben. Der muss aber nicht das Label sein.
Kristian: Wenn man mehr veröffentlicht, bedeutet das nicht, dass man stärker rezipiert wird.
Als letzte Frage: Wie nehmt ihr die Szene im Moment wahr? Viele bemängeln, dass die junge Generation Probleme hat, den Zugang zur Clubkultur zu finden.
Kristian: Ihr habt vorhin gesagt, dass junge Leute heute oft keinen großen Unterschied mehr machen – ob jemand aus Hardtechno kommt oder von woanders her. Aber eigentlich war das früher auch schon so. Ich erinnere mich noch an den Plattenladen [Die Plattentasche in der Luisenstraße 56 in Karlsruhe, d.Red.]: Da kam ein Westbam-Fan rein, und wenn es gerade keine Westbam-Platte gab, hat man ihm etwas anderes vorgespielt. Wenn der offen war, hat der gemerkt: Da gibt es ja noch viel mehr. Heute ist das vielleicht ähnlich. Ein Hardtechno-Mädchen stolpert auf eine Innervisions-Party und merkt plötzlich: Das gibt es auch, und das ist vielleicht sogar spannend. So schärft sich der Geschmack nach und nach.