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Dezember 2025: Die essenziellen Alben (Teil 1)

Zu den Mixen des Monats aus dem Dezember 2025 kommt ihr hier.

Anthony Naples – In Studio Magic (ANS)

Der New Yorker Anthony Naples kehrt mit seinem siebten Studioalbum zurück, das die Tradition seiner Laufbahn fortsetzt, abwechselnd Ambient- und dann wieder Tech-House-LPs zu veröffentlichen. Während Orbs (2023) und Chameleon (2021) die sonnengetränkte, Gitarren-lastige Naples-Seite zur Schau stellten, war das letztjährige Scanners eine etwas enttäuschende, weil zu geradlinige und zu eindimensionale Dancefloor-Affäre.

In Studio Magic hingegen fängt wieder das magische Ambiente ein, das Anthony Naples am besten kann, wenn er sich nicht auf tanzbare Tropen beschränkt: schräge Synthies, weirde Details und Effekte – eine Stimmung, als ob man gerade aus einem Traum erwacht, von der Sonne geblendet wird und noch gar nicht weiß, ob man wirklich wach, geschweige denn wo man gerade ist. So wenig angenehm sich das vielleicht liest, so bezaubernd sind diese Soundscapes für Freunde trippiger elektronischer Kompositionen. Genug Melodie zum dahinschmelzen, genug Experimentierfreude zum Unterhalten. Eine mehr als würdige Fortsetzung Naples‘ spannender Diskographie. Leopold Hutter

Aquafaba – Plura (Kalahari Oyster Cult)

Hinter Aquafaba steckt der Däne Natal Zaks, auf dessen Discogs-Seite weitere 14 Soloprojekte und zehn Kollaborationen gelistet werden. Also umtriebig, der Gute. Plura wiederum kommt aus dem Lateinischen und bedeutet wörtlich „mehrere” oder „viel” und kann auch im Sinne von „wachsen lassen” oder „versprechen” benutzt werden. Ok, hier scheint eine:r nicht festgelegt zu sein. Spiegelt sich das auch in der Musik des Albums wider? Und wie.

Eintöniges findet sich nicht, stilistisch lässt sich Plura kaum fassen, außer dass es im weitesten Sinne Techno atmet, sich auf etliche Verästelungen dieses großen Genres aufpfropft und von diesen Knotenpunkten aus Neues wachsen lässt. Nicht im Sinne von Neuerfindungen, eher in Richtung eines Sich-zu-eigen-Machens. Das Album durchzieht etwa ein konsequenter Minimalismus, aber Minimal Techno geht anders. Auch sind Aquafabas ausgeprägte Klöppelexzesse nicht dem allgegenwärtigen und langsam öden oder mindestens überbewerteten Polyrhythmus-Trend zuzuordnen. Mit aktuellem Höchstgeschwindigkeits-Bumbum haben die sechs Tracks ebenfalls nichts zu tun, würden aber in vielen Sets angesagter DJs eine gute Figur machen, vor allem das abschließende „Let’s Go”. Genau, das Album umfasst nur sechs Stücke. Hier ist ebenfalls Reduktion angesagt, wie auch in den Arrangements der Tracks, die vollkommen auf Breakdown-Zirkus und sonstiges Brimborium verzichten, weil sie auch ohne Zuckerguss und aufgeblasene Backen groovy Glücksgefühle im Tänzer:innenhirn erzeugen. Mathias Schaffhäuser

Coco Bryce – Noches Sephardies (Rythmi Tou Kosmou/Myor)

Der im niederländischen Breda ansässige DJ und Produzent Yoël Bego alias Coco Bryce bleibt fleißig. Seit 2023 unzählige EPs und ganze fünf Alben. Das jüngste heißt Noches Sephardies. Es beinhaltet einen eklektischen, teilweise in der Oldschool verorteten Jungle- und Downbeat-Sound, der in seinen Samples Einflüsse aus traditioneller aserbaidschanischer Folklore, indonesischem Gamelan, kenianischem Taarab und alten sephardischen Hymnen vereint. Klingt abgedroschen, ist aber tatsächlich fast neu im Genre der schnellen Breakbeats. So wie hier eigentlich nur von Talvin Singh 1998 auf seinem fantastischen, mit dem Mercury Prize ausgezeichnetem Album Ok auf Albumlänge fesselnd verarbeitet.

Coco Bryce wird es sicher kennen. Wie auch Musik aus der Jetztzeit. Denn sein Jungle ist trotz Oldschool-Touch voll in der Gegenwart. Er hat Downbeat und Hip-Hop-Zonen und bleibt, egal in welcher Geschwindigkeit, eigentümlich hitzig. Fernöstliche Samples aus Gesang, Flöten, Gongs, Tabla oder Saiteninstrumenten verleihen den Tracks dabei einen variantenreichen Ethno-Zauber, der große Sogwirkung ausbreitet. Im weitverzweigten Œuvre des Coco Bryce tauchten solche Tunes aber bereits zu Anfang des Jahres auf, als er unter dem Alias Bougatsa Dream Tunnel augenzwinkernd rasant mit Ethno-Samples in der Breakzone überraschte. Michael Leuffen

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DJ Hell – Neoclash (International Deejay Gigolo)

Neoclash ist die Rückkehr zum eigenen Mythos. Helmut Josef Geier alias DJ Hell öffnet die Blackbox des frühen Electroclash und schreibt sie mit heutigen Mitteln neu. Der Albumtitel ist Programm: Clash, aber Neo eben. Die BPM-Zahlen schielen meist in Richtung Italo, Basslines übernehmen das Kommando und Hells stoische Kälte – jener mondäne Glamour – ist scharf wie eine neue Rasierklinge.

„Bang the Box” eröffnet mit klarer, kompromissloser Reduktion, die den Dancefloor kapert. „W.T.F.” fährt die rohe Energie des Electro hoch, während „Medusa” mit Donner Summer wie ein queerfuturistischer Sirenengesang schillert. „Purple People” kontrastiert sogar mit hellen Vibraphon-Versatzstücken und unkonventionellen Synth-Farben, die den Electro auf überraschende Weise aufbrechen. „Why? (feat. Joyce Muniz)” entfaltet sich als sakraler Spannungsbogen: hallende Vocals verschmelzen mit Dub-artigen Texturen, orientalisch-anmutenden Chords und Synths. Der Chorus eskaliert vom Heiligen ins Chaos und wird schließlich wieder eingefangen – Mensch und Maschine im Gleichklang? „Nation of House” erkundet die Ursprünge: nicht straight, sondern mit vibrierenden Electro-Lines, roughen Samples und sogar Miami-Bass-Referenzen. „The Rain” katapultiert in helle, positive Sphären: blubbernde Basslines und zischende Overheads erzeugen eine futuristische Euphorie à la Captain Future, die das Album zu einem kosmischen Höhepunkt – BPM zählen hier nicht mehr – führt. Schließlich setzt „No 1 Copy 2” den Reset: Rhythmus ist König. Reduziert auf den Floor, minimal, ohne Schnickschnack, mit Claps und Clockwork – straight durchgeschlagen, kompromisslos. Hier zeigt sich die Essenz von DJ Hells Konzept: klar, ikonografisch und auf die Wirkung im Club fokussiert. Hell versteht Electroclash nicht als Stil, sondern als (Re-)Set kultureller Codes: Camp, Pose, Ironie, Körper, Kälte, Überidentifikation. Neoclash deutet sie nicht nur aus, sondern übersetzt sie jetzt ins Clubvokabular. Neoclash ist Hell in Reinform. Liron Klangwart

Extrawelt – Dystortion (Cocoon)

Manchmal braucht es eine Weile, hin und wieder sogar Jahre, bis sich ein Phänomen so richtig erschließt oder seine Schönheit in Gänze durchdringt. Extrawelt – was für ein irre guter Name, gerade für ein Musikprojekt! Eine Welt neben oder außerhalb der vermeintlich wirklichen, eine Welt für sich. In diesem Fall für zwei Musiker und ihre Ideenflut. Wundervoll.

Und mit Dystortion beweisen Arne Schaffhausen und Wayan Raabe einmal mehr, dass dieser Raum, diese Abgrenzung funktioniert – egal wie auch immer darin das Kräfteverhältnis aussieht, wer da was hineinträgt oder aus dem Kraftfeld heraus saugt. Bands sind immer ein Wechselspiel von Austausch, Befruchtung, Geben und Nehmen und Klauen und mit Klauen verteidigen – die eigene Idee, die Rangfolge, was auch immer. Derlei Gerangel scheint aber, zumindest hörbar in der Musik, bei Extrawelt keine Rolle zu spielen. Dafür umso mehr das Ermöglichen von Freiheit. Und diese lässt Raabe und Schaffhausen Tracks komponieren und produzieren, die sich nicht um Marktregeln, Tanzfläche, Streamingdienst-Gängelung und Szene-Gequengel scheren. Ist das noch Techno und überhaupt Dance Music? Wurscht. Hier kommen Einflüsse aus Jahrzehnten zusammen, aus verschiedensten Spielarten der sogenannten elektronischen Musik, aus Popmusik, New Wave und New Order. Manche Stücke wirken wie Songs, denen die Gesangsspur abhanden gekommen ist, andere wie auf ihre Essenz zusammengekürzte Soundtracks, die gerade durch diese Verdichtung strahlen. Als Extraportion gibt’s das Album auf Dreifach-Vinyl. Die Firma dankt. Mathias Schaffhäuser

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