Die Mixe aus dem September findet ihr hier.
British Murder Boys – Recordings (Downwards)
Die Compilation Recordings führt in das kompromisslose Universum der British Murder Boys. Regis und Surgeon, seit jeher für den rohen Birmingham-Sound bekannt, bündeln hier die prägenden Momente ihres gemeinsamen Projekts in einer Sammlung, die sich wie ein Schlag ins Gesicht anfühlt. Statt mit dem für die frühen Zweitausender typischen Minimal-Sound werden Hörende mit spröden Texturen und dunklen Maschinen-Rhythmen konfrontiert, die sich unversöhnlich durch Hirne und Körper fräsen. Recordings versammelt das Hauptwerk der BMB, fünf Maxis, die zwischen 2003 und 2005 auf Downwards und Counterbalance erschienen sind, BMB1 bis BMB6 – BMB2 ist seltsamerweise nie erschienen. Diese Retrospektive erschien zwar schon 2015, aber nur als CD. Jetzt aber ist sie zum ersten Mal auch digital erhältlich.
„Learn Your Lesson” oder „Don’t Give Way to Fear” von BMB1 wirken dabei nicht wie Tracks, die sich in ein DJ-Set einfügen sollen, sondern wie Statements, die für sich stehen. Sie sind Zeugnisse von Wut und Unversöhnlichkeit, die eher den Clubraum aufbrechen wollen als Tanzende umschmeicheln. Zwischen Punk, Wave- und Industrial-Referenzen und Noise-Elementen formt sich ein Techno-Entwurf, der Reibung und Konfrontation sucht. Recordings ist dabei Rückblick und Manifest zugleich – brutal schön in seiner unnachgiebigen Wucht, die heute nicht mehr so vorstellbar ist. Wencke Riede

VA – 25 Years Cocoon Recordings – Volume One (Cocoon Recordings)
Im Hause Cocoon kommt man aus dem Feiern kaum noch raus. Labelmaestro Sven Väth zelebrierte gerade vier Dekaden hinter den Plattentellern mit der Retrospective Collection und einem frisch erschienenen Buch, schon macht der opulente erste Teil der 25-Jahre-Kollektion allen klar, dass das Frankfurter Label immer noch vorzugsweise in Gegenwart und Zukunft stattfindet. 14 neue Kompositionen im ersten Teil der auf zwei Kapitel angelegten Compilation beweisen nachdrücklich, dass Cocoon noch lange nicht genug hat.
Den Anfang macht der Wahlkölner Jonathan Kaspar, mit seinem Doppel-Release Twofold bereits maßgeblich verantwortlich für unvergessliche Clubnächte anno 2025. „Her” verzaubert mit einer traumhaft schönen Synthie-Hookline, die nach sommerlicher Ekstase an balearischen Stränden mundet und schon jetzt in meinen Jahrescharts ganz weit oben steht. Weil’s so schön ist, bleiben wir ruhig noch ein bisschen im Neotrance und genießen die mit EBM-Strenge vorgetragenen String-Opulenzen von Frank Sonic und Dist_42 in „Silberschwein”, während der Israeli Guy J in „Alive Again” auf perkussive Shuffle-Momente mit Sirenen-Bombast und Ibiza-Dub setzt. Ansonsten überzeugt 25 Years – Volume One durch einen clevere Auswahl mit alten und neuen Gesichtern: Butch zeigt sich bei seinen Tribalesken mit „Straight Trippin” diesmal ungewohnt verspult-verspielt, Josh Wink begrüßt wohlgemut Chicago-Trax-Einflüsse im Jahr 2025, während Johannes Volk mit „Vaporized Memories” den Master-Reese-Sound von Kevin Saunderson entstaubt. Altern darf auch Spaß machen! Jochen Ditschler

VA – Continental Drift (RAIDERS)
Das Kollektiv RAIDERS existiert seit mittlerweile sechs Jahren und hat sich zum Ziel gesetzt, Bass Music und die an sie angrenzenden Genres möglichst schillernd abzubilden. Für die aktuelle Compilation Continental Drift hat man dafür Coco Cobra konsultiert, die satte 17 Tracks zusammengestellt hat.
Und diese zeugen nicht nur von druckvoller Produktion wie etwa Insomniasts Jungle-Footwork-Fusion „Well This Is Awkward”, sondern warten mit einem hohen Niveau an Kreativität auf. Coco Calypsos „Pullup” zerhackt die Stimme der Berlinerin über einem detroitigen Ghetto-House-Fundament und beweist so einen spielerischen, mutigen Umgang mit den eigenen Vorzügen, der an Lil Mz. 313 erinnert, ohne zu kopieren. Doch längst nicht jeder Track sucht mit Vocals Floor-Geradlinigkeit, es gibt genug Platz für Nachdenklichkeiten, wie schon der Opener zeigt: Yungfya offenbart mit „No Tears 4 U” mollige, melancholische Schattierungen eines Genres, das man zuvorderst mit offensiver Partytauglichkeit assoziiert. Hier kontrastiert stringentes Footwork-Drumming wehmütige Strings und leiernde, charakteristische Akkorde, was anmutet wie eine Hommage an DJ Rashads Großtaten. In eine ähnliche Kerbe schlägt BC3s „Pura Pura”, allerdings in glatterer, metallener Ästhetik. Die Dänin CAYOOTEE spendiert mit den „Yalla Breaks” ein Tool, das die Internationalität sowie die kulturelle Diversität spiegelt, der sich das Kollektiv Zeit seiner Existenz verschrieben hat. Bass Music, Jungle, Footwork und weitere Hibbeligkeiten versieht man auf CONTINENTAL DRIFT nicht nur mit stilistischer Varianz, schon die Auswahl der Producer:innen selbst signalisiert eine Offenheit für so ziemlich alle denkbaren Einflüsse – HEDDAs aufgekratztes UK-Geballer, Zoë McPhersons introvertierten Reggaeton-Jungle, der wohl die meisten Stimmungen auffächert, oder DJ Fucks Himselfs hallenden Footwork mit deutschen Vocals. Diese Compilation ist ein Auf und Ab, ein Wirbelwind aus Breaks, ulkigen Ideen und gefühlvollem Tiefgang. Maximilian Fritz

VA – Desire: The Carl Craig Story (Planet E)
Carl Craig: Sehnsucht ist keine bloße intellektuelle Retrospektive. Seine Compilation alter Erinnerungen ist eine Erzählung der Frequenzen, ein auf Bi-Polarität gepresster postindustrieller Disco-Traum der Neunziger und Zweitausender, der technoide Disco-Geschichte mit emotionaler Tiefenschärfe verbindet. Diese Retro-Sehnsucht alter Clubhits ist ein eleganter Ritt durch die Ruinen unserer weit entfernten Zukunft – ein musikalisches Essay, das Clubmusik nicht als Funktion, sondern als Philosophie begreift. Wer genau hinhört, erkennt die Spuren der Munich Disco: Jener besonderen Liaison aus Aufbau-Euphorie und Marshallplan, bevor das Studio 54, die Paradise Garage, das Warehouse, The Electrifying Mojo die deutschen Klanglabore, die Giorgio Moroder einst mit dem ersten Moog-Prototyp zur globalen technoiden Blaupause machte, goutierten. Craig ist kein Epigone, doch ist er ein aufmerksamer Hörer. Die Art, wie Arpeggios pulsierten, wie Streicherflächen aufbrachen, das hatte etwas Münchnerisches – diese hochproduzierte Eleganz, die mit jeder Note vom Tanz träumte. Nicht umsonst tauchte er tief in die Pattern-Vergangenheit von Donna Summer und Co. ein, nur um sie durch die dreckig-geilen Rolltreppen-Filter Detroits neu zu denken. Das ist Musik für Menschen, die wissen, dass die Nacht ein Ort der Transformation ist. Desire ist kein Museum, sondern ein lebendiger Raum, in dem sich der Glamour der Diskothek mit dem strukturellen Widerstand der Detroiter Subkultur verbindet. Craig war seit jeher ein Flaneur zwischen diesen Welten, ein Vermittler zwischen Stahl und Samt. So klingt Techno, wenn er Geschichte kennt – und trotzdem umso mehr tanzen kann. Mirko Hecktor

VA – Telepathic Fish: Trawling The Early 90s Ambient Underground (Fundamental Frequencies)
Nomen est omen – mit Trawling The Early 90s Ambient Underground öffnet Telepathic Fish ein Fenster in die Chill-Out-Zone des frühen Londoner Undergrounds der Neunziger. Anders als die hektischen Hardcore-Raves ihrer Zeit boten besagte Partys ein „wombeldelic sound-and-light bath”, wie es der britische Musikjournalist Simon Reynolds beschrieb – ein Raum, in dem Ambient, Klangkunst und Installation zusammenflossen.
Auf zwei LPs versammelt die feine Compilation einige Stücke, die zwischen 1992 und 1995 in den Südlondoner Partykellern, Squats und VIP-Lounges liefen. Hinter dem Projekt standen Chantal Passamonte alias Mira Calix, David Vallade, Mario Aguera und Kevin Foakes alias DJ Food – gemeinsam als Openmind bekannt. Mit Unterstützung von Mixmaster Morris und Matt Black schuf man frühe Chill-Out-Events, die heute als legendär gelten: von Megatripolis über The Big Chill bis hin zu illegalen Neujahrsfeiern im Roundhouse.
Die Trackauswahl lässt Erinnerungen wach werden: So vermittelt Nightmares On Wax‘ „Nights Interlude” eine traumhafte, beinahe introspektive Stimmung, während Insides‘ „Skinned Clean” mit reduzierten Texturen und subtil pulsierenden Beats einen stillen Groove entfaltet, der das intime Ambiente der Partys spürbar macht. Etwas verspielter, fast kosmisch wirkt Keiichi Suzukis „Satellite Serenade (Trans Asian Express Mix)”, das mit seiner luftigen Melodik und zarten Synth-Arpeggios eine weite, panoramische Klanglandschaft öffnet. Mein Highlight, ziemlich retro, aber auch heute noch klasse. Und nicht zuletzt zeigt Tranquility Bass’ „Cantamilla Bomb Pop” die verspielte, experimentelle Seite der frühen Ambient-Underground-Bewegung, in der Genregrenzen verschwimmen und kreative Freiheit alle Räume durchdringt.
Die Compilation erzählt nicht nur musikalische Highlights, sondern auch die Geschichte einer Bewegung, in der so unterschiedliche Künstler wie Aphex Twin, Andrea Parker oder Tony Morley die Räume teilten. Das 20-seitige Booklet mit persönlichen Fotos, Artworks und Memorabilia ergänzt das Hörerlebnis zu einem visuellen Archiv. Die Tracks oszillieren zwischen meditativer Entrücktheit und subtiler Rhythmik, oft begleitet von Licht- und Rauminstallationen, die damals integraler Bestandteil der Partys waren.
Trawling The Early 90s Ambient Underground ist nicht nur eine Rückschau, sondern ein lebendiges Dokument kollektiver Kreativität: die Verschmelzung von DJing, Performance, Ambient-Design und DIY-Kultur. Londoner Künstler definierten hier Räume neu, in denen Klang, Bewegung und visuelle Erfahrung zu einem kaleidoskopischen Ganzen verschmolzen. Wer eintaucht, erlebt die frühen Neunziger nicht als verstaubtes Relikt, sondern als lebendigen, farbigen Mikrokosmos des Ambient-Undergrounds. Liron Klangwart
