Elektronische Musik aus Lateinamerika findet längst global statt, auch in Europa. Genres wie Latincore und Baile Funk inspirieren immer mehr Partys und Künstler:innen. Doch die Bewegungen, die dahinterstehen, könnten unterschiedlicher kaum sein: während Latincore Post-Club-Ästhetik mit verzerrten Vocals und BPM ab 150 verbindet, entstand Baile Funk als Stimme der Favelas.
GROOVE Autorin Yeliz Demirel hat Partys in Prag und Wien besucht und mit Paulah von Nofuture Berlin über die Entwicklung der Bewegungen und die Herausforderungen, die damit einhergehen, gesprochen – von Verwechslungen bis hin zur Frage nach Sichtbarkeit. Ein Dialog über die Kraft der lateinamerikanischen Clubkultur, die weit über den Dancefloor hinausgeht.
Ein skurriler Mix aus Dubstep, Trap und Baile Funk hallt durch die kühlen Wände des Fuchs2. Zum zweiten Mal widmet sich die Latincore-Party in Prag, diesmal in Kollaboration mit der Reihe Fuego aus dem Razzmatazz, einem renommierten Club aus Barcelona, eine Nacht lang den musikalischen Trends Lateinamerikas. Naguiyami zelebriert mit strassbesetzter Barcelona-Cap eine mitreißende Brazilian-Funk-Anthem nach der anderen. Sausha, die aus Kolumbien stammende Newcomerin, bekannt durch ihren Boiler Room für Snow Strippers in New York, entführt die Crowd mit einem Mix aus knirschendem Breakcore, unheilvollem Industrial und Latin Club, getragen von einem dröhnenden, einschüchternden Bass. Die Wände vibrieren.

Nicht nur im Fuchs2 wird dieser Sound gefeiert: Latin Club, häufig auch als Latincore bezeichnet, hat längst die Tanzflächen erobert. „Cumbia-Perkussions-Samples hört man in Tech-House-Tracks oder selbst den Einfluss von Dembow in modernem Techno”, erklärt Paulah, DJ und Label-Chefin von Nofuture Berlin. „Auch der Einsatz von Samples und Texten aus lateinamerikanischer Musik ist auffällig – von alten Reggaeton- oder Latin-Hits bis hin zu zeitgenössischen Underground-Tracks.”
Edgy und irgendwie intelligent
Obwohl Latin Club und Latincore in den letzten Jahren stark an Bedeutung gewonnen haben, ist die Verschmelzung lateinamerikanischer Musik mit elektronischen Stilen nicht neu. Bereits in den Neunzigern etablierte sich das Genre Cumbia Digital, das klassische Cumbia-Rhythmen mit elektronischen Elementen kombinierte. Das argentinische Label ZZK Records spielte in den Zweitausendern eine besonders zentrale Rolle, indem es Künstler:innen wie Chancha Vía Circuito oder Animal Chuki veröffentlichte.
Paulah beschreibt die Entwicklung von Latin Club als Austausch zwischen den musikalischen Traditionen Lateinamerikas und der europäischen Clubkultur.
Besonders Cumbia hat in der modernen lateinamerikanischen Clubmusik eine große Bedeutung. Ihr Groove entsteht durch die Kombination von Guacharacas und Güiras, hölzerne und metallische Percussion-Instrumente, die das rhythmische Fundament vieler Tracks bilden. Diese Sounds haben sich über Jahrzehnte weiterentwickelt und beeinflussen heute zahlreiche Produktionen. Man hört sie in Tracks wie Nick Leóns „Grito” oder den modernen Cumbia-Interpretationen von Fumaratto & Baztez.

Im neuen Wiener Club Jolly Roger präsentiert der brasilianische DJ João Lágrima de Ouro seine maximalistischen Sets. Ein zappelndes XD-Emoji bewirbt die Veranstaltung auf Instagram – ironische Referenzen an die Schulzeit. Jersey-Club-Beats und epische EDM-Vibes verschwimmen in einem ekstatischen, unscharfen Ganzen, edgy und irgendwie intelligent. Über den Dancefloor schwingen Sneaker-Wedges, Fellwesten und glänzende Pufferjacken – XXL-Optik, ein Hauch von Glamour: Post-Internet-Ästhetik und gleichzeitig zehn Jahre in der Zeit zurückversetzt. Nostalgie und Avantgarde, vereint im selben Moment. João selbst steht mit weißem Cowboyhut, durchgehender Sonnenbrille und In-Ear-Kabelkopfhörern hinter den Decks. Überladen von Soundeffekten und musikalischen Stilbrüchen, schafft der Chu-Cha-Cha-Chu-Cha-Rhythmus etwas Orientierung in dem überrumpelnden, doch stimmigen Set.
Inmitten des Wirbels aus Genres und musikalischen Einflüssen aus Lateinamerika zeigt sich, wie rasch komplexe Klanglandschaften in eine Kategorie gepresst werden können. Paulah beschreibt die Entwicklung von Latin Club als Austausch zwischen den musikalischen Traditionen Lateinamerikas und der europäischen Clubkultur: „Latin Club wurde zu Latin Club durch die Begegnung des europäischen Dancefloors mit der spanischsprachigen Diaspora in Europa, vor allem durch die Verwendung von Ableton und anderer Produktionsprogramme sowie die Wertschätzung lateinamerikanischer Rhythmen wie Merengue, Cumbia, Ranchera, Tribal, Reggaeton, Dembow, Guaracha, Baile Funk und vieler mehr.”
Rein ins Rabbit Hole
Da kommt es nicht selten vor, dass unterschiedlichste Genres synonym verwendet werden, zumal Latin Club bekannt für seinen Multi-Genre-Charakter ist, wie Paulah meint. „Wenn eine Musikszene oder Eventreihe wächst, entstehen oft Begriffe, die sie greifbarer machen”, erklärt Paulah. „Die Clubszene ist heute so vielschichtig, dass solche Kategorisierungen helfen können, musikalische Strömungen einzuordnen – besonders für Menschen, die sich nicht so tief in der Szene bewegen.”
Die aufkommende Ambivalenz der Kategorisierung ist dabei unvermeidlich: „Für einige führt das zu Ablehnung oder Übersättigung. Für andere öffnet es ein endloses Rabbit Hole in die Welt von SoundCloud, Bandcamp und Co. und ermöglicht, Künstler:innen zu entdecken, die von diesen Rhythmen inspiriert wurden. Wobei sich sicherlich nicht alle mit der Bezeichnung Latincore oder -Club identifizieren.”
„Die Clubszene ist heute so vielschichtig, dass solche Kategorisierungen helfen können, musikalische Strömungen einzuordnen.”
Viele Künstler:innen innerhalb der Szene sehen diese Begriffe kritisch, weil sie suggerieren, dass alle lateinamerikanischen elektronischen Sounds unter einer einheitlichen Bezeichnung zusammengefasst werden können. CRRDR machte dies mit einem Meme deutlich: Eine Person aus Lateinamerika zeigt auf eine detaillierte Genre-Karte mit Bezeichnungen wie Uwuaracha, Merenguecore oder Raptor House, während eine europäische Person nur „Latin Club” liest.
Die Szene selbst ist wesentlich diverser als dieser Oberbegriff vermuten lässt, doch außerhalb lateinamerikanischer Musikkreise wird sie oft in eine einzige Schublade gesteckt. Während Musikrichtungen wie House oder Techno auch ohne geografische Zuschreibung funktionieren, wird elektronische Musik aus Lateinamerika fast immer explizit als Latin markiert. Das offenbart die oftmals eurozentrische Sichtweise, aufgrund der Genres aus dem Globalen Süden mit einer territorialen Zuschreibung bedacht werden.

Paulah wuchs in Madrid auf und kam früh mit elektronischer Musik in Berührung – über die Eurodance-Tracks ihrer Schwester, die durch das Haus schallten. Reggaeton begleitete sie von klein auf: Ordner über Ordner von Reggaeton-Tracks. Später tauchte sie in die Clubkultur ein, zunächst mit Drum’n’Bass, Dubstep und Techno in Madrids Clubs. Mit dem Umzug nach Berlin suchte sie nach Alternativen zur allgegenwärtigen Technoszene, kehrte zu ihren musikalischen Wurzeln zurück und schuf einen Treffpunkt für die spanischsprachige Community. Heute verbindet sie als DJ, Musikforscherin und Kulturvermittlerin Einflüsse aus dem Globalen Süden mit elektronischer Musik.
Machofreie Partys
Ursprünglich gründete PaulahNo Future Berlin als Online-Projekt und veranstaltete zunächst vor allem Raves in den Wäldern rund um Berlin. „Ich wollte von Berlin aus meinen Teil zu diesem Sound beitragen – die Leute waren total neugierig”, erklärt sie. „Raveton” wurden ihre Raves genannt, erinnert sie sich lachend. Heute ist das Kollektiv bekannt für queere und machofreie Partys, „sassy und hot”, fernab von Posen und protzigem Verhalten.
„Es ist völlig normal, dass nach einem energiegeladenen Rave plötzlich eine ausgelassene Salsa-Session folgt.” Sie schwärmt von Veranstaltungen im Fitzroy oder in der Panke, die sowohl Musik als auch politische Themen auf dem Dancefloor vereinen: „Heutzutage wollen die Menschen nicht mehr nur feiern. Dieselben Leute, die du auf einer Demo siehst, tanzen abends mit dir im Club”, inspiriert von einem Gemeinschaftsgefühl, „von der U-Bahn-Station Wedding bis zum Club und wieder zurück.”
„Die Hürden für Migrant:innen, sich außerhalb dieser Szene zu etablieren, sind hoch.”
Musik sollte niemals isoliert betrachtet werden, meint Paulah. „Sie hat immer einen Kontext. Wer diesen ignoriert, verkennt die Bedeutung dieser Rhythmen.” Paulah fordert deshalb größere Unterstützung durch Festivals und Clubs, um Künstler:innen aus Lateinamerika stärker zu fördern. „Das darf nicht nur an kleinen Promoter:innen oder der lokalen Szene hängen bleiben, während Künstler:innen selbst ihre Europa-Touren auf die Beine stellen müssen.”

Für viele Migrant:innen bietet Musik Halt und ein Gefühl von Gemeinschaft inmitten aller Herausforderungen in der Fremde. Vieles entsteht dabei aus DIY-Bewegungen, queer-feministischen Kollektiven und Communitys, die sich bewusst außerhalb der etablierten elektronischen Musiklandschaft positionieren. Partys wie Putivuelta oder House of Tupamaras sind nicht nur Orte für neue Musik, sondern fungieren auch als Räume für Community-Building.
Paulah beschreibt, wie essenziell es für die lateinamerikanische Diaspora in Europa ist, ihre Musik in den Clubs zu hören: „Es bringt Nostalgie, Repräsentation und Identität.” Leider findet sich diese Repräsentation oft ausschließlich innerhalb der Clubkultur. „Die Hürden für Migrant:innen, sich außerhalb dieser Szene zu etablieren, sind hoch”, erklärt sie weiter. „Sprache, Bürokratie, fehlende Netzwerke – all das macht es schwer. Clubkultur bietet dabei eine Community, die diese Barrieren zu überwinden hilft.”