Vor wenigen Jahren hätte DJ Babatr nicht gedacht, dass Raptor House, der Sound, den er in den Zweitausendern in den Armenvierteln von Caracas entwickelte, eines Tages auf weltweiten Bühnen erklingen würde. „Früher nannten sie mich verrückt. Jetzt wird der Verrückte als Genie gefeiert”, stellt der Venezolaner ungläubig fest.
Dabei ist Raptor House weit mehr als nur ein Musikstil – er ist Ausdruck einer Jugend, die mit sozialer Ausgrenzung, Rassismus und Klassismus konfrontiert ist. Lange Zeit unter dem Radar geblieben, fand Raptor House in den letzten Jahren internationale Anerkennung – nicht zuletzt durch Babatrs Zusammenarbeit mit Nick León und die Veröffentlichung von „Xtasis” auf TraTraTrax.
Heute spielt Babatr auf Festivals in Europa und den USA, während sich die Wahrnehmung seines Sounds in Venezuela selbst verändert. GROOVE-Autorin Yeliz Demirel wollte von DJ BABAtr deshalb wissen, wie Raptor House von einer marginalisierten Underground-Bewegung zu einem international gefeierten Genre wurde. Und wie es sich anfühlt, nach Jahrzehnten der Nichtbeachtung endlich Anerkennung zu erfahren.
Raptor House, auch bekannt als Changa Tuki, ist tief in den Barrios von Caracas verwurzelt – ein Sound des Widerstands, geboren aus der Rebellion einer Jugend, die mit den harschen Herausforderungen ihrer Umgebung konfrontiert war. „Es liegt an uns, den Menschen den Kontext zu erklären”, betont Pedro Elias Corro alias DJ Babatr im Videocall.

Der Sound sei in den oft übersehenen Vierteln von Venezuelas Hauptstadt entstanden, so Corro. Raptor House spiegle die soziale und politische Realität seiner Ursprungsorte wider. „Sein Ursprung ist zweifellos das Ergebnis einer sozialen Implosion. Wir als Jugendliche haben damals nicht begriffen, dass wir Teil eines politischen Wandels waren, der uns zu Rebellen machte. Wir waren in den Diskotheken nicht willkommen – weil wir aus den Barrios kamen, weil wir Jugendliche mit dunkler Hautfarbe waren”, erklärt Corro mit spürbarem Nachdruck.
Ventil gesucht, Party gefunden
Die Musik war von Anfang an geprägt von einer kraftvollen, fast wütenden Energie. Die ersten Veranstaltungen seien komplett DIY gewesen, sogenannte Matinées, bei denen Highschool-Schüler:innen zwischen 15 und 17 Jahren voller Enthusiasmus und auf der Suche nach einem Ventil gefeiert haben.
Die Partys fanden tagsüber statt. Dadurch habe man die Altersbeschränkungen der Clubs umgehen können. An improvisierten Orten, zwischen Hochhäusern, in Parkhäusern oder in leerstehenden Gebäuden. „Uns hat nicht das Geld interessiert. Es ging darum, Musik zu machen und zusammenzukommen. Es war eine wunderschöne Atmosphäre – fast frenetisch, weil es so lebendig und jugendlich war”, erinnert sich Corro.
„Ich war ein krankhafter Melomane mit einer riesigen Leidenschaft für elektronische Musik aus Europa.”
Die Musik sei schon damals darauf ausgerichtet gewesen, Tänzer:innen anzusprechen. Corro habe immer eine enge Beziehung zu den sogenannten Tukis unterhalten. Eine Bezeichnung, die in der Gesellschaft oft abwertend gebraucht wird, aber auf die markante Ästhetik anspielt, die von gefärbten Haarspitzen bis hin zu funkelnden Jordans reichte.
Basketball und Fruity Loops
Inspiriert wurde Corro von den europäischen Klängen, die in den Neunzigern die Radios beherrschten: Eurodance, New Beat, Acid House und Techno. „Ich war ein junger Kerl, ich liebte Basketball – und ich liebte Radioshows. Ich war ein krankhafter Melomane mit einer riesigen Leidenschaft für elektronische Musik aus Europa”, erinnert er sich. „Meine Anfänge als Produzent waren im Grunde eine Flucht vor der Gewalt in meiner Nachbarschaft.”

Die Straßen von Caracas waren zur damaligen Zeit von sozialen Unruhen und wachsender Kriminalität geprägt. Besonders in den Barrios, wo Perspektivlosigkeit, Diskriminierung und staatliche Vernachlässigung das Leben bestimmten. Auseinandersetzungen nach Partys endeten nicht selten in Gewalt, und die Changa-Kultur wurde zunehmend kriminalisiert.
Inmitten dieses Umfelds zog sich Corro in das kleine Apartment zurück, das er mit seiner Großmutter teilte. Mit einer frühen Version von Fruity Loops entstanden dort die ersten Tracks, die später den Sound von Raptor House definieren sollten. 2002 produzierte er „Las Lomas” – jenen Track, mit dem das Genre später bekannt wurde.
Spaß? Angriff!
Die Genrebezeichnung „Raptor House” sei übrigens nach einem Kinobesuch entstanden, sagt Corro. „Wir hatten Jurassic Park gesehen und waren fasziniert von den Velociraptoren. Sie waren die Intelligentesten, aber wirkten gleichzeitig wie eine Bande von Spaßmachern. Dabei agierten sie strategisch, schlossen sich zusammen und griffen im Rudel an. Genau so wollten wir auch sein – wir wurden immer unterschätzt und haben uns dumm gestellt”, sagt Corro grinsend und hält verschmitzt eine Plastikdinofigur in die Kamera.
Die Szene, die überwiegend von schwarzen Künstler:innen und Tänzer:innen aus den ärmeren Schichten geprägt war, stand in der venezolanischen Gesellschaft im Schatten des tief verwurzelten Klassismus und Rassismus. Schließlich zwang die ständige Konfrontation mit Gewalt und die stark kriminalisierte Gemeinschaft um Raptor House Corro, sich von seiner Karriere als Musiker abzuwenden. 2008 kehrte er in seinen erlernten Beruf als Autolackierer zurück und widmete sich seiner Familie.
„Ich lebe nicht die große Show.”
Viele Jahre später bemerkt Corro, dass jemand 100 Dollar für seine Tracks auf Bandcamp ausgegeben hatte. „Eine ungewöhnlich hohe Summe”, wie er meint. Kurz darauf schrieb ihm der US-Producer Nick Léon eine Nachricht und bekundete sein Interesse an der Musik. Schließlich schickte ihm León eine Demo – ein unfertiger Song-Entwurf, der Corro zunächst nicht ganz überzeugte.
Doch er begann daran zu arbeiten, veränderte den Groove, fügte neue Elemente hinzu und gab dem Track seine eigene Handschrift. Als „Xtasis” schließlich fertig war, landete der Song über TraTraTrax in den Clubs und wurde schnell zu einem Hit. Durch den Pearson-Sound-Remix verbreitete er sich schließlich weltweit – und brachte Corro 2023 erstmals auf die Festivalbühnen Europas.
Kein Leben als Rockstar
Die Musikwelt begann, den eigensinnigen, unverkennbaren Sound von Raptor House zu entdecken. „Ich muss Gott dafür danken, dass ich nicht aufgegeben habe, trotz all der Dinge, die mir auf meinem Weg passiert sind”, sagt Corro heute. Der plötzliche Erfolg ist für den nach eigener Beschreibung eher zurückhaltenden Producer immer noch unbeschreiblich: „Entschuldige, dass ich das so venezolanisch ausdrücke – aber ich lebe nicht wie ein Rockstar, ich lebe nicht die große Show.”

Mittlerweile feiern allerdings auch Corros Tracks „Toca” oder „The Journey” internationale Erfolge. DJ Babatr ist ein Künstler, der seine Leidenschaft für Musik spürbar auf die Tanzfläche überträgt. „Ich habe das Glück, dass die Leute während meiner Sets eine starke Verbindung zu mir aufbauen – es fühlt sich an, als wäre ich ein Teil des Publikums.”
Die längst überfällige Anerkennung für eine Bewegung, die er maßgeblich geprägt hat, ist ihm endlich zuteilgeworden – für einen Sound, der ihm einst Diskriminierung und Gewalt entgegenschlug, heute jedoch als kraftvolles Symbol des kulturellen Widerstands gefeiert wird.
Meine Musik hat eine viel stärkere Verbindung zum Techno der Neunziger.”
Für Babatr ist es deshalb an der Zeit, über die vielfältigen musikalischen Einflüsse von Raptor House aufzuklären und Missverständnisse auszuräumen. „Es gibt zu viel Desinformation. Ich musste eine Gesprächsrunde organisieren – Menschen müssen wissen, was Raptor House ausmacht und welche Geschichte dahintersteckt.”
Die fehlende Differenzierung
Oft werde Raptor House außerhalb Venezuelas fälschlicherweise mit Guaracha gleichgesetzt, dabei seien die Unterschiede offensichtlich: „Guaracha richtet sich an eine jüngere Generation und basiert auf anderen Produktionsweisen – mit charakteristischen Basslines, Reggaeton-Elementen und Vocals. Meine Musik hingegen hat eine viel stärkere Verbindung zum Techno der Neunziger”, so Corro.
Die fehlende Differenzierung vieler internationaler Produzenten sei problematisch, weil sie die kulturelle Eigenständigkeit von Raptor House verwische. Dabei sei dieser Sound nicht nur eine klangliche Innovation, sondern eng mit der urbanen Straßenkultur und der sozialen Realität in Caracas verwoben.

Zu Favela Funk, auch bekannt als Baile Funk, einem Stil aus Brasilien, empfindet Corro trotz der musikalischen Unterschiede eine starke Verbindung im Ursprung. „Favela Funk stammt ebenfalls aus den tiefsten Barrios – ein bodenständiger und authentischer Stil, genau wie Raptor House. Wir teilen ähnliche Wurzeln, auch wenn unsere Klänge unterschiedlich sind.”
Vom Bordstein zur Skyline
Für DJ Babatr, der mit seinem Sound europäische Dancefloors erobert hat, bedeuteten Gigs auf dem Kontinent eine emotionale Befreiung. „Beim ersten Mal, als ich hier gespielt habe, habe ich vor Freude geweint. Ich sah, dass die Menschen meine Kunst mehr schätzten als in meinem eigenen Land. Im Grunde hat Europa Raptor House validiert. Die Menschen empfingen meinen Sound, als ob sie ihn bereits kannten – wie eine tropische, karibische Interpretation ihrer eigenen Musik.”
Diese Anerkennung hat jedoch auch eine Veränderung in der Wahrnehmung von Raptor House in Venezuela bewirkt. „Das Publikum in meiner Heimat hat sich stark verändert”, so Corro. „Früher war es die Jugend aus den Barrios, die meine Musik gehört hat. Heute ist es ein wohlhabendes Publikum, vorwiegend aus der oberen Mittelschicht. Nun akzeptieren sie meinen Sound, weil sie sehen, dass er international gespielt und gefeiert wird.”
„Ich bin stolz darauf, woher ich komme.”
Babatr betont, dass Raptor House trotz der Veränderungen seine Wurzeln nie verloren hat: „Ein guter Raptor-House-Track braucht eine markante Synthesizer-Line, eine treibende Bassline, Percussion und immer auch einen Moment, in dem die folkloristischen Rhythmen Venezuelas spürbar werden. Die Percussion ist essenziell – sie verbindet die Musik mit den Trommeln der Barrios.” Mit der Zeit entwickelte sich Raptor House jedoch weiter, nicht zuletzt durch Babatrs Reisen nach Europa und den Einfluss der internationalen Clubkultur.

„Früher war der Klang fast schon brutal – auf eine Weise ist der Sound immer noch aggressiv; jedoch beinhaltet er mittlerweile mehr Melodien und ist insgesamt raffinierter arrangiert”, so Corro. Die Reisen haben den Sound zwar verändert, doch die Grundmoral bleibt bestehen. „Raptor House ist das Ergebnis einer Rebellion von Jugendlichen – eine bleibende Identität der Barrios im Westen von Caracas. Egal wie meine Musik aufgenommen wird, ich bin stolz darauf, wer ich bin und woher ich komme.”