2024 dürfte das Jahr des britisch-amerikanischen, aktuell von Berlin aus operierenden Produzenten Adam Wilkie-Dove werden. Unter dem afrofuturistisch-anspielungsreichen Projektnamen Nexcyia hat er dieses Jahr gleich zwei Albumdebüts veröffentlicht, in denen er einen frühvollendet-eigenwilligen Begriff von Ambient, Field Recordings und der Nutzung von Samples entwickelt. Selbst in der Wahl der Veröffentlichungsplattformen zeigt Wilkie-Dove Spürqualitäten. Einmal wäre da das exquisite Mailänder Industrial-Label Haunter, auf dem mit Exodus (Haunter Records, 6. September) ein explizit der Familiengeschichte der Doves gewidmetes Album erscheint, das in sonischen Erinnerungsfragmenten eines Amerika-Trips dem Vergessen entgegengearbeitet.
Um das komplexe Verhältnis von Sounddesign und Erinnerung geht es auf ähnlich reflektierte Weise in Endless Path of Memory (8. März), erschienen auf dem definitiv zu verfolgenden neuen Label Pensaments Sònics aus Barcelona. Wo Ambient noch auf Vinyl erscheinen darf, untersucht Wilkie-Dove die Effekte von klanglicher Abstraktion auf das Gedächtnis. Also darüber, was in Samples noch wiedererkennbar sein muss, um einen emotionalen Effekt zu haben. Oder was aus Samples noch nach intensivster Bearbeitung als fragmentarischer Gedächtnis-Trigger zu gebrauchen ist.
Der Klang der Naturwissenschaften, vermittelt über die ökologischen Sounds des Kankyō Ongaku. Dem japanischen Produzenten Yui Onodera gelingt es immer wieder, mit erstaunlicher Sicherheit und Selbstverständlichkeit strenge künstlerische Konzepte in den kristallinen Strukturen digitaler Soundprozessierung zu warmem Ambient zu formen. Was ihm in der Vergangenheit nach einer Menge minimalistischer Veröffentlichungen auf seinem eigenen Label Critical Path zahlreiche andere Kanäle eröffnete, unter anderem die Pop Ambient-Serie von Kompakt, auf der er regelmäßiger Gast ist. Seine experimentelleren Arbeiten erscheinen gerne auf Lawrence Englishs Label, so auch zuletzt.
Mit 1982 (Room40, 23. August) gelingt es Onodera, seine typische Ästhetik organischer und natürlicher wirken zu lassen als je zuvor, allerdings strikt konzeptuell: Primäre Quelle von 1982 sind digitale Synthese-Klänge aus den frühen Nullerjahren – also Glitches und Eigenheiten, die diese Sounds in der späten Frühzeit der Digitalisierung noch innehatten. Diese sind wiederum mit modern hochauflösenden Mitteln überarbeitet, um einen Sound zu suggerieren, der auf Onoderas Kindheit, nochmal 20 Jahre früher, im japanischen Nordwesten verweist. So kompliziert, und doch so einfach.
Hört man Two Verses (27. September) des Kanadiers Mark Templeton unvermittelt, ohne Kontext oder Geschichte, könnte sich der Eindruck aufdrängen, Jan Jelinek hätte für die jüngste Veröffentlichung seines Labels Faitiche mal wieder ein neues Pseudonym ausgebrütet. Aber weit gefehlt: Templeton arbeitet zwar ebenfalls seit mehr als 15 Jahren in und mit der Ästhetik des Datenverlusts, mit obsoleszierten Medien und der Verschleifung knisternd rauschender Antiperfektion, um wiederum in sich feinst ausgearbeitete Atmosphären selbstgenügsamer Vollendung zu schaffen. Was seine Arbeit mit der Jelineks wunderbar kompatibel macht, aber als Erweiterung eben, nicht als mehr vom Gleichen. Wo Jelinek von Loops und Techno kommt und sich sukzessive von ihnen wegarbeitet zu einer ganz eigenen Art von Jazz und Avantgarde, kommt Templeton gerade noch so hörbar von Improvisation und Jazz. Nur um sich tief in die abseitigen Aspekte der elektronischen Signalverarbeitung einzugraben. Im Ergebnis ist das ziemlich beeindruckend, und doch zart.
Das Montréaler Streichquartett um die Bozzini-Schwestern Isabella und Stéphanie hat sich von Beginn an herausgenommen, über die Ränder der Neuen Musik hinweg zu agieren. Zu ihren Interpretationen gehören eben nicht nur Alvin Lucier und John Cage, sondern ebenso elektronische Komponistinnen wie Èliane Radigue oder Sarah Davachi. Trifft das Quatuor Bozzini auf das ähnlich freigeistige junctQín keyboard collective, ist musikalisches Um-die-Ecke-Denken garantiert. Für a root or mirror, blossom, madder, cracks; together (Collection QB, 28. August) haben sie sich dieser Abenteuerlust entsprechende langformatige Stücke von Rebecca Bruton und Jason Doell ausgesucht, ebenfalls Grenzgänger:innen zu Ambient und elektronischer Pop-Avantgarde. Wo sich Brutons „The Faerie Ribbon” an der Schnittstelle von Freak Folk und Neuer Kammermusik bewegt, spielt Doells „to carry dust & breaks through the body” auf rein akustische Weise mit elektronischen Drone-Effekten, mit minimalen Verschiebungen in direkter Nachbarschaft etwa zu seinen digital manipulierten Pianostücken auf dem experimentellen Ambient/Pop-Label Whited Sepulchre.
Musik für Tanztheater und zeitgenössisches Ballett ist durchaus eine naheliegende Domäne der avancierten Elektronik. Viel seltener dagegen findet Begleitmusik des Sprechtheaters den Weg aus den oft nur einzelnen oder saisonalen Aufführungen in reguläre Veröffentlichungen oder gar Tonträger. Obwohl doch auch für die Theaterbühne gerne tribal-technoide, elektroakustische oder neoklassische Klänge auftragsproduziert werden. Dass dabei eventuell etwas verloren geht, etwas, das über den reinen Zweck der Begleitmusik hinaus inspirierend und relevant sein könnte, dürfte die Inspiration für das neue Label Naked Records sein. Es stellt sich dieser Aufgabe nämlich in den ersten drei Veröffentlichungen, die spezifisch für das Deutsche Theater Berlin produziert wurden.
Die für ein Stück von Elfriede Jelinek komponierte EP Angabe der Person (Naked Records, 5. Juli) und das Album Der Einzige Und Sein Eigentum (Naked Records, 5. Juli) bespielt PC Nackt, einer der beiden Labelmacher:innen direkt selbst mit klappernder Percussion und dem sogenannten Geisterklavier. Was sich naheliegend im Rahmen von Hauntology und Ballroom-Neoklassik abspielt: digital gealterte Pianotöne, verwehte Percussion und deklamierende Stimmen in kühler Leere. Der finale Teil der Berliner Theatertrilogie stammt vom Komponisten Nico Van Wersch, der für Psychose (Naked Records, 20. September) ein interessant instrumentiertes Percussion-plus-Elektronik-Ensemble zusammengestellt hat, das sich subtil-arhythmisch, doch treibend-tribal mit Holzklöppeln und Wummerbass nach vorne spielt. Wer Midori Takada mag, wird schwerlich daran vorbeikommen.