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Wolfgang Tillmans – Groove Podcast 417

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Foto: Mike Wolff/Der Tagesspiegel (Wolfgang Tillmans)

Ein regnerischer Frühlingstag in Berlin: Im ersten Stock der Fasanenstraße 30 wird gerade noch eine Ausstellung aufgebaut, die am 26. April zum Gallery Weekend öffnet. Die dort ansässige Galerie Buchholz vertritt Wolfgang Tillmans, der hier bis zum 15. Juni neue Werke zeigen wird. Das Datum der Vernissage ist ein doppelt wichtiges für den Fotografen und bildenden Künstler: Es ist zugleich der Veröffentlichungstag seines zweiten Albums.

Vereinzelte Textzeilen aus den 14 Songs sind auf einigen der bereits im Raum ausgestellten Exponate zu lesen, einige für das Artwork verwendete Fotografien wurden schon an den Wänden angebracht. Eine scheint noch etwas schief zu hängen, anderswo fehlt noch etwas, zwischen einzelnen Bilder geklebte Post-it-Notes mit kryptischen Zahlen und Fragezeichen darauf legen Zeugnis von den Diskussionen über ihre Inszenierung im Raum ab.

So sieht es während eines Aufbaus auf, was nur eben zu einem Album mit dem Titel Build From Here passt. In einem Hinterzimmer der Galerie spricht Tillmans mit Kristoffer Cornils über diese Platte, das heißt vor allem über seine Arbeit mit Klängen und Sprache. Und ebenso über seinen Hintergrund in der Clubkultur, als dessen Dokumentar er sich in frühen Jahren einen Namen machte. Der Anlass: Tillmans hat einen seltenen DJ-Mix für den Groove Podcast aufgenommen.


Zu deinen musikalischen Schlüsselerlebnissen gehören die Entdeckung von Fehlfarbens Monarchie und Alltag ebenso wie die der New-Romantic-Bewegung in Großbritannien. Auch hast du den Aufschlag von Acid House auf dem Dancefloor miterlebt.

Ich bin im Jahr 1987 nach Hamburg gezogen, wo Klaus Stockhausen und Boris Dlugosch im Club Front als DJs absolut federführend waren. Berlin wird gerne als Wiege des House in Deutschland angesehen. Das stimmt nicht!

Was war die Front für ein Ort für dich?

(zögert) Ich hatte Ehrfurcht vor diesem Club, er war geradezu angsteinflößend. Das ist ja auch das, was die Menschen am Berghain fasziniert! Die Front war im buchstäblichen Sinne ein Club. Angesichts meiner demokratischen Einstellung müsste ich gegen jede Form von Exklusivität sein. Aber es war sehr elektrisierend, Mitglied dieses Clubs zu sein. Das Gefühl des Dabeiseins ging nicht mit dem Ausschluss von anderen einher. Man gehörte zu einem extremen Zirkel, der die Dinge an ihr Limit bringen wollte. Einen Darkroom gab es zwar nicht, doch war es ein körperlich sehr befreiter Ort. (lacht) Und es gab eine totale Hingabe zur Musik, wie ich sie in dieser Form dort zum ersten Mal erlebt habe. Es war Avantgarde.

Damals prägte sich die Figur des DJs als Persönlichkeit erst richtig heraus. Wie hast du diesen Paradigmenwechsel wahrgenommen – weg von der kreativen Live-Performance auf der Bühne hin zu einer eher kuratorischen Tätigkeit in der Booth?

“Kuratorisch” ist vielleicht der falsche Ausdruck. Klaus hat musikalische Fähigkeiten vorgeführt, minutenlang Tracks manuell auf Plattenspielern nebeneinander laufen lassen und mit High- und Low-Pass-Filtern gespielt. Das habe ich damals zum ersten Mal gehört. Das war mysteriös! Die DJ-Booth war ja eine geschlossene Box, keine Kanzel wie heute. Ich frage mich allerdings, welchen Mehrwert es hat, über diese vergangenen Zeiten zu sprechen. Sie waren sehr vom Moment, von der eigenen Jugend und persönlichen Gefühlen informiert. Die Antwort kann ich aber auch gleich geben: Diese Szenen zu fotografieren habe ich mir gegenüber nur so rechtfertigen können, als dass ich sie dokumentieren wollte. Mir war immer bewusst, dass es diese extreme Form des Zusammenseins … Also, hätten unsere Eltern davon gewusst, sie hätten es uns verboten! (lacht) Deshalb hatte ich das Gefühl, all das erhalten zu wollen. Genauso wie ich den Leuten bei i-D [britisches Lifestyle-Magazin, Red.] in London zeigen wollte, dass in Hamburg auch etwas los war. Und sei es nur, um sie für eine i-D-Party nach Hamburg zu locken! (lacht)

Inwiefern hat es deinen fotografischen Blick geprägt, diese unübersichtlichen, flüchtigen Szenen einzufangen?

Es gibt Fotos wie “Love (hands in hair)”, “dancer, OperaHouse” oder eines von Mike Pickering, bei denen es mir darum ging, Menschen im Zustand des Fallens abzubilden, wie ich das damals schon nannte – im Tanz, zwischen Schwerkraft, Schwingungen und Selbsterfahrung. Die Verschmelzung mit anderen. Das hat mich als Genrebild interessiert. Ich wollte keine coolen Frauen und trendigen Typen fotografieren, ich war auf der Suche nach der Essenz des Ganzen. Eine jede Person stand stellvertretend für ein Gefühl, das ich in anderen Nächten oder Personen erlebt oder in mir selbst gespürt hatte. Gleichzeitig ging es mir um das Zusammenwirken der Präsenz der Kamera und meiner selbst einerseits und das Wechselspiel von Absicht und Ergebnis andererseits. Jemandem im körperlichen Befreiungszustand fotografieren zu wollen, heißt ja noch lange nicht, dass es gelingt! (lacht) 

In einem Interview mit Alexis Petridis für den Guardian sagtest du kürzlich, du seist “fundamentally embarrassed to photograph strangers, to interrupt the sort of fluidity of the moment”. Welche Rolle nimmst du in solchen Situationen ein?

In der öffentlichen Privatheit des Clubs muss ich mich vergewissern, wie ich in den Wald der tanzenden Körper hinein rufe – und was zurückkommt. Natürlich war ich selbst einer der Clubbenden! Deren Stimulanz hat sich auf mich übertragen. (lacht) Damals war es sehr ungewöhnlich, dass jemand fotografierte. Weil ich es für Zeitschriften wie i-D, Prinz oder Tango gemacht habe, hat es aber grundsätzlich Zustimmung gefunden.

Mich interessiert das Moment der Distanzierung beim Fotografieren: Du nimmst eine dokumentarische Haltung zum Moment ein. Wenn du auflegst oder als Musiker bei Konzerten in den Vordergrund trittst, schaffst du ihn ihngegen selbst. Wie ist das, ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu treten? 

Ich hatte Ende der Achtziger, Anfang der Neunziger Musikerträume und war vielleicht zu scheu, sie in die Tat umzusetzen. Heute bin ich froh darüber, mich nicht mit 23 Jahren komplett musikalisch ausgedrückt zu haben und mit den enormen Herausforderungen zu leben, 30 Jahre lang eine Karriere aufrecht zu erhalten … 

… oder auch nur einen gesunden Lebensstil.

Genau! Es ist die absolute Ausnahme, wenn das gelingt. Bildende Kunst ist ein dankbareres Instrument. Installationen im Raum schaffen natürlich auch einen Verweis auf mich als Person – als Performances ohne meine Anwesenheit in der Öffentlichkeit. Selbstporträts oder Inszenierungen von anderen Personen als Projektionen von mir selbst haben in meinem Schaffen immer eine Rolle gespielt. Aber ich habe es in den ersten 20, 25 Jahren als angenehm empfunden, das nicht herauszustellen. Erst im Jahr 2014 stellte sich bei mir das Gefühl ein, dass meine performative Seite aktiver ist, als ich es mir zuvor zugestanden hatte. In den frühen Zehnerjahren hielt ich Vorträge, zu denen 500 oder 600 Leute kamen. Es machte mir Spaß, das Sprechen anders zu rhythmisieren oder mal zwei, drei Bilder lang nichts zu sagen. Ich redete für 80 Minuten ohne Text, völlig improvisiert, und trotzdem hat niemand den Raum verlassen. (lacht) Das unterscheidet sich nicht sonderlich von einem Konzert. Dann habe ich [im Jahr 2015, Red.] mein Video “Instrument” gemacht. Ich bin nur in Unterhose, hüpfe von einem Bein aufs andere und spiele mit meinem Schatten. Mit meinen Schritten erzeuge ich Töne, die ich irgendwie warpen wollte und also ins Trixx Studio gebracht habe. Das andere Schlüsselerlebnis war ein Essen nach einer Ausstellung von Isa Genzken, bei dem auch Neil und Chris von den Pet Shop Boys waren. Chris zeigte mir auf seinem iPhone Garage-Band-Instrumente, die er toll fand. Ich meinte, dass ich auch gerne mal wieder Musik machen würde. Er sagte daraufhin: “You really should! Just get yourself a little keyboard to plug into your computer!” Das war die Ermutigung, der ich nachgegangen bin.

Du hast schon zuvor immer mal wieder aufgelegt. Was hat dich daran interessiert?

Das fing im Jahr 1999 in London an, als eine neue Welle von Electro mit starker Wertschätzung für Italo aufkam. Ich war als Künstler, Fotograf und Szenetyp dabei. Man muss dann ja zwar nicht auflegen … (lacht) Ich hatte aber das Wissen und wollte die Musik anderen präsentieren. Princess Julia gab mir aber ein paar Lektionen an den Technics. Mir war wichtig, dass die Übergänge zumindest tragbar waren! Von der Musik, die ich gespielt habe, wusste ich ja, dass sie gut ist. Ich habe einen riesigen Respekt vor DJs, die das jede Woche machen, und keinerlei Ambitionen, damit zu konkurrieren. Ich kann etwas anderes bieten, weil ich einen Musikgeschmack und eine Plattensammlung habe, die recht eklektisch sind. Und ein eigenes Ohr, das mir die Freiheit lässt, ungewöhnliche Dinge zu tun. Ich habe Laurie Andersons “O Superman” schon 1999 in der “falschen” Geschwindigkeit laufen lassen, in der Panorama Bar “Hey Hey Guy” Ken Laszlo zusammen mit “Losing My Religion” von REM aufgelegt und auf dem Berghain-Floor “Paperhouse” von CAN oder “Jenseits von Eden” von Ton, Steine, Scherben gespielt. (lacht)

Damit schaffst du Überraschungsmomente, die auch in deiner Musik und deinem neuen Album eine Rolle spielen. “Where Does the Tune Hide?” heißt der Opener. Warum damit einsteigen?

Wenn ein Künstler seine eigene Arbeit “berührend” findet, bewegt er sich immer auf dünnem Eis … (lacht) Aber ich finde das Stück sehr, sehr berührend! Es ist eine Klangwelt, die sich kurz öffnet. Darin spiele ich mit dem Klang meiner Stimme in einem Treppenhaus. Das mache ich seit Jahren. Dazu kommen die Worte, die einfach zu mir kamen – nichts von dem, was ich da singe, war vorher aufgeschrieben. Das passierte letzten Sommer auf Fire Island und hat mir vielleicht ein neues Selbstbewusstsein gegeben. Deshalb wollte ich “Where Does the Tune Hide?” an die erste Stelle setzen.

Der Titel liest sich wie ein poetologisches Statement. Müssen wir uns deinen Prozess als Songwriter so vorstellen – als einen der Findung von Form?

Das Stück formuliert keine Antwort, weil am Anfang keine Frage stand. Diese Treppenhausmelodien kommen irgendwie zu mir, auch der komplett ungeskriptete Text entstand während eines Jams. Beides habe ich an Tim Knapp und Bruno Beitzke [Ko-Produzenten des Albums, Red.] geschickt und am nächsten Tag kam das fertige Stück zurück. Wir haben es nie wieder angefasst. Das ist ein Beispiel für einen Songwriting-Prozess, der immer die Möglichkeit einschließt, dass etwas passiert, das nicht wiederholbar ist. Deshalb nehme ich alle Jams auf, habe immer ein Aufnahmegerät dabei. Das hängt mit meinem Hintergrund als Fotograf zusammen. In der Musik heißt es ja immer: “Let’s do another take!” Als Fotograf weiß ich aber: Würde ich dich jetzt fotografieren, kann ich dasselbe Bild nicht morgen genauso nachstellen. Allerdings habe ich nicht nur eine Art, zu fotografieren, was eher ungewöhnlich ist, und mit der Musik ist es genauso. Bei Moon in Earthlight [Tillmans’ erstes Album, Red.] habe ich mehrere Ansätze verfolgt: Spoken Word, Field Recordings, ausgefeilte Studioproduktionen, Jams, Live-Performances … Dahinter steht keine affektierte Haltung, vielmehr will ich der Lage der Dinge gerecht werden. Manchmal entsteht eine Melodie buchstäblich unter der Dusche. Genauso wie es Momente gibt, in denen wir feste Termine ausmachen.

Deadline-Druck.

Das funktioniert! Die Texte springen mir nicht nur von der Luft ins Hirn. (lacht) Obwohl sie das natürlich oft tun. “Device Control” etwa habe ich am Morgen nach einer Isa-Genzken-Eröffnung im Gropiusbau nach dem Aufwachen mit dem iPhone aufgenommen. Ich habe es Tim gegeben und ihm die musikalischen Referenzen genannt, die ich dazu im Hinterkopf hatte. “Kannst du das mal ins Grid ziehen?” (lacht) Wir haben davon keinen zweiten Take aufgenommen. Zu hören ist die Originalaufnahme.

Was für ein Verhältnis hast du zu diesen mehr oder minder unbewusst geschriebenen Texten? Im Song “Language” singst du die Zeilen “Language is what it is / We mean what we say.” Das ist eine starke Aussage.

Ja … (zögert)Elaborate!

(lacht) Ich bin ausgebildeter Literaturwissenschaftler, Sprachkritik ist ein Hobby von mir. Wenn es heißt: “Wir meinen, was wir sagen”, denke ich: “Nee, das können wir nicht einfach so sagen! Was meint ihr damit bitteschön?”

Das allgemeine Verständnis ist, dass alles dreimal um die Ecke gedacht wird und wir nie wirklich sagen, was wir meinen. Beim genauen Hinhören zeigt sich aber ein anderes Bild, finde ich. Schauen wir doch mal in die Politik: Sprache ist in diesem Kontext nicht einfach ein Vehikel, um etwas vorzutäuschen – es ist das, was Politiker:innen tun. Wenn sie etwas sagen, dann meinen sie es auch. Das lässt sich nicht einfach damit entschuldigen, sie würden bestimmte Dinge ja nur sagen und dann doch nicht tun. Mir ist es wichtig, dass wir die Politik in die Verantwortung nehmen, nicht zu lügen. Ich beobachte Sprache, Werbung, die Vortäuschung falscher Tatsachen immer – nicht immer moralinsauer, sondern wie im Fall von “Device Control” auch fasziniert von der Sprache der Werbung. Meine kühne Behauptung in der Fotografie lautet auch, dass die Natur einer Sache sehr wohl an ihrer Oberfläche ablesbar ist.

So you can judge a book by its cover?

Ja. Ein Beispiel sind die immer aggressiveren Autolichter der letzten zehn, 15 Jahre. Das ist an sich oberflächlich und, man könnte sagen, nebensächlich. Aber es ist Ausdruck einer Ellenbogengesellschaft, einer testosterongeladene Einstellung, die die Autowirtschaft in ihrer Kundschaft spürt oder bedienen will. Gesellschaftliche Inhalte und Stimmungen sind natürlich an Oberflächen abzulesen. In diesem Sinne ist auch Sprache eine reale Form und nicht bloß ein Vehikel, um etwas zu sagen.

The medium is the message. 

Ja! 

Wenn wir allerdings von politischer Rhetorik und damit von ausgebildeten Redner:innen sprechen oder einer Industrie, die ihre Produkte auf sehr bewusste Art und Weise konstruiert, reden wir allerdings von einer anderen Form der Kommunikation als der alltäglichen zwischenmenschlichen. Im Song “Cab Ride” wiederholst du die Worte “Weißt du?” wieder und wieder. Ist das nicht ein Ausdruck von fehlgeschlagener Kommunikation?

(zögert) Aber so redet man auch im freundschaftlichen Kontext. 

Klar, und es wirkt keinesfalls verzweifelt. Trotzdem handelt es sich doch um eine Vergewisserung beim Gegenüber, die zugleich eine Selbstvergewisserung ist: “Verstehst du mich? Werde ich verstanden?” 

Das Stück ist ein Beispiel für eine weitere Art, in der ich meine Texte schreibe. Ich probiere Worte und ihre Kombination rein als Klanggestalt aus. “Weißt du?” hat mich eher als Gebilde im Mikrofon interessiert, das war keine vorher aufgeschriebene Textidee. Ich dachte mir aber: “Ist das blöd?” Es ist ja vieles potenziell peinlich, was man so an Lyrics produziert! (lacht) Die Hälfte meiner Crew kommt aus den USA und hat einen rein phonetischen Zugang zu meinen deutschen Texten. Die fanden es als Klanggebilde interessant. In Kombination mit der titelgebenden Taxifahrt aber wird die von dir angesprochene Selbstvergewisserung durch das alberne Moment aufgebrochen und überhaupt erst ermöglicht. Das ist ja immer auch der Ausgangspunkt meiner fotografischen Arbeit, die Frage: “Ist das möglich?” Eigentlich ist es nicht erfolgversprechend, einen alten Überseecontainer oder die Abluftklappen einer Datenfarm zu fotografieren. (lacht) Ich weiß, dass es unwahrscheinlich ist, dass an einem bestimmten Tag aus einer solchen Situation ein Bild entsteht, das sich über Jahre tragen wird. Es passiert sehr, sehr selten, dass ein richtig gutes Bild entsteht wie mein iPhone-Foto [“Lüneburg (self)” aus dem Jahr 2020, Red.]. Alles spricht dagegen! Die Wahrscheinlichkeit, dass aus irgendeiner Zeile etwas wird, ist gering. Das Alberne, das Geplante, der cringe … Wie wird das möglich? Kann man wirklich sagen: “We are fibres / We are fabric?” Ich benutze ja auch Texte, die ich mit 16 oder 17 Jahren geschrieben habe. “Grüne Linien” enthält Fragmente aus den Jahren 1986, 1995 und 2016 oder 17. Ich habe Zettelsammlungen mit Sätzen, die mir in den Kopf gekommen sind, wie der Titel meiner Tate-Britain-Ausstellung im Jahr 2003: “If one thing matters, everything matters.” Das ist als Aussage erstmal banal. Es kommt aber zu mir und ich muss bereit sein, es aufzunehmen, ernstzunehmen. Das ist ein Teil meiner Arbeitsweise: Ich bin bereit, den Beifang aufzunehmen. Genauso, wie ich hart an Dingen arbeite.

Jetzt stehst du vor dem Endresultat dieser verschiedenen Prozesse, einem Album. Da offenbaren sich sicherlich semantische Zufallseffekte. Siehst du eine thematische Klammer in Build From Here?

(greift zu einem Exemplar des Albums auf dem Tisch) Was ist denn da alles so drauf? (lacht) Es ist von einer ernüchtert-hoffnungsvollen Stimmung geprägt, die nicht beschwipst oder emphatisch ist.

Es ist ein Album voller Konflikte, die oft mit Kommunikation zu tun haben – mit dem Zwischenmenschlichen, dem Gesellschaftlichen. Dennoch steckt darin ein Optimismus – einer des Willens, mit Gramsci gesprochen. 

Ja! Siehst du den als naiv an?

Nein. Darin kommt ja ein Wunsch zum Ausdruck, etwas aufzubauen. Der Titel des Albums könnte ja sogar auch als Imperativ und deshalb als Appell verstanden werden: Wir brauchen Gegenentwürfe. Nur: Wie erhältst du dir diesen Optimismus?

Wenn man sich überlegt, welche verzweifelten Situationen die Menschheit bereits durchlebt hat, sind wir noch nicht am Anschlag dessen, was ihr während ihrer langen Geschichte abverlangt wurde. Die Demokratie ist noch nicht verloren! Alles, was es braucht, ist, dass die Leute eine Partei wählen, die die liberale Weltordnung nicht abschaffen will. Es gibt genügend Medikamente auf der Welt, genügend Energie. Die extrem fatalistische, pessimistische Stimmung ist meiner Ansicht nach nicht ganz gerechtfertigt. Wir müssten uns der Situation nur aktiver bemächtigen. Natürlich reicht dafür der Wille allein nie aus.

Welche Rolle kann die Kunst in alledem spielen?

Wir gehen davon aus, dass sich etwas nur dann lohnt, wenn man etwas bewegen konnte. Musik oder bildende Kunst stellen aber eine Ermutigung dar, weil man sich darin wiedererkennt: “It’s okay, you are alright.” Das ist manchmal das, was jemand braucht, um mit den persönlichen Kämpfen weiterzumachen. Ich nenne es Solidarität, wenn man sich in anderen Kunstwerken wiederfindet und spürt, dass andere sich genauso fühlen wie man selbst. Eine Art von Rückversicherung: “Ich bin nicht allein.” Wenn Kunst das ermöglichen kann, ist das als eine Art Basissockel schon sehr viel. Wenn obendrein etwas Weltveränderndes passiert, umso mehr. Ich war vor Kurzem im Kimbell Art Museum in Fort Worth in Texas. Dort wird die europäische Kunstgeschichte nacherzählt, es geht vom feudalen Zeitalter bis hin zu Mondrian. Als die Menschen im neunzehnten Jahrhundert angefangen haben, naturalistisch auf die Welt zu schauen, sie so zu sehen, wie sie “wirklich ist”, war das radikal. Im zwanzigsten Jahrhundert wurde die Welt dann komplett neu gedacht. Hätte die Kunst das nicht geleistet, hätte sich die Gesellschaft nicht so sehr zum Positiven entwickeln können. Kunst zeigt Möglichkeiten davon, wie die Welt auch sein oder wie man sie sehen könnte.

Fällt dir zeitgenössische Musik ein, die das leistet?

Die Musikerin, die mich zuletzt am meisten begeistert hat, ist Lucie Antunes – eine französische Percussionistin, ihr Album Carnaval ist irre. Sie hat ihre Wurzeln in der Musik von Steve Reich und verschleiert das auch nicht, aber schafft mit Vocals, Samples und Elektronik eine komplett neue und freie Klangwelt. Im Februar bin ich extra für eines ihrer Konzerte nach Paris gefahren. Mittlerweile sind wir auch in Kontakt. Das ist für mich sehr inspirierend.

Stream: Wolfgang Tillmans – Groove Podcast 417

01. Wolfgang Tillmans – Insanely Alive (Total Freedom and Sami Baha’s Spooky Curse / Special Blessing Mix)
02. David Sylvian & Ryuichi Sakamoto – Bamboo Houses
03. Men Seni Suyemin – Dark Waves
04. Plaid – New Family
05. Lucie Antunes – Mais
06. Cynthia – Change on Me (Marcelo Mistake’s Remix Extended)
07. Oskid – Disappear (The Saxophone Remix)
08. Wolfgang Tillmans – Regratitude
09. The Field – Over The Ice
10. Indus – Alfa Indi feat. Nelda Piña
11. Wolfgang Tillmans – Give Me A Shadow
12. Nabihah Iqbal – This World Couldn’t See Us
13. Tocotronic – Ich Tauche Auf

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