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Motherboard: April 2024

Keine Ahnung, wie Yuval Havkin alias Rejoicer es schafft, seine Musik unter den aktuellen Umständen so entspannt zu halten. Jedenfalls erstrahlt die sparsame Oldschool-Electronica des Beatmachers aus Tel Aviv auf This Is Reasonable (Circus Company, 12. April) in einer raren Aura von Optimismus, einem tiefen, inhärenten Humanismus, der die Gewalt, politische und religiöse Antagonismen zumindest für einen Moment vergessen machen will und kann. Vielleicht ist es das uralte kabbalistische Konzept des Tikun Olam, des Reparierens der Welt, das hier unvermittelt einen zeitgemäßen Ausdruck gefunden hat, als Möglichkeit der Heilung weitab jeglicher messianischer Heilsvorstellungen.

Es mag eine Binse sein, tiefere Wahrheit lässt sich nichtsdestoweniger darin finden: die Aufhebung von Raum und Zeitgefühl, die in US-amerikanischen Casinos praktiziert wird, zeitigt tiefe psychedelische Effekte, sogar ohne die Zugabe weiterer Substanzen. Sie liefert daher seit der Mitte des 20. Jahrhunderts, vielleicht schon seit Dostojewski, Inspiration für Literatur, Film und Musik. Nicht zuletzt beim mysteriösen wie produktiven Carter Eggert, der als New Mexican Stargazers Ambient als endlos verzwirbelte psychedelische Trips auslegt. An der Oberfläche reich an Textur und mit psychologischer Abgründigkeit durchmisst Casino 2223 (Not Not Fun, 5. April) über 90 Minuten die (Un-)Tiefen der Jugend, Selbst (und Geld) verschwenden, Casino-Erfahrung. Das gelingt tatsächlich zu einem der interessantesten, ja aufregendsten (sic!) Ambient-Alben der vergangen Jahre.

Im Umland Torontos gedeihen ganz eigenartige und einzigartige Modulargewächse, wie sich anhand des Werkes Matthew Ramolos bestens nachhören lässt. Er hat den kosmisch verstrahlten Krautsynthetikern der deutschen Siebzigerjahre-Provinz genau so genau zugehört wie den pillenverstrahlten Chillout-Sessions des nordenglischen Second Summer of Love. Wie daraus etwas so zeitgemäß Nüchternes wie zeitlos Modernes wie das Album Gestures Of Perception (Marionette, 19. April) entstehen kann, bleibt das psychedelische Geheimnis von Ramolos Projektalias Khôra. Auf sympathische Weise verwirbelt und verzwirbelt, behalten die eigentlich wohlbekannten warmen Analogsynthesizerklänge stets einen Rest außerweltlicher Fremdheit. Ähnlich wie bei dem offenbar wesensverwandten Modular-Russen X.Y.R. ist es gerade dieses nicht erklärbare Residuum im offensichtlichen Sound-Ganzen, das Khôras Stücke so faszinierend und besonders macht.

Obwohl immer tendenziell Außenseiter geblieben, war das Werk des Israelis Ran Slavin doch einer der entscheidenden Impulsgeber und Richtungsweiser für Ambient und Glitch-Elektronik nach der Jahrtausendwende. Auf allen einschlägigen Labels vertreten, hat Slavin dann einfach in konsequent hoher Qualität weitergemacht und in aller gebotenen Kompromisslosigkeit und Strenge einen Collagen-Sound von trennscharfer Digitalästhetik entwickelt. Was dabei eventuell in der Hintergrund rückte, ist, dass er klassischen Ambient mindestens ebenso beherrscht. Das üppige Ooolong: Ambient Works (Mille Plateaux, 22. März), sein 17. Album, schafft hier erst mal ausreichend Abhilfe und füllt eine Lücke, von der wir eventuell gar nicht ahnten, dass sie überhaupt besteht.

Die Frage, ob es noch ein ausgreifendes 75-Minuten langes Stück fließend warmen Drone-Ambients braucht in dieser Welt, mag manches Mal berechtigt sein. Im Fall von Pulse Emitter Daryl Groetsch wird die Frage aber schnell sinnfrei, denn Above the Shore (Daryl Groetsch, 2. April) fasziniert von der ersten Sekunde an und zieht die geneigte Ambient-Hörerschaft direkt in einen Strudel fließend-gleißender Sounds, ohne sie je wieder freizugeben. Am besten einfach aufgeben und mitschwimmen, Augen schließen und treiben lassen.

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