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Motherboard: Januar 2024

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Vielleicht existiert eine solche nostalgiefreie Verbindung vom damals ins Heute doch schon länger, nämlich via Dark Ambient. URUK, das sparsam veröffentlichende Projekt der exzellent gealterten Outsider-Originale Thighpaulsandra und Massimo Pupillo weiß jedenfalls, wie es geht. Ihr feingewebtes, erhabenes Synthesizer-Album The Great Central Sun (Ici d’ailleurs, 13. Oktober 2023) schaut jedenfalls in die Sterne und bringt die Utopie der vergangenen Zukunft in Form von dunklem Space-Ambient zum Funkeln.

Oder wir nehmen einfach die Musik von Sam Shackleton. Der könnte in seiner ungebremsten wie stetigen Produktivität diese Kolumne beinahe allein füllen. Solo nahm er sich kürzlich die Vorlagen und Originale der Grimm’schen Märchen vor, in aller Brutalität und sprachlichen Poesie. Auf eigenem Label und im geliebten, novemberneblig trüben Sounddesign ist The Scandal of Time (Woe to the Septic Heart, 20. November 2023) ein feines Beispiel für Shackletons avantgardistischen Schmierdub. Sam Shackleton ist aber vor allem ein Kollaborationskünstler. In Zusammenarbeiten kommt seine Faszination für Kontamination und Wechselwirkung oftmals noch besser zum Ausdruck als solo, vermutlich weil es andere und anderes gibt, an denen er sein distinktes Sounddesign erproben und erweitern kann – zum Beispiel an der Seite von Scotch Rolex auf Death By Tickling (Silver Triplet, 31. März 2023). Oder mit der experimentellen Vokalistin und Pedal-Steel-Virtuosin Heather Leigh im wahrhaft freigeistigen Noise-Duo Flesh & The Dream, das auf dem biestigen Choose Mortality (Everything Forever, 7. Juli) alles gibt, was an Katharsis und Emotionalität so geht. Zudem ist auf dem verhältnismäßig reichweitestarkem Label die Erweiterung des bewährten Duos mit dem polnischen Jazz und Folk-Erneuerer Wacław Zimpel erschienen – mit dem indischen Vokalisten Siddhartha Belmannu, der auf In The Cell of Dreams (7K!, 8. September 2023) die sängerische Tradition Hindustans respektierend wie überschreitend etwas genuin Eigenes und Neues schafft.

Im weiten Feld der händisch eingespielten Loops und Patterns, sprich: der Neoklassik, gibt es ebenfalls viel Schönes und Beeindruckendes nachzuhören. Etwa Scapegoat (Constructive, 20. Oktober 2023) von Triola. Hinter dem Projektnamen verbirgt sich in diesem Fall nicht Kompakt-Ambientologe Jörg Burger, sondern die japanische Komponistin Atsuko Hatano, die sich mit der Violinistin Anzu Suhara auf die Spuren des Penguin Café Orchestras Ende der Siebziger begibt. Also irgendetwas zwischen Song und Track, weder elektrisch verstärkt noch prozessiert, aber doch rhythmisiert und in Schleifen geformt, eben gerade keine Kammermusik, sondern eine dynamisch-expressive bis explosive Form experimentellen Postrocks.

Wie sich im Vergleich dazu der Prä-Postrock im Original anhört, lässt sich nun wieder auf der monumentalen Reissue-Box The Complete Obscure Records Collection 1975 – 1978 (Dialogo, 24. November 2023) nachhören. Und das lohnt sich. Denn im nur zehn LPs umfassenden Portfolio von Brian Enos Label finden sich neben dem enorm einflussreichen Debüt des Penguin Café Orchestra noch der (damals-noch-nicht „Neo-”) Klassik-Megahit „The Sinking of the Titanic” von Gavin Bryars, experimentelles von Michael Nyman und eines der besten Alben von Harold Budd.

Piano-Wunderkind, Puppenspieler:in und Puppenmacher:in, Protégé von Amanda Palmer, neoklassischer Kompositions-Outsider und viele Attribute mehr passen locker auf das expandierende Werk des in New York lebenden Tristan Allen. Deren drittes Album Tin Iso and the Dawn (A Portrait) (RVNG Intl., 23. Oktober 2023) bewegt sich jenseits von neoklassischen oder ambienten Ausdrucksformen, erfüllt beide aber doch perfekt. Ein (hoffentlich nicht) übersehener Klassiker des Jahres 2023.

Die polnische Cellistin Dobrawa Czocher ist eine gern gebuchte Sessiongästin in allerlei neoklassischen Zusammenhängen. Am prominentesten und bezauberndsten ist vielleicht ihre Zusammenarbeit mit der ebenfalls polnischen Pianistin Hania Rani, die aus dieser Kolumne in den vergangenen Jahren nicht wegzudenken war. Allein arbeitet Czocher erst in jüngerer Zeit. Auf ihrem Langspieldebüt Dreamscapes (Modern Recordings, 27. Januar 2023) verwendet sie – wie in ihren formidablen Konzerten – allein ihr Cello mit zwei Pedalen, einem Looper und einem Reverb, um einen Raumklang immenser Fülle und Emotion zu erzeugen. Beinahe noch besser ist die ultraknappe EP Biodiversity (Modern Recordings, 14. Oktober 2023), weil Czocher darauf gänzlich auf Überwältigung und Immersion verzichtet. Es sind nur drei Stücke mit einer Gesamtlaufzeit von acht Minuten. Aber was für welche! Leise, subtil und ergreifend zugleich.

Das Pariser Ensemble code bindet Klassik an Elektronik und umgekehrt. Jérémie Arcache, Leonardo Ortega und weitere Mitmusiker:innen haben sich mit dem Box-Set Phonographies (Grand Musique Management, 1. Dezember 2023) Werke von Claude Debussy, Johannes Brahms und Marin Marais zur Bearbeitung gesucht, die elektronisches Soundprocessing, Ideen von Ambient, Sound als Immersionsmedium und Textur vor Struktur vielleicht nicht vorwegnehmen, doch zumindest andeuten. Die Stücke, jeweils in drei „Mouvements” aufgeteilt, bewegen sich so langsam von Interpretation zu Version zu Remix.

Der Edinburgher Andrew Ostler spielt mit Vorliebe zwischen Stilen und Szenen. Die Holz- und Blechblasinstrumente, als Improvisator und Interpret lange Jahre perfektioniert, halten ihn nicht davon ab, für seine Soloarbeiten mit Vorliebe in die krautige Analogsynthesizer-Kiste zu greifen – oder wie auf Dots on a Disk of Snow (Expert Sleepers, 8. Dezember 2023) neoklassisch inspirierte Streicher zu arrangieren und damit mal ganz lässig die harmonischen Ideen von Arvo Pärt und Henryk Górecki zu paraphrasieren, um sie mit Furzbässen, einem geraden Beat und einer blaunotigen Trompete fortzuführen. Einen Mangel an Ideen kann man Ostler definitiv nicht vorwerfen, zumal die eigentlich ziemlich disparaten Elemente aus so vielen Zeiten und Zusammenhängen hier wunderbar einfach zusammenkommen.

Meditative Klassik mit krautiger Elektronik zu Ambient verschmelzen: Das ist populäre (wohlgemerkt nicht populistische) Hochkultur im Kleinen, etwas, das Hans-Joachim Roedelius & Arnold Kasar auf Zensibility (7K!, 1. Dezember 2023) im Detail perfektioniert haben. Der cringe-schauerliche Name sei ihnen direkt vergeben, denn schöner als durch dieses Album lässt sich der Geist aufgeräumter Menschenfreundlichkeit wohl kaum verkörpern. Die schmerzlichen Lücken, die Ryuichi Sakamoto und Harold Budd in der Welt des Ambient zurückgelassen haben, mögen damit nicht gefüllt werden, aber Roedelius und Kasar verbinden Piano und Elektronik durchaus ähnlich sinnig und sinnlich wie diese. 

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