Die Fabel spinnt sich immer weiter, nimmt immer andere Formen an, Häutungen, Ausformungen, Details, Fäden aufnehmen und wieder verlieren, Enden in einer endlosen Welt. Bekanntlich ist das wilde Denken rekursiv, baut aus wenigen basalen Erzählfragmenten in immer neuen selbstbezogenen, aber immer weiter ausgreifenden Schleifen ein weltumspannendes und welterklärendes Epos auf. So ist das jüngste Kapitel von Anna Jordans Erzählprojekt The Allegorist wiederum neue moderne Archaik von globaler Spannweite, in der Iteration namens TEKHENU Retold (Awaken Chronicles, 13. Oktober) neu formuliert von musikalischen Freunden, Seelen- und Geistesverwandten – vom Techno-Popstar Die Wilde Jagd bis hin zur Analogsynthesizer-Avantgardistin Midori Hirano. Das umgreifende Konzept und der große Respekt der Bearbeitenden vor Jordans Sounddesign und Ideenwelt macht die einzelnen Stücke zu deutlich mehr als beliebigen Remix-Auftragsarbeiten. Eben zu einem weiteren – und sicher nicht dem letzten – Kapitel in Jordans unendlicher, unähnlicher Geschichte. Da soll noch jemand behaupten, es gäbe keine großen Erzählungen mehr.
Die kürzeste, aber in ihrer orchestralen Wucht wohl intensivste Wiedererfindung von Anna Jordans TEKHENU-Mythos stammt übrigens von der Berliner Produzentin Başak Günak alias Ah! Kosmos. Die hat nun mit dem Synthesizer- und Potentiometer-Frickler Stefan Goetsch alias Hainbach ein ganz schön krautiges, erfrischend undigitales Studio-als-Instrument-Album namens Blast of Sirens (FUU Records, 20. Oktober) gemacht, das mit sofortiger Wirkung Raum und Zeit aufhebt. Ist es Neunzehnhundertsiebzig, Zweitausendsiebzig oder siebzig Jahre vor unserer Zeitrechnung? Ganz egal.
Alarmsignale, Gewichte, Sirenen, Marmor, Erde: Der antikisierende Post-Industrial-Klassizismus des jüngsten Großwerks des gefragten Remixers, aber solo länger inaktiven britischen Producers Matthew Barnes alias Forest Swords hat definitiv den Dreh raus. Düstere Schwere mit geschredderten Vocal-Samples lässt sich darin in etwas Breitenwirksames entfalten, ohne weitere Kompromisse im derben Sounddesign eingehen zu müssen. Wie in den EPs der beginnenden Zehnerjahre verbindet sich eine gewisse Lo-Fi Derbheit, von Witch House und Jungle geerbt, gewinnbringend und kreativ mit verschliffenen Pop-Bausteinen. Der Effekt des Erhabenen bis Kopfsprengenden ist garantiert. Das ist auf Bolted (Ninja Tune, 20. Oktober) nicht anders als früher.
Gewicht, Masse, Trägheitsmoment, Freiheit und Raum, der Sound der Rom-Berliner Produzentin Marta De Pascalis vereint die Extreme in einem beeindruckend einfachen wie stimmigen Konzept. Sie treibt ihre Maschine, den Yamaha CS-60 (ein für die Zeit außergewöhnlich füllig klingender polyphoner Vintage-Synthesizer aus den späten Siebzigern, der heute zu absurden Preisen gehandelt wird), zu Höchstleistung durch Schwerarbeit. So gemahnt Sky Flesh (Light-Years, 3. November) mehr als nur einmal an die gesammelten Buchla-Werke Caterina Barbieris, auf deren Label das Album erschienen ist. Klein ist die Welt analoger Synthesizer, und doch so immens.
Wo wir nun endgültig mitten in den Synthesizern angelangt sind: Daniel Herrmanns Flug 8 ist jüngst in Dänemark gelandet und hat seine Electronica auf dem Tape Bermuda (Ransom Note, 25. Oktober) ganz besonders kuschelig gestaltet. Die Blubberloops aus Modulargerät sind Ambient-nah und nahbar wie nie zuvor gestaltet. Nicht mehr cool zu agieren, bedeutet eben nicht, uncool zu sein, im Gegenteil. Die Spuren, die Erfahrungen des Clublebens, von Offenbach in die Welt, sie sind noch als Fundament vorhanden, aber nicht mehr der einzige Inhalt, das einzige Ziel der Klänge. Es wirkt wie eine Befreiung.