Vielleicht ist es ja gerade die Kombination aus einer klaren Vision und jahrelanger technischer und Inhaltlicher Verfeinerung, was die Kreativität über Dekaden erhält. Im Fall des heuer unter seinem Eigennamen Daryl Groetsch veröffentlichendem, ansonsten als Pulse Emitter bekanntem Forschungsreisenden in Sachen Synthesizer ist es offenbar der Sound der mitternächtlichen Radioshows seiner Kindheit, die ihm bis heute die Inspiration liefert, einen geheimnisvollen, mehr fantasmatisch vorgestellten als tatsächlich erinnerten Ambient-Sound nachzubauen. Was in der heutigen Realität bedeutet, aus einer unzuverlässigen Erinnerung heraus etwas noch besser neu zu erfinden, was es vielleicht nie gab. Gerade für Ambient ist das ein exzellenter Ansporn, immer wieder tolle neue Sounds zu finden. Jetzt auf sogar zwei ausladenden digitalen Alben namens Gardens in Glass und Frozen Waste (beide: Self-released, 18. Juli), wobei Ersteres den imaginären und doch sehr realen, handfesten Sound des Midnight Radios als verzwirbelten Strudel gleißend-maximalistischer Klänge definiert und Letzteres in einem beinahe klassischen Neunziger-Sound daherkommt, als ruhiger, dunkelmetallischer Deep-Space-Ambient aus Echolot-Pings und Quasar-Quellen, als wäre es ein spät perfektioniertes Frühwerk von Pete Namlook oder Biosphere.
Herausfordernder Noise und trotzdem vollständig Ambient – bei der interdisziplinären japanischen Künstlerin und Produzentin Yuri Urano lässt sich das Unerwartbare grundsätzlich immer erwarten. Urano, die manche ihrer eher elektronischen Kompositionen als yuLLiPPe herausgibt, interagiert selbstverständlich zwischen den Stilen. Jede neue Veröffentlichung eine Wundertüte, die pure Field Recordings an der Hörschwelle, an Shoegaze angenäherte Beinahe-Songs, Industrial und Feedback-Noise oder metallischen Dunkeltechno oder wunderschönsten Ambient enthalten kann. Awawa (Muzan Editions, 16. Juni), ihr Debüt auf dem tollen Tape-Label Muzan Editions aus Osaka, findet die Balance zwischen ultrasubtilen Soundscapes an der Hörschwelle und deftigem Noise völlig unverkrampft. Ihre im Frühjahr in Eigenverlag erschienen EPs Chakra Sync und Melodic Release (beide: Yuri Urano) hommagieren im ersteren Fall den Synthesizer-Minimalismus des Kankyō Ongaku der japanischen Achtziger und finden im zweiten mit Hauchvocals und halbzart dekonstruierten Beats in einen imaginären Club in den Wolken. Wiedererkennbares Grundrauschen in all ihren so unterschiedlichen Arbeiten sind immer die Feldaufnahmen von Wasser und Wind. Sie fehlen nie, egal ob sich das fertige Stück Musik dann als meditativer New Age, balaerischer Chill-House oder harscher Noise ausformuliert.
Die restlichen Stücke der Muzan’schen Sommerlieferung sind ebenfalls nicht vernachlässigbar. Auf dieser unscheinbaren kleinen Plattform aus der (relativen) Provinz sammelt sich zur Zeit einfach das Beste an neuem, nicht-etabliertem, experimentellem Ambient, Noise-Collage, Dub- und Deep-Techno, das der Großraum Kansai zwischen Osaka, Kyoto und Nara (und dem Rest der Welt) zu bieten hat. Heuer etwa das Remixalbum Asa [Remixed] (Muzan Editions, 16. Juni) des Japaners Doltz, das mit den AOKI Takamasa oder Mareena & JakoJako für Labelverhältnisse schon ziemlich prominent besetzt ist und den Ambient von Doltz in straighte, fluffig-chillige Beats kanalisiert. EYS, die Kollaboration der lokalen Produzenten Enitokwa + YSK, definiert auf Palette (Muzan Editions, 16. Juni) Ambient als graubunte Klangcollage, die in freiem Drone oder in Chicago-Acid ohne Beats enden kann. Ebenfalls aus der Gegend, rundet Mountain Hawk das Klangbild auf Haze (Muzan Editions, 16. Juni) noch mit klassischem warmem Drone-Ambient ab.
Eine ordentliche J-Ambient-Affinität darf man gewiss auch 12K-Labelbetreiber Taylor Deupree unterstellen. Aktuell ist es sogar ein Japaner, der diese nicht so heimliche Vorliebe voll bedienen darf: auf klassische Weise in der losen Verknüpfung freundlich bimmelnder, knispelnd-klopfender, minimaler Soundfragmente ist es der Tokioter Produzent Akhira Sano, der auf Phase Contrast From Recollection (12K, 9. Juni) sämtliche Vorannahmen und Klischeevorstellungen von Zen-mäßigem Japan-Minimalismus auf ultimativ positive Weise bestätigt und übererfüllt. Weniger ist viel mehr als mehr.
Die Selected Classics (Not Not Fun, 7. Juli) des Produzenten FOANS aus dem US-amerikanischen Denver, Colorado sind zwar einerseits tatsächlich so was wie Vinyl-Wiederveröffentlichungen bereits bekannter Stücke, andererseits aber eigentlich doch neu. Was uns in elf Stücken zwischen warmer Electronica und balearisch informiertem Ambient-House entgegenklappert, hatte Andrew Dahabrah bereits in einer einmaligen Festplatten-Aufräumaktion als 100-Tracker digital selbst herausgegeben. Neu gemastert und geschnitten, finden die Stücke nun ein würdiges Tonträgerformat. Eine Platte, die das Potenzial hat, ein steter Begleiter durch den restlichen Sommer zu werden.
Solo-Violine und eine Handvoll Pedale, Looper, Echo, Hall, Elektronik oder eher Elektrik ganz alter Schule – der Kanadier Christopher Whitley nutzt in der Umsetzung alter wie zeitgenössischer Kompositionen für sein (erweitertes) Instrument technische Beschränkung und Simplizität des Setups, um jegliche spielerischen Beschränkungen hinter sich zu lassen. So stehen in der Sammlung Describe Yourself (Redshift Records, 23. Juni) mikrotonale Drones neben elektroakustisch mikrofoniertem quasi-Glitch neben altmeisterlichen, der Renaissance und dem Barock würdigen Kompositionen. Die prominenteste und wohl populärste Komponistin, die hier umgesetzt wird, dürfte, zumindest im Kontext dieser Kolumne, wohl Kara-Lis Coverdale sein. Die weiteren, sehr delikat oft am unteren Rand der Stille spielenden Stücke von Evan J. Cartwright, Nicole Lizée, Leslie Ting und Fjóla Evans bleiben qualitativ aber keineswegs dahinter zurück.