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Mai 2023: Die essenziellen Alben (Teil 2)

Mark – So You Betrayed The Creative Arts For Your Own Personal Ends (A Colourful Storm)

Vorige Releases von Mark für das Ostgut-Ton-Sublabel Unterton und zuletzt vermehrt A Colourful Storm ließen sich im Plattenladen noch bequem im Fach für Drum’n’Bass und/oder Jungle einsortieren, So You Betrayed The Creative Arts For Your Own Personal Ends stellt sich dagegen quer. Vielleicht ließe sich der Begriff Dark Jazz dafür abstauben oder die LP in direkter Nähe zu den Schlagzeug-Abstraktionen von Tomaga- und Moin-Mitglied Valentina Magaletti oder den übellaunigen Platten von The Necks parken.

Im Zentrum der zwei jeweils eine gute Viertelstunde langen Stücke steht Drumming, das Free-Jazz-inspiriert und doch hochkonzentriert ist. Umspielt wird es von ominösen Klängen, die Mark einer ausgesprochen breiten Palette entnimmt. Auf der B-Seite geben sich gar ein Gamelan, eine Orgel und polyphoner Chorgesang innerhalb weniger Momente die Klinke in die Hand. Der Hang zum Spiel mit akustischen Instrumenten und Klängen sowie kompositorischen Elementen der klassischen Moderne zeichnete sich schon auf der Compilation Not kennt kein Gebot! ab, wird von Mark auf diesem Album aber zur Perfektion abgerundet. Kristoffer Cornils

Matthew Herbert x London Contemporary Orchestra – The Horse (Modern)

Herberts neues Album mit dem London Contemporary Orchestra ist das voodooeskeste, was ich jemals von einem britischen Produzenten gehört habe. Postkoloniale Geisteraustreibung aus der britisch-zerstörten Seele („The Truck Follows The Horse”)? Ich will beim besten Willen nicht wissen, wo diese Sounds herkommen.

Denn die Dinge haben ihre eigene Sprache, jenseits der Sprache der Menschen („The Horse Is Quiet”). „The Horse Is Put To Work” spiegelt sehr seltsam das französische Autorenkollektiv Tiqqun im Jahr 1999; logischerweise kickt da der Beat rein. Und hier macht ausnahmsweise das dumm-soundästhetische Berliner-Bar25-Kater-Humpeln Sinn. „The Horse is the Hardware” erinnert an Detroit Techno. „The Horse is Winning” ist „Le Sacre Du Printemps”, das durch Stravinskys Feuervogel gefaltet wird. Ist diese Falte Pop-Barock? „The Horse Has a Voice” geht nach all dem witzig-dramatischen Wahnsinn leider unter. Aber wenn es der Geist aus dem Pferd so will, sei es so („The Horse Remembers”). Läuft („The Horse Is Close”)! Das ist das erste elektronische Musik-Album seit 20 Jahren, das ich nicht durchgeskippt, sondern durchgehört habe. Danke! Mirko Hecktor

Monolake – Hongkong (Field)

Es ist das Jahr 1997, Chain Reaction noch ein vergleichsweise junges Label für die verhuschteren Dub-Techno-Ableger aus dem Basic-Channel-Universum und Robert Henke und Gerhard Behle studieren Informatik in Berlin und legen dabei Grundsteine für die elektronische Musik der kommenden Dekaden.

Zum einen wäre da ihre Musik selbst: verhallte Dub-Techno-Derivate wie „Cyan” oder „Occam”, die zum Teil auch beim Mutterlabel nicht fehl am Platze wären, aber bereits erahnen lassen, wie Monolake — später als Soloprojekt von Henke – in den kommenden Jahren zu einem Meister der Exploration von Hall- und Soundräumen werden wird. Zum anderen die gemeinsame Arbeit an Ableton Live, auf die sich Behle später konzentrieren und die nicht nur die elektronische Musikproduktion massiv verändern und vor allem vereinfachen wird. Die Tracks der ersten gemeinsamen Monolake-Veröffentlichungen werden zusammengehalten von Field Recordings, die die beiden auf einer Reise zur International Computer Music Conference in Hongkong aufgenommen haben und sind zwischen 1996 und 1997 als einzelne EPs und in gesammelter Form als CD bei Chain Reaction erschienen. Von Field wird das Ganze nun als vollständiges Vinyl-Paket wiederveröffentlicht, was in dem Fall überaus angemessen ist. Hongkong darf und sollte man getrost als Zeitdokument und Meilenstein bezeichnen und klingt auch nach mehr als 25 Jahren noch so zeitgemäß und aktuell wie nur irgendwas. Stefan Dietze

Overmono – Good Lies (XL Recordings)

Ab 2016 veröffentlichte das Brüderpaar Ed und Tom Russell (beide auch solo unterwegs als Tessela und Truss) einen Strom an recht brillanten Bass-Music-EPs, die auf smarte Art und Weise allerhand Nischen des britischen Hardcore Continuums erkundeten, gerne auch darüber hinaus gingen. Will heißen: neben Einflüssen von Breakbeat, Jungle, Electro und Garage House schreckten die beiden in ihren von Arpeggios angetriebenen Melodien auch nicht vor, zum Beispiel, Trance-Anleihen zurück. Aber auch Electronica oder droniger Ambient ließ sich gerne finden. Allen Produktionen gemeinsam war dabei – anders als bei ihren eher technoid-bassigen Solo-Tracks – eine gewisse Pop-Ästhetik, nicht zuletzt durch die zumeist weiblichen Vocals.

Die Kulmination dieses kontinuierlichen Stroms an Veröffentlichungen ist nun dieses Album, das klingt wie ein organischer (da scheint wohl die kleinstädtische Südwales-Herkunft der Brüder durch) Klumpen Ton-Erde. Ton hier im Sinne von Sound, natürlich. Und das ist als Kompliment gemeint. Irgendwie erdige Synth-Sounds treffen auf urbane, von Drum’n’Bass und 2-Step inspirierte Beats und bilden eine harmonisch perfekte Einheit. Die Stimmung oszilliert dabei im Spannungsgebiet von Melancholie und Euphorie. Und in den besten Momenten – von denen es einige gibt – verbindet es beide zu einer Musik, die gleichzeitig experimentell wie eingängig ist. Und dank der clever verwobenen Gesangs-Fetzen nie die Hörer:innen verliert. Ist das am Ende der Radio-Pop einer utopischen Zukunft? Vielleicht. Hoffentlich. Tim Lorenz

Packed Rich – Warp Fields (Ilian Tape)

Im Miteinander von Hardcore Continuum und Four-to-the-Floor-Tradition setzt das Label Ilian Tape gemeinhin auf klanglich-atmosphärische Parameter wie Dunkelheit, Wuchtigkeit und Schwere. Anders Warp Fields von Packed Rich, einem jungen Münchner Produzenten, der auf dem Label der Zenker Brothers bereits solo mit einem Beat Tape sowie einer Kollaboration mit Irocc unter dem naheliegenden Namen Pacced Rock vertreten war.

Diese zwölf Tracks sind licht, luftig und leichtfüßig. Eine der zentralen stilistischen Blaupause für Alexis Böttchers Musik findet sich eindeutig im Drum’n’Bass, doch bezieht er sich einerseits auf die liquiden und jazzigen Spielarten des Genres und hält sich andererseits nicht damit auf, deren Konventionen herunterzubeten. Seine freiförmige Adaption bestimmter Stilistiken bürstet tradierte Drum-Patterns gegen den Strich und lässt, vor allem gegen Ende des Albums, seinen Background im Hip-Hop durchscheinen, weshalb auch die Tempi bisweilen variieren und sich sogar wie zufällig Footwork-Assoziationen oder Erinnerungen an die Beat-Szene von Los Angeles einstellen. Dazwischen: Texturen, Collagen – Ambient.

Virtuos ist das, ohne sich über seine Vielseitigkeit profilieren zu wollen. Den ebenso einladenden wie freundlichen Charakter des Albums unterstreicht, dass Böttcher mit Jessica Pham, Marvz und Marco Zenker sowie für gleich zwei Tracks mit Robin Jermer kollaborierte. Community-Spirit umweht diese Musik ebenso wie ein grün duftendes Lüftchen. Smart und tiefenentspannt. Kristoffer Cornils

RP Boo – Legacy Volume 2 (Planet Mu)

„That’s what you do when you got the flo.” Bei RP Boo ist dieser Flow immer knapp in Gefahr, von den wie gegen den Takt gesetzten Synkopen ausgebremst zu werden. Passend zu dem zitierten Sample aus seinem Track „Eraser” kontrastiert der Chicagoer Produzent in derselben Nummer die rhythmisch gesetzte Stimme mit dem Satz „Fuck that, burn ’em all!” und der hochgepitchten Zeile „Live and let die” aus dem gleichnamigen Paul-McCartney-Song.

Die Vorgehensweise fasst den Kern des wohl ersten Footwork-Künstlers überhaupt gut zusammen, diese Fußarbeit ist nichts, das einem zum lockeren Mittanzen geschenkt wird, sie will mit reaktionsschneller Konzentration erarbeitet werden. Gutes Gleichgewicht braucht man nach wie vor, um sich zur Fortsetzung seines Vermächtnisses unfallfrei bewegen zu können. RP Boo gelingt es dabei erneut, auf dem schmalen Grat zwischen begeisternd und nervig zu balancieren, mal mehr zur einen, mal stärker zur anderen Seite neigend. Anspannung gehört bei ihm definitiv zum Selbstverständnis und -gefühl. Wie der Titel nahelegt, ist der zweite Teil von Legacy, mit zehn Jahren Abstand zu RP Boos erstem Album, eine weitere Zusammenstellung früher Tracks. Die folgen zwar einem gut wiedererkennbaren Grundprinzip, zeigen darin jedoch eine Menge Variabilität. Take the flo! Tim Caspar Boehme

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