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Dezember 2022: Die essenziellen Alben (Teil 3)

Rian Treanor & Ocen James – Saccades (Nyege Nyege)

Wieder ein neues Wort, sofern man nicht gerade Optiker oder Psychologe ist. Die Saccades, nach denen die Musiker Rian Treanor und Ocen James ihr gemeinsames Album benannt haben. Sakkaden sind rasche Sprungbewegungen der Augen, um Objekte am Rand des Sichtfelds zu fixieren. Ruckartig und sprunghaft geht es mitunter auch bei dieser Begegnung des britischen Produzenten Rian Treanor und des ugandischen Acholi-Fiedelspielers Ocen James zu. Treanor war für eine Residency zum Kollektiv Nyege Nyege nach Kampala gereist, wo unter anderem diese Platte entstand.

Um die Improvisationen so spontan wie möglich zu gestalten, baute Treanor zunächst ein Instrument, mit dem er auf das Spiel von James flexibel reagieren konnte. Seinen abstrakt-artifiziellen, sperrigen Ansatz hat Treanor dabei etwas modifiziert. Rhythmisch geht es bei ihm weiter gern nach ruppigem Start-Stop-Verfahren zu, manche Stücke lassen allerdings auch Platz für kontemplative Momente, gänzlich frei von Elektronik-trifft-ethnische-Musik-Kitsch, versteht sich. Dafür sind die Klänge, mit denen er arbeitet, diesmal nach dem Vorbild ugandischer Instrumente wie der Adungu-Harfe gestaltet. Eine elektroakustische Grundlage, die bestens zu James’ Rigirigi-Fiedel passt.

Das Ganze ist auf freundliche Art fremdartig, die Erkundungslust der Beteiligten führt über gleichermaßen abenteuerliche wie erfreuliche Strecken. Eine befreite Bündelung von Kräften, die ihre eigene Form schaffen. Tim Caspar Boehme

Simona Zamboli – A Laugh Will Bury You (Mille Plateaux)

Gemütlichkeit ist nicht unbedingt das, was die Produzentin Simona Zamboli in ihrer Musik anstrebt. Ein klein wenig scheint sie auch das Unheimliche zu faszinieren. Auf ihrem dritten Album, dem zweiten in diesem Jahr, tritt sie ihren Hörer:innen mit dem Titel A Laugh Will Bury You sogar in leicht prophetischer Manier entgegen. Dass einem das Lachen bei ihren formwandlerischen Tracks vergehen würde, wäre vielleicht etwas übertrieben.

Doch sie jongliert mit oft gegensätzlichen Stimmungen, rhythmischen und melodischen Ideen, lässt die Musik immer neue Richtungen nehmen, als stünde die Musik kurz davor, sich von innen heraus zu zersetzen. Das kann zuerst unbehaglich beengend wirken, um im nächsten Moment einen anziehend kaputten Groove zu entwickeln. Die Sache verlangt durchaus Aufmerksamkeit, diese wird jedoch zuverlässig belohnt. Unter den abenteuerlustigen Produzent:innen, die sich heute an den Rändern der Clubmusik ihre eigenen Gedanken machen, findet Simona Zamboli immer wieder eine Position zwischen irritierend und einnehmend. Gefährlich kann es mitunter ebenfalls werden. Angstlust auf der Tanzfläche. Tim Caspar Boehme

Derzeit ist das Album noch nicht streambar.

Sohrab – Voyria (Kalahari Oyster Cult)

Kalahari-Neuzugang Sohrab tat sich bisher mit zwei EPs auf den Labels Marginal Returns und Undersound Recordings hervor, die er 2019 und 2021 veröffentlichte. Nun also sein Debütalbum mit acht Tracks zwischen Ambient, Trance und Progressive House. Passt somit haargenau ins Profil des kleinfeinen Boutique-Labels Kalahari Oyster Cult. Wobei deren Soundprofil (Leftfield-House mit starken Früh-Neunziger-Referenzen von Rave bis Prog, von Trance bis Ambient) auch immer mehr im Dancefloor-Mainstream ankommt. Doch das sei nur am Rande angemerkt.

Sohrabs Album teilt sich recht offensichtlich in zwei Blöcke. Die ersten vier Tracks (respektive die erste Platte, so man sich für die Vinyl-Veröffentlichung entschieden hat) bilden sozusagen den Club-Bock: Vier funkelnde, fröhlich über den Dancefloor hüpfende Techno-House-Kleinode, die auf der Warehouse-Party ebenso wenig fehl am Platze sind wie auf dem nächsten Psytrance-Open-Air im kommenden Sommer. Höhepunkt dabei zweifelsohne die gute Laune in fröhlichen Fontänen verbreitende Uptempo-Acid-Nummer „Movimento Perpetuo”.

Im zweiten Teil drosselt Sohrab dann das Tempo merklich für vier Downtempo-Tracks, die tief in den psychedelischen Urwald Ayahuasca-getränkter Electronica führen. Bei „Fleeting Thoughts” sieht man sich sogleich den lysergischen Fluss Amazoniens hinabtreiben. Die beiden Folge-Tracks, „Sunseeker” und „V.R.F.”, vertiefen diesen Eindruck mit minimalistischem 303-Sequenzen und hypnotischen Breakbeats noch. Bei dem wunderschönen „Crystal Clear”, das mit knapp dreieinhalb Minuten übrigens viel zu kurz ist, kommt man vollends in beatloser Ambient-Herrlichkeit an und formuliert im Kopf schon mal eine Petition zur Rückkehr der Chill-Out-Räume in die Clubs. Ein perfekter Ausklang also. Tim Lorenz

SW.  – okALGORYTHM (Avenue 66)

okALGORYTHM ist bereits SW.s drittes Album auf Avenue 66, und wie es gerade der Trend zu sein scheint, ist auch dieses gespickt mit Neunziger-Referenzen. Doch sind hier weniger Trance und Progressive House Trumpf (wobei die Tracks durchaus in Trance zu versetzen wissen) als vielmehr Chicago House und Detroit Techno in all ihren Facetten. Und das wiederum so geschickt in Szene gesetzt, dass es zumeist gar nicht auffällt. Ein Album, das zwar von der Vergangenheit inspiriert ist, dennoch aber frisch und vorwärtsgewandt klingt. Die Vergangenheit sozusagen im Rückspiegel, während die Fahrt geradeaus geht.

Und was für eine wunderbare Fahrt das ist, quer durch die Nacht auf der Autobahn zwischen Windy- und Motor-City. Die analogen Hardware-Maschinen wackeln im Rhythmus des Untersatzes, untight as can be, in diesem Swing jedoch einen hypnotischen Groove entwickelnd, der seinesgleichen sucht. Der tief und unwiderstehlich hineinzieht in diese somnambule Sinfonie, geschmiedet aus traumhaften Sequenzen, verwobenen Acid-Lines und schwingenden Melodie-Kurven, die kein Bein unbeweglich lassen, keinen Fuß ungetanzt. Eine Hommage an die elektrisierende Techno-Nacht, von gestern übers Jetzt in den Morgen hinein. Tim Lorenz   

Terence Fixmer – Shifting Signals (Mute)

Der fünfte Track auf Terence Fixmers erstem Longplayer auf Mute heißt „Roar Machines”, und eigentlich hätte so auch das Album betitelt werden können. Denn brüllende Maschinen ziehen eine Spur durch Shifting Signals, mal zurückhaltend oder wie von außen gebremst, mal aus vollem Hals. Das klanglich angedeutete und titelgebende Nebelhorn in „Corne de Brume” gehört eher zur ersten Kategorie, schickt seine klagenden Rufe nicht den Notruf-Regeln gemäß in die Welt, sondern gebrochen, ohne Zuversicht.

Diese Stimmung und das Ignorieren der üblichen musikalischen Viererperiode finden sich wieder im Höhepunkt des Albums: „The Passage” brüllt ebenfalls, aber wieder nicht aus Lust und Lebensfreude – auch hier schwingen Anklage und Auf-den-Tisch-Hauen mit, hier wird nicht einer verordneten Form genüge getan, weder einer züchtigen noch einer, die sich gehen lässt, sondern es wird frei deklamiert, opponiert, angeklagt. Eine solche Gemütsverfassung muss jeden vorgegeben Periodenrahmen sprengen, da kann nicht nett strukturiert oder gar auf Mixbarkeit geachtet werden.

Und in dieser Stimmungslage geht es in den folgenden Tracks weiter, weniger heftig, dafür vielschichtiger in „No Latitude For Errors”, spartanischer dann in „The Way I See You”, wo Sparta direkt neben Düsseldorf – der Heimat von D.A.F. – liegt. Das ebenfalls leicht Kraut-Electro-infizierte „Matière Noir” markiert nach diesem Ritt einen Schnitt, die folgenden drei Stücke verzichten auf große Gesten und jedes Brüllen, das abschließende langsame „Dersertic” bewegt sich sogar fast komplett in versöhnlichem Dur. Mathias Schaffhäuser

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