Artefakt & Claudio PRC – Collaborations I (De Stijl)
Es ist halb fünf, du steckst dir die dritte Packung Orbit zwischen die Zähne und folgst der Kauanleitung. Vorne stehen drei Hypnosekünstler und wissen ganz genau, welche Knöpfe sie auf ihren Maschinchen drücken müssen, um dich zwei Stunden im Loop zu halten. Immer weiter, immer gleich – immer nach vorne funkelt die Kickdrum in den Farben des Chemiebaukastens. Das niederländische Düster-Duo Artefakt und Claudio PRC, beide auf Labels wie Semantica und Prologue und Delsin zu Totem-Trance-Taktikern aufgestiegen, fahren ihr Programm.
Sie schwenken das Pendel vor deinen Augen, du wirst müde, immer müder, bis irgendein Typ in ner Lackhose mit „Gaia” den ersten Track auflegt. Plötzlich geht die Sonne auf, der Bass bohrt dich an die Wand wie ein Ikea-Regal, schon sitzt jemand am Piano und rüsselt zum Wachwerden erstmal drei Lines Keta weg. Du fragst dich, wie viel Zeit vergangen sein mag, seitdem du das letzte Mal was gegessen hast. Drei Stunden? Vier Tage? Ein ganzes Leben? Die drei Fragezeichen geben keine Antwort. Sie schicken dich mit „Dwelling” in die nächste Schleife. Sieben Minuten, die wie im Flow vergehen. Sieben Minuten, in denen sich ein Dyson-Staubsauger am Powder bedient. Artefakt und Claudio PRC scheißen sich nichts, wenn es darum geht, nichts zu ändern und alles anders zu machen. Wer mit Tribal-Techno und angezogenen Handbremsen („Sonic Rite”) genauso glücklich wird wie mit B2-Drone-Fillers, holt sich den Hypnohuscher blind. Christoph Benkeser
Courtesy – Night Journeys (Kulør)
Najaaraq Vestbirk hat sich im Laufe ihrer Karriere stets trendbewusst gezeigt. Dass ihre Debüt-EP unter dem Namen Courtesy allerdings mit trancigem Ambient aufwarten würde, lag nicht unbedingt nahe. Die vier durchnummerierten Night Journeys seien das Produkt der ersten Pandemiewochen und der damit einhergehenden psychischen Belastungen gewesen: Musik, die Vestbirk sich des Nachts vorgespielt hat, um ihren Panikattacken etwas entgegenzusetzen.
Zwei Jahre später scheint die Ausgangssituation dieser Musik wie eine entfernte Erinnerung und stehen die von gelegentlichen Trance-Samples, Live-Instrumentierung und Vocals abgerundeten Stücke also für sich. Natürlich erinnern sie ihrem beatlosen Pointillismus wegen gleichermaßen an Neunziger-Ambient aus den Händen von Pete Namlook, Lorenzo Sennis Trance-Abstraktionen oder aktuelle klangliche Beruhigungsmittel mit Patschuli-Note wie von etwa Kaitlyn Aurelia Smith oder Lyra Pramuk. Musik, wie sie immer schon gut funktioniert hat und auf diesen vier Stücken sehr konsequent durchexerziert wird. Kristoffer Cornils
Nasty King Kurl – Baba Bass Tunes (777)
Nach der 20 Tracks starken VA-Compilation Nasty Tales auf seinem eigenen Label meldet sich Nasty King Kurl mit einer EP auf Ron Wilsons 777-Imprint zurück; dort hatte der Wahlberliner bereits zwei Veröffentlichungen, deren auf Drummachines und augenzwinkernden Vocal-Samples basierender Sound sich problemlos an die Graffiti-Ästhethik des Labels anschmiegte.
Die Baba Bass Tunes lehnen sich noch einen Deut stärker als sonst an die frühen Electro-Vorbilder an, mit deutlich synkopierten Breaks und Vocoder-Vocals. Die fallen diesmal nicht ganz so ironisch wie sonst aus und bringen eine Prise R’n’B- und Trap-Feeling in die von dicken Bassdrums dominierten Tracks. Eine gelungene Abweichung von der gewohnten Rezeptur bietet außerdem die B2-Nummer „Only For Me”. Dort gibt der funktionale Drumtrack als Unterbau der Leipziger Soundkünstlerin Ana Bogner den Raum, über die eigene Sexiness als etwas ganz für sich selbst Zelebriertes zu sprechen. Leopold Hutter
Radio Hell – This is Radio Hell (Rekids)
Gehen Radio Slave und DJ Hell gemeinsam ins Studio, wird’s nicht witzig. Comichaft wie das Cover klingen die beiden Stücke dieser Jubiläums-EP zum 200. Release des in Großbritannien und Berlin arbeitenden Labels Rekids schon. Comichaft, weil es nur Schwarz gibt und Weiß und ein paar Graustufen. Doch gehen Radio Slave und DJ Hell ins Studio, dann wird’s tranceig. Wie im Zustand, nicht wie im Genre.
Im Titelstück halten die beiden einen ellenlangen Spannungsbogen, der mit der dämonenhaften Ansage „This Is Radio Hell” über mitternächtlichen House-Beats, Offbeat-Midrange-Keyboards und hintergründigem Flackern eine niemals in die Langeweile kippende Monotonie mit großer Geste zelebriert. Ein Jahrhundert-Track, wenn auch des 20. Jahrhunderts, doch wen mag das stören? Auch die B-Seite „Lost Souls” dehnt sich deutlich über zehn Minuten hinaus. „Got Soul” legt sich breiter, dafür auch etwas schwerfüßiger an im Beat, erfährt dafür jedoch einen Drall, der es unweigerlich ins Weltall hinausbugsiert, sodass sich von oben eine große Schwerelosigkeit auftut. Keine staatstragende EP zum 200., eine heiße Frische. Christoph Braun
Ràkale – Irregular Step (Funnuvojere)
Nach seinem Debüt auf Compost vor mehr als einer Dekade hat der italienische Producer Dodi Palese in erster Linie auf eigenen Labels wie Engrave Ltd, What Ever Not und Ràkale veröffentlicht. Für seinen Einstand auf Massimiliano Pagliaras Funnuvojere nimmt Palese den Namen seines jüngsten Imprints an. Cosmic steht als Vorzeichen vor allen vier Tracks auf Irregular Step.
„Breakfast” steuert als fast schon klassizistischer Detroit-Electro-Tune mit Maschinengesangsdialogen ein geradezu jazziges Keyboardsolo an; nicht gleichermaßen überzeugend ausgefallen ist „There Only Seems To Be One Thing On My Mind”, das sich über einer subsonischen Chicago-House-Bassline aufbaut und doch keine wirkliche Hymne abgibt. Ganz im Gegensatz zur B-Seite, auf der Synth und Minimal Wave den Ton angeben: Im labyrinthischen Mäandern des Titeltracks, insbesondere aber im rhapsodischen Bleep-Epos „Venere” läuft Palese mit Electric-Boogie-Claps zu Höchstform auf. Harry Schmidt