Diverse – dogged boldness (DURCH)
Veröffentlichungen von DURCH sind wie Analplugs im Alltag. Hart am Anschlag, aber herzlich im Abgang. Das queere, sexpositive Party-Kollektiv zwischen Berlin und Tel Aviv streckt zum Vinyl-Erstling vier Fäuste für ein Halleluja. Soll heißen: Ein Quartett-Banger zwischen Bunker, Darkroom und Toilettenparty wachst das Leder, der andere zurrt die Seile und zwei andere schauen zu, wie die Kick im Stechschritt durch die Turnhalle marschiert und das heteronormative Patriarchat auseinanderflext. Ach ja, wer’s gern groovy hat und sich bei der Ü30-Sause irgendwas aus den 70ern wünscht, bleibt heut daheim. Femanyst verlegt Stacheldraht im Harnkanal, Fluid legt drei Lines auf, während Hybral alles wegrüsselt und Marsch nach einem Wasser fragt. Wahrlich, der Leibhaftige zerfickt auf der dogged boldness, bis – gebenedeit sei die Wut deines Lebens – das Licht angeht oder die scheiß Viren krepieren. Egal wie, das ist Material für die Peaktime, wo die Schubladen noch schieben und das Gedeck schon am Tisch liegt. Zersägt die Ketten, legt alles frei. Mit DURCH rattern die Waschmaschinenkicks wieder wie in den 90ern. Übrigens: No racism, no sexism, no discrimination, no discussion, kennscht dich aus! Christoph Benkeser
Kilbourne – Cathedrals (PRSPCT)
Wie Mumford and Sons zu Moby stehen, stehen Darkthrone zu Kilbourne. Schlechter Vergleich? Nächster Versuch: Man nehme einen Fleischwolf, befülle ihn mit Atari Teenage Riot, Ministry und Grindcore-Bands wie Carcass, Nails oder Napalm Death (je nach Geschmack), und voilá: rauskommt: Kilbourne. Entsteht ein Bild? Gut. Sucht man nach ähnlichen Künstler*innen, läuft man glatt ins Leere. Früh hat die Brooklyner DJ ihren völlig eigenen Salat aus Hardcoretechno angerichtet und perfektioniert ihn nun auf Cathedrals, nachdem sie 2021 schon mit der alles zermalmenden Seismic EP für Bereicherung in den Jahresbestenlisten sorgte.Monströse Nummern, höchst aggressiv, divers und dynamisch, gewitzt und düster. Immer noch ein Grad verzerrter, noch einen Funken grooviger und hier und da mit einem im allgemeinen Rauschen versteckten, lieblichen Vibe garniert. Cybergrind de la crème. Schon der wahnsinnige, fast etwas zu übertriebene Eintritt in die Todesspirale, „Society Scandal”, überzeugt voll und ganz. Hauptsache, es stampft, stumpf, schnell und heftig, verzerrt, harsch und wie eine Ausgeburt von Neo Tokyo nach dem Fallout. Das Geschrei ist das der Wesen, die dann aus ihren Löchern kriechen – kaum mehr Mensch, nur noch Wahnsinn. Peak der Vier-Track-Feier (und Anwärter für den Track des Jahres) ist die gemeinsame Sache mit DJ Narotic. „Don’t even try to fuck with us”, ertönt es da. Wer würde es wagen? „This is the New York Takeover”! Und gemeinsam gründen sie die „United States of Speedcore”. Wie gerne hört man ihrer Hymne zu. Lutz Vössing
Lars Bartkuhn – Transcend (Rush Hour)
Sehnsüchtig wartet man auf neue Musik von Lars Bartkuhn. Er hat ein einzigartiges Gespür für natürliche Eleganz, ob in Rhythmik oder Harmonie. Alles hat seinen Platz an der richtigen Stelle. Balance scheint sein zweiter Vorname, Ausgewogenheit auf allen Ebenen bis hin zum feinen Mixdown der Spuren. Bei so viel Balance passiert es oft, dass eine gewisse Kantigkeit oder Würze fehlt – allerdings nie bei Bartkuhn. Er ist ein Meister darin, an der Kante zu surfen, ohne den Überblick und das Feeling für das richtige Maß zu verlieren. Und während viele seiner Kolleg*innen sich in egozentrischen Jazzfunk-Solis verzetteln und die davon gelangweilten Zuhörer*innen oder Tänzer*innen auf dem Floor verlieren, sprüht Bartkuhn nur vor musikalisch spannenden Ideen und füllt beim Publikum spielerisch jede Sekunde mit echter Erwartungsfreude.
Die A-Seite seines Rush-Hour-Debüts hat den Floor im Fokus, Rhodes, einen klaren, relativ straighten Beat, verbunden zu einem höchst lebendigen, natürlichen Groove. Einer dieser Must-Dance-Momente im Club – und zu Hause. Man will mehr, ein Sog entsteht. Die B-Seite dann eher entspannt und midtempo, balearische Leichtigkeit. Eine jazzfunkeierlegende Wollmilchhousesau. Endlich. Richard Zepezauer
Lost Trax – Mind Over Matter (Delsin)
Auch im 16. Jahr des Bestehens stellt sich mitunter die Frage nach der Identität der Lost-Trax-Mitglieder – und wen wundert’s? Natürlich wird auch diesmal nicht aufgeklärt, wer denn da schon so lange feisten Techno, Jack-Beats und Mid-Chicago-Sounds bastelt. Stattdessen macht man schnurstracks da weiter, wo man mit jeder Platte endet: Kenne ich das hier eigentlich schon, oder ist das originäres Material?
Denn Lost Trax schaffen es wiederholt – und eben abermals hier – ihren Sound so perfekt zwischen Ron Trents Realtered States und UR zu verorten, dass man nur an der Reinheit der Produktionen wirklich hört, dass es sich hier um neues Material handeln muss. Bei einer wilden Acid-Sause wie „Bring You Back”, wo die 303 Überstunden macht und wie ein Amazon-Mitarbeiter in eine Plastikflasche pinkelt, ist alles on fleek, und die Höhen schneiden messerscharf in die Hirnwindungen.So sehr es ein Übergewicht Richtung Chicago auf dieser Platte gibt, so klar ist dann wiederum viel von dem, was im Hintergrund passiert, einfach wunderbar deeper Detroit-Techno. Es ist eben die Gunst der späten Geburt, sich nicht in alten Fehden verzetteln zu müssen, sondern synthetischen Ausgleich zu finden. Wenn dabei so eine wohltemperierte Jagd wie „In Pursuit” entsteht, dann umso besser. Raumschiff-Paranoia trifft auf Säurebad, flirrende Stromkreise auf sanft-verhallte Claps – da fragt man wirklich nicht mehr nach Gesichtern zum Sound, sondern genießt einfach. Lars Fleischmann
Lucker – Sapiens (Molten Moods)
Zuerst auf dem Hot Steel-Sampler auf Nina Kraviz’ Label трип in Erscheinung getreten, serviert Lucker mit Sapiens nun sein Debüt via Molten Moods – geteasert als „Minialbum”. Auf dem mixt der scheinbare Frischling routinierte Techno-Vierviertler mit Breakbeats, schnittig geloopten Vocals und einer wenig generischen Auswahl an Shots und Samples, zumindest meistens. Tracks vom Kaliber eines „Cloud Sniff” oder „Placebo Heart” sind deshalb unter technischen Aspekten durchaus interessant und lassen erahnen, dass einiges an Expertise in die Produktion geflossen ist. Die ist treibend, vital und manchmal angenehm verworren, was dafür gesorgt hat, dass Sapiens stolz der inflationär genutzte IDM-Tag angeheftet wurde.
Sicher nicht gänzlich verkehrt, schafft es diese EP über ihre gesamte Länge jedoch kaum, Tanzwut und Nachdenklichkeit miteinander zu vereinen – eines von beidem bleibt oft auf der Strecke. Vielleicht ist die richtige Stimmung vonnöten, vielleicht der richtige Bewusstseinszustand? Vielleicht muss man aber auch Einsteiger*in in diesem Bereich sein, damit Vergleiche ausbleiben. Schwer zu sagen. Der Wille für ein unkonventionelles Sounddesign ist erkennbar, die Skills scheinen – das muss noch mal betont werden – ebenfalls vorhanden, doch unterm Strich schwirrt Sapiens in ein Ohr hinein und sofort aus dem anderen wieder heraus. Nichts bleibt hängen. Muss es womöglich auch nicht. Aber diese Mischung aus Techno und Breakbeats haben andere in den letzten Jahren schon deutlich mitreißender, prägender, kreativer hinbekommen, unter anderem auch aus München. Nils Schlechtriemen
Disclaimer: Lucker war 2020 als Praktikant bei der GROOVE tätig.