Avilynn – Five Million Sunsets EP (Taisha)
„Why So Serious”? fragt die Berliner Produzentin Avilynn im ersten Track ihrer zweiten EP, was man im allgemeineren Sinn als richtige Frage für verbohrte Zeiten lesen kann. Auch auf die Musik selbst passt der Titel gut, hat die Kombination von ungeduldig synkopiertem Breakbeat und mit leichtem Hall versehenen, zögerlich tastenden Melodien doch etwas Spielerisch-Witziges. Könnte sich auf Tanzflächen übertragen, wo auch immer die gerade zu finden sind.In seinem Remix bringt Answer Code Request die Angelegenheit erst einmal auf Club-Betriebstemperatur, lässt aber auch zwischen seinen knirschenden Industriegeräuschflächen genügend Raum für federnde Synkopen. Der titelgebende Track nimmt dann gründlich das Tempo raus, mit Glissando-Synthesizerlinien, die langsam über einer Art tribalistischem Rhythmus segeln, ergänzt um Echo-Akkorde, wie sie im Dub Techno gebräuchlich sind. Zähe Basstöne ziehen derweil gegen die Massenträgheit an. Zum Abschluss bietet die letzte Nummer reichlich quecksilbrig-metallische Effekte auf, die über sacht-nervösem Beat vorüberrauschen. Frische Mischung. Tim Caspar Boehme
Burial – Antidawn (Hyperdub)
Es ist eine schöne Tradition geworden: Kein Weihnachten ohne neues Burial-Material oder zumindest eine Release-Ankündigung. Die Aufregung ist in den ersten Tagen immer groß, die Begeisterung aber nicht immer nachhaltig. Dass Burial der Welt kein drittes Album und höchstens eine Handvoll Tracks geliefert hat, die an seine Früherfolge erinnern, spricht für ihn als Künstler, der seiner eigenen Vision folgt. Nur heißt das eben lange noch nicht, dass auch die Musik immer etwas zu sagen hat.
Antidawn ist ein Fast-Album mit fünf Stücken auf insgesamt 43 Minuten. Wobei auch schwerlich von Stücken gesprochen werden kann. Denn eher noch handelt es sich um Klangcollagen, für die William Bevan ein paar bekannte Motive (gepitchte, entgenderte Vocals, artifizielles Vinylknistern) und eindeutig zu seiner Klangsignatur gehörende Elemente (elegische, patinabehaftete Synths, wie aus dem anderen Raum kommende Beats) einander überlagern lässt wie Nebelbänke an einem klirrekalten Wintermorgen an der Küste. Der Ansatz lässt sich vielleicht als Musique-concrète-Supercut durch die eigenen Sample-Librarys beschreiben, alles zusammengefügt in der veralteten Version einer Open-Access-DAW.
Bisweilen lässt das natürlich an die Computerspielmusik denken, die in Burials Schaffen schon immer eine Referenz darstellte, manchmal aber auch – wie im Titelstück oder auf „New Love” – dann doch eher an Noise als an die Ambient-Musik, an die sein Werk schon immer borderte. Selbst wenn Rhythmen die Tracks strukturieren, wirken sie noch hintergründiger als je zuvor.
Es geht Burial auf Antidawn ohrenscheinlich nicht um eine lineare Erzählung oder die Schaffung kohärenter musikalischer Formen, sondern die traumlogische Erkundung diverser Klangqualitäten. Als Prinzip ist das bestens aus der Sound Art, dem Ambient und anderen experimentellen Spielarten der elektronischen Musik bekannt – nur klang davon noch nie etwas wie dieses Fast-Album. Das macht es andererseits nicht unbedingt zu einer Platte für den Hausgebrauch, denn abgesehen von denen ad nauseam geloopten Vocals und einigen gleißenden Melodien bleibt nach diesen 43 Minuten kaum etwas im Gedächtnis hängen, und selbst hartgesottene Fans könnten diese Platte sperrig finden.
Viel eher funktioniert Antidawn als im Fluss befindliche, intuitive Konzeptkunst, als kreativer Befreiungs- und Rundumschlag durch das eigene Erbe. Vielleicht ein Zwischenschritt also, hin zu einem völlig neuen Burial. Wir werden es spätestens im Dezember herausfinden. Kristoffer Cornils
Dovie Cote’ – Dovie Cote EP (Alleviated)
Eine Platte wie eine Heimkehr. Erst ist das Gefühl kurz diffus, fragmentierte Echos von Partysituationen und Assoziationen verschwommener Gefühle blitzen im Millisekundentakt auf, bis der Denkprozess einhakt und ein klares Ergebnis liefert: Larry Heard, logisch, klar! Sofort konkretisieren sich Namen und Erinnerungen: An den legendären Sound von The IT, vor allem an die Arrangements des Chorgesangs in einigen Refrains, an Fingers Inc. und an die Stimme von Robert Owens. Ein Blick auf das Label der Platte gibt Gewissheit: Heard ist Co-Autor und Produzent der EP.
Aber es wäre ungerecht, Dovie Cote’ (das Apostroph gehört zum Künstlernamen!) nur auf die Funktion als Sänger zu reduzieren. Seine EP hebt sich in nicht unwesentlichen Details ab von Larry Heards Trademark-Sound, klingt organischer und – gerade im Opener „My Desire” – noch sanfter als die 80er-Smoothness des Meisters (ja, das geht!). Auch hier gibt das Label Aufschluss: Cote’ wird dort als Toningenieur gelistet. Aber herausragend sind tatsächlich sein Gesang und die mehrstimmigen Passagen der Tracks, ganz besonders im zweiten Song „Change Lanes”, die etwas Betörend-Beschwörendes haben und eine eigentümliche Magie ausstrahlen.
Darren Brandon alias DJ Quad fängt dann in seinem fast zehnminütigen, epischen Remix von „My Desire” die Stimmung der beiden Originale adäquat ein und verlängert dadurch die Reise in diese sehr spezielle Echokammer der Techno-House-Geschichte noch einmal. PS: Richtiges Heimkehr-Gefühl stellte sich dann beim Abtauchen des Autors in The ITs Album On Top Of The World ein – wer das lange nicht mehr (oder gar noch nie) gemacht hat, sollte sich diese Erfahrung unbedingt zum Jahresbeginn gönnen. Mathias Schaffhäuser
Hörbeispiele findet ihr in den einschlägigen Stores.
FFT – Disturb Roqe EP (Numbers)
Die Hi-Hats bewegen sich unnatürlich schnell durch den Stereoraum. Auf Kopfhörern löst das erwartbare ASMR-Gefühle aus. Während unzählige Hobby-YouTuber*innen diese Art der exquisiten Klangerzeugung für massentaugliche Pseudo-Soundfetisch-Kleinhirne kurz vor zerebralem Foodporn mit einer Cellophanverpackung und mittelguten Standard-Stereo-Mikrofonen hinbekommen, weist die Produktion von Josh Thompson alias FFT aus Bristol, dessen Künstlername mit der Schnellen Fouriertransformation – einer algorithmischen Berechnungsmethode – verwechselt werden kann, auf das Abtastraten-Verfahren der MP3- und JPEG-Komprimierung hin.
Die FFT von Bildern oder Tönen ergibt oft nur relativ wenige Frequenzanteile mit hohen Amplituden. Kann das digitaler Punk sein? Natürlich streckt und staucht dieses Verfahren auch analog aufgenommene Klangsignale per Synthese. Der digitalisierte Frequenzbereich kann beliebig berechnet und verändert werden. Zum Beispiel nimmt ein Mikrofon das komplette Eingangssignal aus verschiedenen, per Luft übertragenen Schwingungen – also komplexen Frequenzüberlagerungen – auf. Dieser Frequenz-Mashup kann per FFT-Algorithmus in seine Ursprungs-Herz-Schwingungen separiert werden.
Damit packt FFT noch ein paar schnelle Verweis-Micro-Samplings in die Produktion, als wäre er in den frühen 1990er Jahren in der Oper Frankfurt in einem spätmodernen Forsythe-Ballett stecken geblieben. Da darf die ordentliche Klangtransponierung nicht fehlen. Als wäre ein Hochschulabgänger im Inception-Film-Loop die Geisel. Paste. Mit Granularsynthese und digital langgezogenen Sounds schwebt über der Platte der abgedroschene Gestus der dystopischen und unheilvollen Zukunft. Und irgendwo verirrt sich ein hochgepitchter, hingehackter, von Drum‘n’Bass-Platten geklauter oder von der volldigitalen MC303-All-In-Workstation aus dem Preset-Modus gerippter Basslauf. Der erinnert dann doch noch mal ganz gut an die Plump DJs im Jahr 1999. Das war der Deconstruced-Club-Hype. Moment! Ist das etwa dreimal der identische Track, der nur auf unterschiedlichen Tempi abgespielt wird? Dann wäre diese Attitüde der Rotzigkeit doch ganz geiler digitaler Punk. Mirko Hecktor
Source Direct – Snake Style 2 (Tempo)
Knapp ein Jahr nach der fulminanten EP Dangerous Curves ist der Brite Jim Baker alias Source Direct mit neuem Material zurück auf dem niederländischen Label Tempo Records, einer der europäischen Adressen für Musik zeitgenössischer Drum’n’Bass-Produzent*innen und Veteran*innen des nervösen, raumschaffenden Stils wie Hidden Agenda.
Das Titelstück ist ein neuer Source-Direct-Edit des 1995 veröffentlichten Tracks „Snake Style”, das den berühmt-berüchtigten, genredefinierenden Amen Break heftig dehnt und schleift. Auch die beiden neuen Tracks, „Street Wars” und „Diamonds”, verbreitern die Rhythmen und präsentieren jenen unverwechselbaren Sound, für den Source Direct so berühmt ist. Dazu komplex konstruierte Breakbeats, knifflige Tempo-Experimente, bissige Hi-Hats, düstere Soundatmosphären, kräftige Sub-Basswellen und gespenstische Vocal-Samples. Nichts Neues also, und dennoch absolut frischer, kunstvoll produzierter Drum’n’Bass voller dystopischer Klanglabyrinthe. Das reiht sich perfekt ein in die Diskographie von Source Direct, in der ja ohnehin zahlreiche ewig haltbare Tracks wie „A Made Up Sound” oder „Call & Response” auf neue Fans warten. Michael Leuffen