Benedikt Frey & Tim Toh – NAVA (RIO)
Benedikt Frey und Tim Toh können beide auf erfolgreiche Diskografien im Clubkontext zurückblicken. Auf ihrer gemeinsamen EP betreten sie allerdings stilistisches Neuland. Und haben sich einige Gefährten mitgebracht.
NAVA zieht seine deutlichsten Einflüsse aus den Jahren des Krautrocks, mit freidrehenden Synthesizern, zum Leben erwachten Computern und sogenannter Vocoder-Poesie auf Deutsch. Klar für solche Ideen zu haben: Impro-Schlagzeuger und bekennender Kraut-Fan Niklas Wandt, der auf der elfminütigen Weltraumreise die elektronisch einbalsamierte Stimme von Lisa Toh auf der Trommel begleitet.
Ähnlich wie das Eröffnungsstück darf jeder der vier Tracks seine ganz eigene Bahn ziehen und kommt am Ende selten wieder am Ausgangspunkt an. „Anfang”, mit seinem nervösen, vielschichtigen, aber wenigstens auf 130BPM getrimmten Beat, wäre vielleicht noch die clubtauglichste Nummer auf der Platte, doch selbst hier nehmen die Echoschleifen und Schrägheit der Computersounds irgendwann Überhand.
Auf „Vereint” steht Tyler Popes Bassgitarre im Vordergrund, während das Schlagzeug einen jazzigen Drive fährt und dabei dicke Flächen ein energisches, aber von schwerer Melancholie gefärbtes Bild zeichnen. Zum Schluss noch die Portion eiskalter Vocodor-Minimal-Techno-Pop – dessen Drummachine auf halber Strecke aber überraschend komplett vom Saxophon abgelöst wird.Insgesamt eine verblüffende EP voller kreativer, organischer Auswüchse, die sich nicht nur stimmig zu einem Gesamtbild zusammenfügen, sondern auch alleine als Tracks für sich überzeugen können. Leopold Hutter
Cooly G – Save Me (Hyperdub)
Weniger wie ein Teppich, sondern eher als Klangschleier erscheint Merissa Campbells alias Cooly Gs Single Save Me. Dieser luftig-leichte Schleier formt sich aus zwei Tracks, in denen die Londonerin den einzelnen Klangelementen – den kullernden Drums, ausgefächerten Basslines und dezenten Pads – viel Raum zum Atmen gibt.
Neben dem titelgebenden, Deep-House-angehauchten Track „Save Me”, in dem Campbells eigener zarter Gesang zu hören ist, sticht eigentlich der zweite Song „We Can Find Love Too” ins Auge. Getragen wird er von Ruth Browns rauchiger Stimme, die wie ein Anker für die holprig-rhythmischen Drums wirkt. Campbell hat ihren Bass- und House-lastigen Sound mit weiteren Stilen wie Amapiano und Drill angereichert, ohne dabei ihre Tracks zu überfordern. Geblieben ist eine Transparenz im Arrangement, die Save me eine angenehme Leichtigkeit verleiht. Louisa Neitz
Hodge & Simo Cell – Drums From The West EP (Livity Sound)
Hodge. Simo Cell. Livity Sound. Was sich als Aneinanderreihung von Namen schon auf dem Papier beeindruckend liest, das klingt auf Platte nicht minder überzeugend. Sowohl der Brite als auch der Franzose gehören zu einer Riege von Hoffnungsträger*innen, die an den Rändern von UK-Bass-Music Brücken hin zu anderen Stilen und Szenen schlagen.
Nachdem die beiden auf der Compilation zum zehnjährigen Jubiläum von Livity Sound separat vertreten waren, bestreiten sie nun die 50. Katalognummer gemeinsam. Schon der Opener „Medusa” verdeutlicht, dass sie sich auf musikalische Reduktion mit dem Zweck eines maximalen Impacts entschieden haben: Ein Track, der gleichzeitig langsam und doch gehetzt scheint, spartanisch ausstaffiert und doch überwältigend.
Nach diesem verträumt-lysergischen Hybrid aus Techno-Grooves und der tieffrequenten Schwere des Hardcore Continuums steigt der Titeltrack „Drums from the West” in den Keller einer Fabrikruine herunter: Hochgeschwindigskeits-Industrial nennt sich das wohl, als hätte jemand Mick Harris’ Scorn-Projekt eine Ladung Speed in die Nase geschoben.
Die Flipside bietet sanftere Töne: „You Think to Much” klingt wie ein Burial-Track in HD und mit mehr Wumms, „Ah Bon” scheint seine Inspiration eher aus den Rhythmen von Kwaito oder Kuduro zu beziehen, als es die aseptischen Synthie-Lines und enervierenden Vocal-Loops zuerst vermuten lassen. Auch wenn die Stärke dieser EP in ihren ersten beiden Stücken liegen mag: einfallsreich und brillant produziert ist auf Drums From The West allemal jede einzelne Sekunde. Kristoffer Cornils
Mikkel Rev – UTE007 (Ute.Rec)
Bereits seit einigen Jahren ist vom großen Trance-Revival zu hören. Lang genug, um festzustellen, dass das Genre nunmehr vollständig wiederbelebt ist und allmählich einen fast omnipräsenten Status erreicht. So wurden nichtsahnende Zuschauer*innen bei Wetten, dass ..? vor einigen Wochen von Helene Fischers neuem Hit aus der Kategorie Kirmes-Trance beglückt. Ein dienliches Beispiel für das allerfinsterste Ende eines musikalischen Spektrums, das in seiner ganzen Breite zwar jede Menge, aber eben nicht ausschließlich Schrott hervorbringt.
Eindrucksvoller Beweis hierfür ist das Osloer Label Ute, das seit 2019 eine Reihe von EPs und Compilations herausgebracht hat, deren Fokus nicht auf dick aufgetragenen Drops, Breakdowns und Melodien zum Nachgrölen liegt. So verhält es sich auch mit dieser Platte von Mikkel Rev, die in ihrer Esoterik völlig unironisch ist (das dritte Auge hört hier definitiv mit) und trotzdem nicht nervt.
Alle vier Tracks suhlen sich in weitgreifenden Pads und Melodien, laden jedoch eher zum Eintauchen als zum Ausrasten ein. Zu hoch ist hier die klangliche Komplexität, die minutenlang mitreißt und eine angenehme Zurückhaltung innehat, ohne jemals zu langweilen. Es gelingt Mikkel Rev deshalb, einem maximal unsubtilen Genre ein bemerkenswertes Maß an Subtilität zu entlocken. Ein Oxymoron, das Aufmerksamkeit verdient. Ruben Drückler
Photonz – Planetary Spirit (Naive)
Der titelgebende Eröffnungstrack auf Photonz’ neuer EP Planetary Spirit beginnt mit einem einerseits einfachen und fetten Housebeat, aber die swingenden Hi-Hats verraten andererseits von Beginn an schon, dass dem Stück nicht an rüdem Geballer gelegen ist. Photonz lässt sich allerdings Zeit, den wahren Charakter des Songs zu enthüllen, Minibreak um Minibreak wird die Spannung erhöht und wieder heruntergefahren, und man sieht die leuchtenden Gesichter der Tänzer*innen förmlich vor sich, die es vor Spannung kaum noch aushalten. Statt den großen, erlösenden Breakdown zu inszenieren, lässt Photonz aber den Groove nach etwa sieben Minuten in einen Breakbeat kippen, der die Spannung implodieren lässt, und überträgt damit dem DJ die Aufgabe, die begonnene Dramaturgie fortzuschreiben.
In „Badagas” reduziert Marco Rodrigues, wie der Mann aus Lissabon im echten Leben heißt, die Mittel dann nochmals drastisch auf einen Dialog zwischen einer stoisch-punktierten Kickdrum und morphenden Percussions. Und auch dieser Sparsamkeit wohnt ungeheures Club-Potenzial inne, das das nachfolgende „Circumference” ähnlich effektiv zelebriert, nur dass hier eine Synthie-Sequenz die Hauptrolle spielt.
Das abschließende „Earth2” fällt dann komplett aus der Reihe, reduziert die BPM auf gemächlich schreitendes Slo-Mo-Latin-Funk-Tempo und wird getragen von zwei fetten, sich umtanzenden Synthies zwischen D.A.F. und Claro Intelecto. Naive setzt mit dieser EP seinen Lauf, der seit Monaten anhält, auf unvermindertem Niveau fort – bemerkenswert! Mathias Schaffhäuser