Banana Moon – Delphinium Blue (Funnuvojere)
Mit Delphinium Blue jagt Massimiliano Pagliara nach dem ausgesprochen gelungenen Einstand des georgischen Producers Gacha Bakradze als Clarinets gleich das nächste Debüt über den Laufsteg. Wobei der Funnuvojere-Gründer – auch dies eine Premiere: erstmals veröffentlicht Pagliara auf seinem eigenen Imprint – diesmal selbst als Model über die Rampe geht, um im Bild zu bleiben: Banana Moon ist sein neues Duo mit CockTail-d’Amore-Resident Luigi Di Venere, der mit Neu Verboten auch das Label Philoxenia betreibt.
Die vier Tracks ihrer Erstlings-EP nehmen den Dancefloor von ganz unterschiedlichen Seiten aus in Angriff. „Tie Me Up” erfüllt als verlorengegangene Kollaboration von Klein + MBO mit Lipps, Inc. alle Kriterien, die für eine Italo-Disco-Nummer erforderlich sind, und ist der designierte Hit hier, während „Full Service“ mit reichlich Rave-Appeal inklusive Orgel-Ostinato, funky Bassline, breakbeatiger Percussion und gelooptem Interjektions-Vocal unverhohlen mit Neunziger- Reminiszenzen flirtet.
Die Peaktime-Stimmung weicht auf der B-Seite anderen Vibes: Im Detroit-Acid-Tune „Delphinium Blue (Kabuki Mix)” tritt eine Nachtigall gegen eine 303 an – nice, wenn auch nicht ganz ohne Längen. Dagegen zieht einen der schwebende Electro-Nu-Groove-Hybrid „Polyamory” wiederum mühelos in Bann. Harry Schmidt
Bored Lord – The Last Illusion (T4T LUV NRG)
Also langweilig ist wirklich gar nichts an den vier Tracks, die Bored Lord hier für T4T LUV NRG gezimmert hat. Eris Drew und Maya (alias Octo Octa), die beiden Labelbetreiberinnen, lernten die Gender-non-konforme Künstlerin bei einem queeren Warehouse-Rave in Los Angeles kennen und waren von ihrem Können gleich überwältigt. Und das zu Recht, wie diese mühelos zwischen Breakbeat, House, Jungle und Acid hin und her hüpfenden Tunes (und das oftmals in nur einem Track) beweisen. Vier Tracks, die sich in keine Schublade einordnen lassen und so für Diversität nicht nur auf dem Dancefloor sorgen. Oder einfach gesagt: Spitzen-Tanzmusik fürs 21. Jahrhundert. Tim Lorenz
Christoph de Babalon – 044 (Hilf Dir Selbst!) (AD 93)
Christoph de Babalon, Hamburg-Berlin, 90er-Größe. Die Eröffnung „Kein Bild Machen” ist grandios-bombastisch und geht grandios daneben. Opernhafte Schmetterchöre dreschen über scharfe Breakbeats, und es klingt so plakativ, dass sich Bilder, nein, Halluzinationen kapuzentragender Teenager voller artsy Ambitionen am Computer breit machen. Davon will ich mir kein Bild machen. Auch „Cool Priest” fängt so an, der Kürzest-Gesangeinsatz ist jedoch noch auszuhalten. Was soll’s. Ist vielleicht von irgendeiner Arbeit im Theater hängengeblieben.
Denn danach wird es verbindlich-dark. „Hung On A String” trippelt durch dunkle Gassen auf einem Jazz-Not-Jazz-Beat. Zu Hochform laufen „What’s Wrong With Tomorrow” und „Ether” auf. Beide schaffen sie unterkühlte Breaks, die in der analogen Welt ebenso leben wie in der digitalen und in der Gegenwart ebenso wie in der Zukunft. Es gibt ein super Fließen in „What’s Wrong With Tomorrow”, massive Polyrhythmik in „Ether”, absoluter Abschluss. Puh? Pa! Parforce. Christoph Braun
Precession – Retrograde Motion EP (Rawax)
Precession war ein kurzlebiges Projekt des UK-Techno-Produzenten Steve O’Sullivan, man kennt ihn auch unter den Pseudonymen Bluetrain oder The Wise Caucasian. Nachdem Nina Kraviz in diesem Frühjahr erst eine Compilation seiner Green-Serie veröffentlicht hat, steht auf Rawax nun schon ein weiteres Reissue an.
Die Retrograde Motion EP von 1995 war die allererste Platte, die O’Sullivan jemals veröffentlicht hat. Herausgebracht hatte sie Russ Gabriel auf seinem Label Ferox. Inspiriert von Robert Hood, Jeff Mills oder Basic Channel machte sich der junge Londoner damals daran, seine eigene Version von No-Nonsense-Techno zu skizzieren. Es sind die einzigen vier Tracks, die Steve O’Sullivan jemals unter dem Pseudonym Precession veröffentlicht hat. Kreiselbewegung heißt das übersetzt, und tatsächlich, ein Sound-Element rotiert hier ums andere. Sowohl der Projektname wie auch der Titel der Platte sind der Physik/Astronomie entnommen.
Wie etlichen anderen in der damaligen Zeit ging es Steve O’Sullivan darum, eine abstrahierte Denkart von Funk in einer streng konturierten Techno-Ästhetik aufgehen zu lassen. Was ihm auf der Retrograde Motion EP gut gelungen ist. Speziell der Track „Fire Guard” wird in Sachen Funk sogar ziemlich konkret, untenrum kreiselt eine Bassline, die eine Menge Chicago-House-DNA in sich trägt. Etwas aus dem Rahmen fällt allerdings das wild flackernde „Potential Existence” mit seinem angenehm stumpfen Drang nach vorne. Holger Klein
Sylvere – EP1 (Monkeytown)
Sylvere muss man aussprechen wie ein französischer Austauschstudi, der sich den Hintern mit Seide auswischt: Sylväääär. Der Zwei-Meter-Mann mit Schwitzkasten-Oberarmen ist die Pariser Techno-Antwort auf The Rock – und der Neue auf Modeselektors Monkeytown. Weil es Sylvere gewohnt ist, die Dinge von oben zu betrachten, kommen ihm die Kicks gar nicht so groß vor. Dabei treiben die Dinger, die er auf EP1 rausbügelt, sogar erprobten Kompressor-Fetischist*innen das Ecstasy aus den Augen. Außerdem rattert der Dancehall-Einschlag zu Palmen unter Plastik und klingt, als hätten 187 Straßenköter in der 30er-Zone das falsche Zeug gepumpt, um vor dem Berghain „K-K-K-Keiner kann mich fi**en”-Sprechchöre anzustimmen.
Macht aber nix, weil sich Sylvere gleich auf dem Opener die Maultrommel in den Schließmuskel spannt, um durchzuladen – und auf einer Hymne wie „Shellington” abzudrücken. Sylvester, Sylvere – merkste selber. Das Soundsystem ballert aus allen Löchern, die Beckenbodenmuskulatur macht Überstunden. In der ganzen Sache steckt mehr Jamaika drin als in der neuen Koalition. Wer dazu nicht mit eineinhalb Beinen mitwippt, nimmt sich Zeit. Und nicht das Leben. Christoph Benkeser