Beautiful presents: Beautiful Vol. 1 (Beautiful)
Einer der führenden Köpfe der aktuellen UK-Underground-Bewegung nördlich der 160bpm sitzt fest auf den Schultern von Sherelle. Die Londonerin schlägt dabei eine Brücke vom Boiler Room zu BBC Radio One und schafft es, Sounds wie Jungle, Drum ‘n’ Bass, Footwork und Juke aus ihnen respektiven Nischen zu ziehen und einem immer breiteren Publikum zugänglich zu machen.
Ihr neuestes Label-Projekt Beautiful soll eine Plattform darstellen speziell für Musik aus der Community der People of Color und LGBTQI+ in ganz Europa. Die erste Veröffentlichung, Beautiful Vol. 1, ist dann auch gleichzeitig als Mission Statement zu verstehen. Die ambitionierte Compilation vereint mehr als 20 Künstler*innen auf 18 Tracks, die meisten davon kurz gehalten. So kriegt man schnell einen guten Eindruck der stilistischen Bandbreite, aus der Beautiful schöpfen möchte. Los geht es mit 2-Step und UK-Funky, mit Stimmen der Montrealer Sängerin Kallitechnis und der DJ Karen Nyame, die auch gleich politisch wird: „Black Women […] We are not your expectations, we are not your objects.“ So deutlich können die folgenden Instrumentals natürlich nicht Stellung beziehen. Dafür zieht das Tempo an und landet über Techno gleich darauf beim Neo-Jungle von Tim Reaper. Kuratorin Sherelle selbst steuert ein minimalistisches Experimental-Kollabo unter dem Titel „Gentrification“ bei, gefolgt von einem souligen Jungle-Track der Singer-Songwriter-Produzentin Nia Archives.
Nach der Mitte wird es langsam: Scratcha DVA liefert den Beat für eine Slow-Jam RnB-Nummer, Otik glänzt durch ätherischen Dubstep inklusive portugiesischen Vocals, und :3LON mischt seine zarte Stimme mit Juke-haften Breaks. Zum Ende hin wird Beautiful Vol. 1 wieder clubbiger, aber bleibt innovativ und dem breakigen Stil treu: US-House-Newcomer Kareem Ali wagt sich an Liquid Drum’n’Bass, Kessler gibt Breakbeat-Techno mit Trance-Anleihen eine Chance und den Abschluss machen die Junglists von Morgen Sheba Q & No Nation mit ihrem Synth-Footwork-Hybrid. Auf dieser Compilation passiert so viel, so schnell. Man braucht ein paar Durchgänge, um wirklich zu erfassen, was. Doch dann wird einem klar: die Zukunft der schnellen Breaks – sie ist in sicheren Händen. Leopold Hutter
Decade I-III (Gegen)
Das Leder quietscht, der Schweiß tropft – die Berliner Queer-Kinks von Gegen werden zehn! In den Geburtstagskuchen hat man Reißnägel gestreut, das ganze Teil mit Beton übergossen und vorsorglich vor der Kirche geparkt. Drei Compilations machen mehr Druck als drei Espressomaschinen, peitschen im Viervierteltakt wie Xerxes, spannen auf die Streckbank, während Subwoofer warmlaufen und zu ihrer Erfüllung finden. Das hat Gründe: Ellen Allien schwenkt die Regenbogenfahne. Oliver Deutschmann verspritzt Messwein wie Rosenwasser. Paula Temple versohlt Pfaffen den Arsch, bis man sich statt Hostien zum Halleluja nur noch Helter für Skelter wünscht! Klar, Gegen ist nicht gerade dafür bekannt, den Soundtrack zum inneren Blumenpflücken zu liefern. Mit Decade I, II und III treibt man Techno trotzdem an, als hätte man den Analplug mit Duracell-Batterien vertauscht. Die Kick stampft. Der Ableton-Crashkurs findet on short notice im Stahlwerk statt. Aus 30 Turbinen klampfen Tracks, bei denen Kompressoren vor lauter Angst den Release-Regler anziehen. Wer nach der ersten Runde auf Gnade hofft, gießt sich spätestens auf Decade II flüssiges Metall ins Ohr, um sich mit Huren einen Atomschutzbunker zu schweißen. Und mit SKD ins Tageslicht zu stolpern. Christoph Benkeser
Molten Mirrors (Livity Sound)
Livity Sound feiert sein Zehnjähriges mit einer üppig angelegten Compilation – man glaubt es kaum, dass das Label aus Bristol schon eine Dekade auf dem Buckel hat, erscheint es doch immer noch als „dernier cri“ der Stunde. Was natürlich daran liegt, dass die Crew um Peverelist, Kowton und Asusu keine Allerweltsmusik veröffentlicht, sondern ein extrem gutes Händchen hat bei der Auswahl ihrer Label-Acts und der einzelnen Tracks. Eine der auffallendsten Tendenzen auf Molten Mirrors ist Abstraktion, sowohl auf stilistischer als auch auf der Ebene der Song-Arrangements. Der unüberhörbare Jazz-Einfluss im finalen „Grass Labyrinth“ von Surgeons Girl entsteht nicht durch Zitieren von oberflächlichen Jazz-Zutaten, sondern durch den Swing, der aus dem Zusammenspiel der super-reduzierten elektronischen Drums und den Synthie-Spuren entsteht – frei von Plattheiten und Plakativität. Ähnliches geschieht in „Glebe“ von DJ Plead, wo die Drums „echt“ klingen und womöglich auch von Hand eingetrommelt wurden – oder eben auch nicht, denn das spielt keine Rolle. Wichtig ist, wie auch hier die einfache Zuordbarkeit unterlaufen wird und auf knappen vier Minuten mit spielerischer Leichtigkeit ein Raum zwischen Jazz und Bass Music aufgemacht wird, den man noch nicht bis zum Gehtnichtmehr durchwandert hat. Damit korrespondiert die nahezu komplette Auflösung von stilistischer Zuordnung im fantastischen Eröffnungstitel von Azu Tiwaline, der seinen Claim im Niemandsland zwischen Post-Bass-Music, Ambient und Neuer Musik absteckt. Auch großartig und ein weiteres Beispiel dafür, wie Abstrahieren und Herauskürzen des allzu Bekannten aus der Track-Formel bei vielen der hier vertretenen Künstler*innen zu einem Kernpunkt ihrer Herangehensweise an die Produktionen gehört: Factas Compilation-Beitrag „FM Gamma“, der einen Popsong andeutet, das „Original“ aber quasi gedanklich überspringt und direkt den instrumentalen Clubmix liefert. Weitere gute Tracks kommen von Batu, Pev & Kowton, Ido Plumes, Bakongo und Simo Cell, um nur ein paar weitere Acts zu nennen – insgesamt umfasst diese beeindruckende Jubiläums-Compilation achtzehn Stücke, die als limitierte Ausgabe auch auf vier Maxi-Singles erscheinen. Mathias Schaffhäuser
Place: Nairobi (Place: Music and Activism)
Der New Yorker Air-Texture-Labelmacher James Healy denkt mit seinen Compilations der Place-Serie politische Themen wie die Zerstörung von Lebensräumen indigener Völker und die Kämpfe marginalisierter Bevölkerungsgruppen mit elektronischer Musik zusammen. In bisher sechs Veröffentlichungen fokussieren die Compilations nicht nur lokale, vermeintlich randständige Szenen und deren Musikproduzent*innen. Sie richten außerdem ein Augenmerk auf indigene Landrechte, Umweltfragen, Biodiversität, auf staatliche Unterdrückung und wirtschaftliche Ausbeutung und auf LGBT+-Rechte. Dabei gehen die Einnahmen aus den Veröffentlichungen zu 100 Prozent an lokal agierende Aktivist*innen-Gruppen. Im Fall von Place: Nairobi fließen die Erlöse an das seit 1977 bestehende Green-Belt-Projekt, das durch die Wiederaufforstung der Sahelzone die Lebensbedingungen der Landbevölkerung, insbesondere von Frauen, verbessern will.
Im Produktionsprozess entsteht eine interaktive Webseite, die ein globales Netzwerk zwischen elektronischer Musik und Selbstermächtigung entstehen lässt. Für Place: Nairobi stellt der in Berlin und Nairobi lebende Klang- und Field-Recording-Künstler KMRU alias Joseph Kamaru 14 elektronische Musiker*innen aus dieser Stadt vor und erzeugt so ein polymorphes Abbild der kenianischen Hauptstadt. MR.LU* lässt per Sampling traditionelle Folklore und Geschichten in seinen Track einfließen („Kinanda”); Barno vermischt Ambient mit eleganten Piano-Klängen („A Lifetime”); Coco Em experimentiert mit kurzen Loop-Hängern („2021”); 7headc0 packt im Microsampling-Format editartig die Slowdisco aus („Justfiu”); Nabalayo’s ‘Changanya’ Stil ist eine modernisierte Form kenianischer Volksmusik („Room 23”); Charles Nyiha erinnert an ein verschrobenes Sounddesign für Videospiele und M³ groovt als Live-Jazzfunk-Synthesizer-Improvisation zwischen dem Westlondon der 1970er Jahre, Music De Wolf und der beruhigten Version von Slopes „Basscheck“ dahin („So Unfazed”). Kurzum ist dieses Kompendium einfach geile Musik jenseits von Genre-Zwängen und starren Grenzen, wie man es seit Jahrzehnten von vielen panafrikanischen Musiker*innen im klanglichen Transferprozess zwischen den Kulturen gewohnt ist. Mirko Hecktor
Rhythm Section presents: SHOUTS 2021 (Rhythm Section)
Das von Bradley Zero angeführte Kollektiv Rhythm Section veranstaltet bereits seit 2009 regelmäßig Konzerte, Shows und Clubnächte. 2014 kam dann der Label-Arm dazu und mit ihm ein immer weiter wachsender Stamm an befreundeten Musiker*innen. Die erste Ausgabe von SHOUTS im vergangenen Frühjahr war so etwas wie die Meilenstein-Compilation, eine Bestandsaufnahme mit etablierten und weniger bekannten Weggefährten des Südlondoner Labels.
Dass es dieses Jahr bereits ein Update gibt, war nicht geplant und ist den speziellen Umständen geschuldet. Früher arbeitete man hauptsächlich mit UK-Artists. Einfach, weil man sich in London sehen konnte, um die Dinge zu regeln. Die 2021er-Ausgabe ist fast ausschließlich über Zoom-Calls zustande gekommen. Labelmanager Emily Hill half der A&R-Prozess online, das Rhythm-Section-Roster gehörig auszuweiten und so der Pandemie auch etwas positives abzugewinnen.
Das ist auch die Grundstimmung der hier vertretenen 21 Stücke, die sich von Spoken Word über RnB hin zu Funk, House und Techno und sogar stellenweise bis zu Indie und Trap erstrecken. Den Ton gibt allerdings immer noch der bei Rhythm Section seit jeher dominierende, stilvolle House an. Bei anspruchsvollen, warmen (und auch mal kosmischen) Instrumental-Grooves lassen sie nichts anbrennen. Aber es gibt auch Ausreißer wie den Beitrag von Brien & ffollidot, der eher an die Band Khruangbin erinnert oder das moderne Jazzstück von Bradley Miller, der NTS-DJ, der auch als neo-klassischer Komponist CKTRL Erfolge feiert.
Labelchef Bradley Zero sagt selbst zur stilistischen Richtungserweiterung: „Zum Glück können wir als unabhängiges Label auch andere Sounds erforschen, die uns interessieren. Mit der SHOUTS-Serie haben wir die Möglichkeit, diverse Genres auf einmal abzudecken, das lässt uns insgesamt wachsen.“ Gerade diese Entdeckungslust überträgt sich auch beim Hören. Alle der vertretenen Künstler sind neu für das Label und dürften wohl den Wenigsten bereits bekannt sein; zumal sie sich aus so unterschiedlichen Regionen wie dem mittleren Osten, Australien, der Schweiz oder den USA kommen. Von der stilsicheren Rhythm- Section-Hand geführt gibt es beim Hören also viele, aber durchwegs angenehme Überraschungen. Aus SHOUTS darf deshalb gerne eine jährliche Überraschung werden. Leopold Hutter
TOTAL 21 (Kompakt)
Einundzwanzig Jahre alt wird Kompakts TOTAL-Compilation-Serie in diesem Jahr – und zelebriert das mit einem Dreizehn-Track-Sampler, der Urgesteine, alte Bekannte wie auch frische Talente des Kölner Techno-Kosmos vereint. Los geht’s gleich mit dem besten Track, Jürgen Paapes „Guitarra Romantica”, einem hochatmosphärischen, perfekt auf die späten Stunden abgestimmten Downbeat-Knaller mit folkloristisch-akustischen Anmutungen. Sicherlich das ungewöhnlichste Stück der Compilation.
Danach geht’s dann kopfüber zum Bad im Kompakt’schen Techno-Entwurf, mal hypnotisch minimal wie bei Robag Wruhmes brillantem Killer-Track „No”, mal geheimnisvoll verhuscht wie beim stoisch vor sich hin schaukelndem Flüster-Track der Gebrüder Voigt.
Bei Techno wird von Kompakt natürlich auch immer Pop mitgedacht, und so dürfen melancholische Frauen-Vocals beim Patrice Bäumel-Remix von Newcomer Kollmorgens „You Are The” oder Nicky Elisabeths Beitrag (im Roman Flügel Remix) genauso wenig fehlen wie mit breitem Pinselstrich getuschte Wave-Anleihen bei Captain Mustache. Für die wenig überraschenden, dafür umso funktionableren Dancefloor-Bomben sind dann Sascha Funke und Marc Romboy zuständig und für Tränen-schöne Melancholie natürlich Bionaut. Und so liefert TOTAL auch im einundzwanzigsten Daseins-Jahr ein Electro-Paket ab, das zwar größtenteils auf Überraschungen verzichtet, dafür jedoch mit Beständigkeit auf hohem Level den Dancefloor zufriedenstellt. Tim Lorenz