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Juni 2021: Die einschlägigen Compilations

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2nd Life Silk (100% Silk) 

Endlich rutscht mal ein Tape ins Deck, das klingt, als säße man in einer Beach Bar, ohne das peinliche Gefühl zu haben, in einer Beach Bar zu sitzen. Die Sonne fällt vom Himmel, die Seidenhose flattert in der Abendbrise, man lässt sich’s gut gehen, wenn man am dritten Mai Tai schlürft und die Zehen in den angeschipperten Sand gräbt. Das Label 100% Silk aus dem Sunny State in den Not-So-United-States-Of-America wirft zum runden Zehner die Schaumkanone an und bläst mit elf Tracks übers Sonnendeck. Elf Tracks, elf Artists, eine Heidengaudi, sofern man auf derselben Wellenlänge unterwegs ist, wie die Surfertypen von der Westküste. Vor lauter guten Vibes, die einem auf 2nd Life Silk entgegen blasen, sollte man sich zumindest eine Sonnenbrille auf die Nase klemmen, drei Lilien ins Haar flechten oder ein Nasenpiercing stechen lassen. Ansonsten könnte man bei Songs wie „Transfer A“ von Taped Over Memory oder „Away Away“ von Cafe Ale an der aufgesetzten Coolness zweifeln. Die Sag-niemals-Lo-Fi-Sound-Ästhetik, den Loveshadow, Soshi oder Movement in den Mojito hauchen, beamt einen emissionslos auf die Balearen. Man träumt von früher. Und nimmt sich fest vor, mit 32 doch noch Surfen zu lernen. Zumindest in Gedanken. Christoph Benkeser

A.C.A.B. (777 Recordings) 

Das Berliner Label 777 Recordings steht für kompromisslosen, härteren und eher ungeschliffenen Sound, so lautet die gängige Erzählung. Und klar gibt es auf dem Label von Ron Wilson schnellen, harten Techno wie etwa die Katalognummer 777-666 von DJ Disrespect. Aber wer das Label auf diesen Sound festnagelt, verkennt, dass 777 eine weit größere Bandbreite hat, verschiedenste Stimmungslagen und als Label-Selbstbeschreibung nur den tatsächlich wieder kompromisslosen Satz kennt: ‘Let the music speak’. Und diese spricht auch auf A.C.A.B. in verschiedenen musikalischen Zungen – natürlich zu einem guten Teil auch in dem erwähnten harten und schnellen Slang, Martinellis „Farofeiro“ ragt aus dieser Ecke besonders hervor mit seinen angezerrten Sounds und einem angenehmen, aber nicht alle Eigenheiten glattbügelnden Verwandtschaftsgrad zu Detroit-Techno. Die eigentliche Hauptrolle auf der Compilation spielt aber Electro in allen möglichen Ausdifferenzierungen. DJ Disrespect ist auch auf A.C.A.B. für die Hochgeschwindigkeitsversion zuständig, ähnlich hyperaktiv, aber leichtfüßiger und Acid-getrieben kommt der Track von DJ Mell G daher, Dogpatrols „Video Call“ im „Sega DreamCast Mix” gewinnt dann aber das Mini-Duell auf geschätzten 160 BPM mit seiner subtilen Jungle-Hommage inklusive verschmitzten Sound- und Melodie-Zitaten. Nasty King Curl betont wiederum die Hip-Hop-DNA von Electro, und in dem perfekt gewählten Opener von Autohifive kommen Tribal-, Leftfield und ausgefuchste Minimal-Elemente zusammen. Aber auf A.C.A.B. befinden sich auch einige dezidiert ruhige Stücke wie das hintergründig-schummrige „L8nightjamzvol1“ von Glyn, dessen minimalistischer Electrobeat trotz aller Verhaltenheit konsequent groovt – oder die letzten drei spacig-schönen Tracks von DJ Bowlcut, O-Wells und Brighton, die die Compilation unerwartet chillig ausklingen lassen. Mathias Schaffhäuser

Disco Ruin Soundtrack (Opilec Music) 

Die Filmproduktion Disco Ruin nimmt sich das italienische Nachtleben der letzten 40 Jahre vor und bietet einen historischen Rückblick auf die ikonische Kultur, deren stilistische Entwicklungen die elektronische Tanzmusik bis heute beeinflussen. Der Film lässt die Macher*innen von einst zu Wort kommen und bringt uns zu vielen von der Zeit verschluckten, verfallenen Kulissen glamouröser Disco-Nächte. 

Bei solch einem Projekt ist natürlich ein passender Soundtrack das Salz in der Suppe. Dafür zuständig war der italienische DJ und Produzent Gianluca Pandullo alias I-Robots, der selbst seit den frühen 2000ern aktiv ist und mit seinem Label Opilec Music auch gern die alten Tage von Italo und Synth aus seinem Lande wieder hochleben lässt. Ganze 21 Tracks fast die Compilation zu Disco Ruin, viele davon Produktionen oder zumindest Remixes/ Edits von Pandullo selbst. Sein von den typischen Sounds wie Arpeggios, Vocals and Gitarrenriffs getragener Stil mischt sich dabei unauffällig unter Beiträge von anderen Szene-Vertretern wie Danielli Baldelli, Alexander Robotnick, Alex Neri, Paolo Martini, Stratosferic Band oder Hard Ton.

Doch im Film geht es nicht exklusiv um die Anfänge der Discomusik, man spannt den Bogen weit, bis zur modernen Techno- und House-Szene Italiens. Dementsprechend öffnet sich die Soundtrack-Compilation, was ihr allerdings nur bedingt zu Gute kommt. Klar musste man auch für diesen Par

t die passende musikalische Untermalung bereitstellen – interessanter wäre es aber gewesen, wirklich nur echte Sahnefilets zu präsentieren, die die Compilation auch ohne den Film kaufenswert gemacht hätten. Leopold Hutter 

Echo Wielkiej Plyty – Rare, unreleased & forgotten electronic music from Poland 1982-1987 (The Very Polish Cuts)

Während der 1980er verhielt es sich mit dem kalt gerührten Ost-West-Gefälle in musikalischer Hinsicht doch so: Von London bis L.A. waren Synthesizer erschwinglich geworden, in Poznań oder Krakau hatten dagegen bestenfalls professionelle Studiomusiker Zugang zu Spielzeug wie den Roland-TR-808- und 303-Modellen – mit weitreichenden Folgen für die elektronische Musik Polens. Musste ein durchschnittlicher Angestellter hierzulande ein paar Wochen buckeln, um sich derlei Gerät zu leisten, war in Polen ein ganzes Jahr Schufterei dafür nötig – Unterschiede, die übrigens auch unter rechten, spätkapitalistischen Regierungen bis heute bestehen. Dass Leute wie Krzysztof Duda, Mikołaj Hertel oder Wojciech Jagielski trotzdem abgefahrene Kreativität aus diesen Einschränkungen zu schöpfen wussten, lag ebenso an ihrer Professionalität als Musiker wie an der technischen Expertise, die sie mitbrachten. Kaum verwunderlich daher: alle Stücke auf dem von The Very Polish Cuts herausgegebenen Album mit dem Titel Echo Wielkiej Plyty – Rare, unreleased & forgotten electronic music from Poland 1982-1987 klingen wie enorm groovende, synthetische Jazz-Jams, denen ihr spielerisches Niveau in jeder Hinsicht und jeder Minute anzumerken ist. Dass Synthesizer als Solo-Instrumente eine unerhörte harmonische Varianz entwickeln können, sind Hörer*innen im Westen nicht unbedingt in diesem Ausmaß gewohnt, doch genau wie im Jazz-Spektrum ist Polens musikhistorische Entwicklung vor allem von Profis geprägt, aus bereits genannten Gründen. Man kann das nicht oft genug betonen: Die Unterschiede in der kompositorischen Herangehensweise sind frappierend. Wer sie im elektronischen Bereich kennenlernen möchte, der findet in dieser Kompilation einen angemessenen Start. Nils Schlechtriemen

Intermezzo Uno & Due (Dischi Autunno)

Mit Intermezzo Uno & Due meldet sich Jennifer Cardini auf ihrem mit Noura Labbani geführten Dischi-Autunno-Imprint zurück – nachdem das vergangene halbe Jahr für die französische Labelbetreiberin nicht nur wie für alle anderen eine pandemische Krise, sondern für sie persönlich im Verlust ihrer Ehefrau durch einen schockierend frühen Krebstod auch einen schweren Schicksalsschlag bereit hielt. Die 21 Tracks von Artistroster-Konstanten wie Golden Filter (gleich zweimal vertreten und stets in einem Hallraum der Isolation operierend), Chinaski (grandios: „Blood Patch“ im „EII MIX“), Kendal, Javi Redondo oder Dollkrautu und Neuzugängen wie Het Morson (!: der spannungsgeladene Ambient von „Intermission“ eröffnet „Intermezzo Due“), KOB101 (!!:„Beat Depressed“ ist ein Instant-Hit und hat das Zeug zum Evergreen), ZillasOnAcid, Mogambo oder A Strange Wedding setzen ein starkes Zeichen, zeugen – aller Dunkelheit auf dem Grund des herbstlichen Leftfield-Labelprofils zwischen Italo-Disco, Electro, Emo, Alternative, Trance, New Beat, Synthwave und Coldwave zum Trotz – von ungebeugtem Gestaltungswillen und kreativer Resilienz.

Dieses Lebenszeichen nun als Intermezzo in zwei Teilen anzubieten, setzt voraus, über ein sardonisches Lachen zu gebieten. Besondere Beachtung im ersten Teil verdienen die Shoegaze-Italo-Ballade „Gina Lollobrigida” von Curses, Jacques Satres „Port Chaste“, Balearic-Downtempo in einem Grace-Jones/ Compass-Point-Sinn, und „Riding through Tokyo“ von Pablo Bozzi. Auf Intermezzo Due stechen Cosmo Vitellis in der zweiten Hälfte in einen Acid-Track ausufernde „K Hole Remix“ von Javi Redondos „Rythmo“, die Erfindung von Slow-EBM durch Arabian Panther mit „Colonisation“, Kendals Zeitlupen-Hymne „Nostalgia“ und der Borusiade-Remix von Dollkrauts „Have I Told You“ besonders heraus. Intermezzo Uno & Due nährt darüber hinaus die Hoffnung, dass auch die Erfolgsgeschichte von Correspondant, Cardinis erstem Label, ihre Fortsetzung erfährt. Harry Schmidt 

No Photos on the Dance Floor! Berlin Techno 1992 – Today
(Above the Board)

In dieser Compilation bündeln sich gleich mehrere Aspekte von Geschichte. Zunächst einmal würdigt No Photos on the Dance Floor!, wie ihr Titel angekündigt, einige Höhepunkte des Berliner Techno von 1992 an. Sie folgt auf die Ausstellung gleichen Titels mit Fotos aus dem Berliner Nachtleben, die im Herbst 2019 im C/O Berlin zu sehen war. Das war kurz vor der Pandemie. Gegenwärtig könnte die Compilation daher als ein Dokument der Clubgeschichte als solcher empfunden werden, sie erscheint zumindest in einem Moment, wo ihre Musik mehr mit der eigenen Erinnerung als mit gelebtem Feiern zu tun hat. Und dann ruft sie obendrein eine Phase dieses Online-Magazins ins Gedächtnis, als es noch auf Papier gedruckt wurde: Zusammengestellt ist No Photos von Heiko Hoffmann, von 1999 bis 2018 Chefredakteur von Groove. Er hatte zuvor auch die Fotoausstellung kuratiert. Die erste Doppelvinylhälfte von No Photos konzentriert sich auf die Neunziger, verweist gegen Ende hin mit „Elephant Island“ von Sleeparchive und dem Substance-„Remix II” von Monolakes „Alaska“ schon einmal auf die nuller Jahre. Bekannte Klassiker von Vainqueur, Futurhythm oder MMM stehen dabei neben zu entdeckenden Perlen wie dem Projekt 9-10-Boy von Mijk van Dijk und Tanith, die ihrem „Robocop“ einen angemessen martialischen Auftritt verschaffen. Von der ungestümen Anfangszeit über die gleichmütigeren Jahre des Minimal bis hin zu neuesten Entwicklungen reicht das Spektrum – der jüngste Beitrag, „Breath“ vom Duo FJAAK, stammt von 2020. Das Berghain ist mit diversen Residents stark vertreten, von Ben Klock, Marcel Dettmann und Sam Barker über Fiedel bis zu René Pawlowitz alias Shed, der mit seinem üppig reduzierten Wax-Projekt ein Highlight beisteuert. Die jüngere Vergangenheit zeigt mit Künstlern wie Dasha Rush eine neue Öffnung des Genres. Vollständigkeit kann bei einer Auswahl von rund 20 Tracks aus drei Jahrzehnten nicht der Anspruch sein, es ist vielmehr ein kuratierter Blick auf die stetige Wandlung der Berliner Clubmusik. Und wie man weiß: Es wird immer weitergehen. Tim Caspar Boehme

Planet Love Vol. 1 – Early Transmissions 1991 – 95 (Safe Trip)

Die Compilation auf Young Marcos Safe-Trip-Label aus Amsterdam ruft mit Paul van Dyks „Love Mix” des Humate-Tracks „Love Stimulation” die knapp acht Wochen alte Zeit-Online-Schlagzeile „Musikproduzent Paul van Dyk ist nun in der FDP” ins Gedächtnis zurück. Diese politische Geschmacksverirrung passt zu seinem provinziellen Business-Trance-Image ab Mitte der 1990er Jahre. Die Älteren erinnern sich bei diesem Thema an Paranoia-Schübe in tiefer gelegten 1980er-Zweitwagen-VW-Golfs. Mit diesen mobilen Erbstück- oder Secondhand-Schrotthaufen bretterte die Erste-Generation-Trance-Bürger*in auf den satten BRD-Landstraßen und heruntergewirtschafteten Ex-DDR-Plattenbaustraßen zur nächsten Dorf-Disco. Manche wickelten sich dabei gut dicht auf dem Rückweg zwei Tage wach, galant-hedonistisch um einen Baum. 

So rebellierte diese Generation gegen ihre Eltern und 16-Jahre-lange, bierkonservative CDU-/CSU-/FDP-Koalitions-Verkrustung. Mit diesem Track wird den Hörer*innen aber auch sofort klar, wie nah der seit 25 Jahren völlig geschmacksbefreite van Dyk sich früher einmal an wunderbare, elektronische Disco-Überhits wie Eddie Grants „Timewarp” heranschlich und diese ab dem achten Takt in gänzlich neue Sphären entführte. Darüber hinaus bietet Planet Love Vol. 1 zwölf weitere grandiose Tracks. 

Und einen ersten, kursorischen Scan, wie facettenreich, spannend und verspielt sich viele international erfolgreiche, mittlerweile vergessene Musikproduzenten der frühen 1990er-Jahre zwischen Ambient, Breakbeats in Dub- und Psychedelic-Nähe, Dream House und Deep-Techno an damals völlig neuen musikalischen Experimenten ausprobierten. Wie bei der dreiteiligen Welcome to Paradise: Italian Dream House-Compilation von 2017 kommt das Label sicherlich auch hier nicht um Planet Love Vol. 2 und Vol. 3 herum. Wir freuen uns auf X-Mix, Cosmic Baby und Harthouse Frankfurt. Mirko Hecktor

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