Legowelt – Pancakes With Mist (Nightwind)
Digital bereits vor einem halben Jahr veröffentlicht, erscheint Danny Wolfers’ jüngstes Legowelt-Album endlich auch als Doppel-LP auf seinem eigenen Label Nightwind. Ein Glücksfall, denn – nehmen wir es vorweg – Pancakes With Mist, vielleicht das 87. Album des Synthesizer-Wizards mit den rund drei Dutzend Pseudonymen, ist eine der besten Arbeiten in einem turmhohen Werk, das seinesgleichen sucht, aber nicht findet. Zehn „electro wave Dark Schlager hits” (Wolfers), geschrieben, performt und produziert im North Sea Institute for the Overmind, dem einem Synthesizermuseum gleichenden Studio, das er sich im Den Haager Stadtteil Scheveningen eingerichtet hat. Wo normale Genies sich hin und wieder auch mal einen Durchhänger leisten, gelingt es Wolfers, stets noch eine Schippe angeschmuddelter Hüllkurven draufzulegen. Inspiration als Dauerzustand – wie er das schafft (und auch aushält), bleibt eines der ungelösten Rätsel unserer Tage (und Nächte). Sechs der Tracks haben Vocals, wobei Wolfers seine Stimme häufig runterpitcht, manchmal, wie im achtminütigen Titelstück, aber auch ein wenig wie ein derangierter Robert Smith klingt; nur für „Shadows in the Street Life” hat er die Sängerin Dim Garden ans Mikrofon gebeten. Die enge Verbindung zwischen Klangsynthese und Aufbau wie Funktionsweise des psychischen Apparats hat kein*e zeitgenössische*r Künstler*in besser verstanden als Wolfers – mit bloßen Händen greift er mittels Keyboard und Klinkenstecker ins Register der Imagination. Wer den Begriff der Immersion im Reich des Akustischen fassen müsste, hätte mit der Soundästhetik von Legowelt ein mustergültiges Beispiel zur Hand. Harry Schmidt
Leo Leal – Fractal Magic (Time Passages)
Trance für den Moment, in dem die Pille kippt: Das Debütalbum Leo Leals auf Binhs Label Time Passages geht es dystopisch bis psychotisch an. Inspiration soll ein Studium der Metaphysik sowie der Alchemie und wie beide Themen mit Sound korrelieren geliefert haben. Vor allem aber bedient sich der mexikanische Produzent in den Trickkisten der Rave-Hochzeit und ihren impliziten Patengenres wie EBM. Auf gut 57 Minuten lässt Leal das spröde Industriehallenpathos von Phase Fatale und anderen, bitterböse Electro-Beats und Hardcore-Anleihen auf die überdrehte Euphorie harten Trance- und Acid-Technos treffen. Das sind verschiedene und doch gleichermaßen maximalistische Ansätze, die alchemistisch miteinander verrührt zusammen leider jedoch nicht einfach Transzendenz, sondern den totalen Overkill zur Folge haben. So charmant es zweifellos ist, wie beherzt sich die acht Tracks über die Realität des Dancefloor-Stillstands hinwegsetzen, macht sich die ungestüme Herangehensweise des Produzenten auch im Sound bemerkbar. Es kratzt und scheppert, donnert und töst, klingt vor allem aber überladen und doch gleichzeitig flach. Schade ist das deshalb, weil der Closer „Muzika Espiritual” mit Ina Gold zum Schluss noch das Tempo herausnimmt und beweist, dass Leal mit seiner Musik auch Tiefe schaffen kann, wann immer er den Fuß vom Gaspedal nimmt. Kristoffer Cornils
Maoupa Mazzocchetti – UXY Dosing© (Brothers From Different Mothers)
Monotonie, Restriktion, Stillstand. Diese Wörter existieren in Maoupa Mazzochettis Vokabular nicht mal. Sein Output der letzten Jahre reicht von analogem Maschinen-Massaker auf Mannequin Records über experimentelle Dancetracks auf Editions Gravats bis hin zu Proto-Reggaeton gemeinsam mit Clara! als Clara! Y Maoupa auf Le Disques De La Bretagne – immer mit einer gehörigen Portion entwaffnenden Humor und überwältigender Expertise als Produzent. Was darf es also dieses Mal, auf seinem nun schon dritten Album, sein? Mazzochettis Antwort ist ebenso kurz wie radikal: Schlichtweg alles. Die reinste Dosis aus Genie und Wahnsinn, die man seit langem gehört hat. Mit UXY Dosing© will der in Brüssel lebende Künstler die Möglichkeit der Koexistenz aller oben genannten Genres innerhalb mehrerer Tracks aufzeigen, ihre farbenfrohen Interaktionen zueinander offenlegen und so schlussendlich ein universelleres Verständnis der Musik schaffen. Wenn alles vertreten ist, wie soll man das überhaupt noch nennen? Genau darum geht es! Das Album ist die Geburtsstunde maximaler Dance Music. Vielfach manipulierte Field-Recordings, eklektische Beatpatterns, übereinander gestapelte Neo-Trance-Synths, mehrfach mutierte Vocals – alles ist hier möglich. Diffiziles Storytelling im einem Moment, tanzbare Leichtigkeit im Nächsten. Sound-Art zum mit der Zunge schnalzen. Nur wer wagt, kann gewinnen. Andreas Cevatli
Pauline Anna Strom – Angel Tears in Sunlight (RVNG Intl.)
Musik, die ohne Zielpublikum entsteht, wohnt oft ein ganz eigener, nicht auf den Handel geeichter Zauber inne. Meist sind die kreativen Geister hinter ihr Künstler*innen ohne großen kulturellen Szeneanschluss. Sensible Seelen, denen es genügt, nur sich und ihr näheres Umfeld musikalisch zu verwandeln. Die im vergangenen Dezember 74-jährig verstorbene US-Amerikanerin Pauline Anna Strom gehörte zu jenen Künstler*innen. Und das ein Leben lang. Ohne Augenlicht geboren, fußte ihr Zugang zur Welt auf Sinnen jenseits des Visuellen. Besonders Klänge waren für die als Spiritual Healer tätige Synthesizer-Spielerin ein zentrales Mittel, die Welt zu lesen und zu formen. Ihr nun posthum erschienenes Album Angel Tears in Sunlight ist ihr erstes nach über 30 Jahren, das neue Aufnahmen vorstellt. Neun (digital zehn!) um die fünf Minuten Grenze tanzende Stücke, denen der von ihrem Kollegen Laraaji erfundene Überbegriff Journey Music gut steht. Alle erzählen von einer geistigen Versunkenheit zwischen der menschlichen Impulsgeberin Strom und ihren elektronischen Maschinen, die sich Yamaha DX7, Prophet 10 oder E-mu Emulator nennen. Sie verknüpften sich in jener Wohnung in San Francisco, in der sie gemeinsam Jahrzehnte lebten. Die dabei entstandene Emergenz führte zu neuen Strukturen, die sich nicht auf Eigenschaften der isolierten einzelnen Elemente zurückführen lassen. Pauline Anna Strom und ihre Synthesizer wurden eins, zur Synthese ihres subjektiven Kosmos. Oder wie sie es erklärt: “The equipment has to become part of you and your creativity. That’s how I think it all comes together.” Ihre jüngste Musik könnte viele Etiketten bedienen – von Ambient, Fourth World, New Age bis zu entspannt, melodiös. Doch ihr Zauber liegt nicht im stereotypisch Vorgedachten. Er entfaltet sich eher bei unvoreingenommenem Konsum, der selbst keiner ist, da der*die Konsument*in vom Produkt konsumiert wird. Große Transzendenz, gespielt oder besser ausgeplaudert von menschlichen und elektronischen Entitäten, deren musikalische Sprache eins geworden ist, flexibel fließend manifestiert in Klänge und Rhythmen, die scheinbar ohne weitere Energiezufuhr ewig in Bewegung bleiben können. Michael Leuffen
Sexual Harrassment – I Need A Freak (Dark Entries)
„Das geht ja gar nicht!” Dieses meist wohlfeile Empörung signalisierende Statement hätte sich Lynn Tolliver, Jr wohl massenhaft anhören müssen, würde er heute mit seinem Projekt Sexual Harrassment die Bühne der Weltöffentlichkeit betreten. Sexuelle Belästigung als Bandname – der Shitstorm wäre ihm sicher. Auch der Hinweis darauf, dass er dem Begriff noch einen Buchstaben hinzugefügt und damit verändert habe, würde daran wohl kaum was ändern. Doch als Tolliver, seinerzeit DJ und Programmdirektor beim Radiosender WZAK in Cleveland, 1982 unter dem Pseudonym David Payton seine Konzeptband Sexual Harrassment gründete und mit deren Debütsingle „I Need A Freak” einen massiven Undergroundhit landete, gingen die expliziten Lyrics noch als clevere Provokation in einer lustfeindlichen Mehrheitsgesellschaft durch. Im folgenden Jahr schob er gleich ein Album unter demselben Titel nach, dessen fünf weitere Songs in dieselbe Kerbe holzten. Dass der darauf ausgestellte Sexismus seitdem einige inoffizielle Rereleases erlebte und noch immer verfängt, hat in erster Linie mit dem coolen Minimal-Wave-Electrofunk der Produktionen zwischen Newcleus, A Number Of Names, Cybotron und Zapp zu tun. Der Titeltrack ist längst ein Electro-Evergreen – zudem eine der drei Nummern, die Greg Broussard, besser bekannt als The Egyptian Lover, jemals gecovert hat. Auch Tracks wie „If I Gave You a Party” oder „K.I.S.S.I.N.G.” besitzen Klassikerstatus, leben vom reizvollen Kontrast zwischen roher, elektronischer Einfachheit der Songstrukturen und anzüglichen Texten. Hinzu kommen hier mit „We Want Prince” und „These Are The Things That I Like” noch die beiden Singles von 1984 und 1986, sodass mit dieser Doppel-LP-Luxusausgabe auf Dark Entries nicht nur die erste offiziell lizenzierte und von George Horn in den Fantasy Studios remasterte Wiederveröffentlichung des einzigen Albums von Sexual Harrassment vorliegt, sondern nahezu deren komplettes Gesamtwerk greifbar wird. Wer das nun doch ungebührlich findet, der werfe den ersten Lustspender. Harry Schmidt
Siegmar Fricke / A Thunder Orchestra – Energy Is Eternal Delight (Calax)
Siegmar Fricke ist seit Anfang der achtziger Jahre Teil der internationalen und an viele Genres grenzenden Post-Industrial-Szene und hat nicht nur immer wieder mit Maurizio Bianchi alias MB zusammengearbeitet, sondern in den vergangenen Jahren auch (fast) verschollene Kollaborationen mit dem im Jahr 2011 verstorbenen Conrad Schnitzler aus dem Archiv geborgen und mit etwas mehr als drei Jahrzehnten Verzug der Öffentlichkeit präsentiert. Derweil der vormals auch unter dem einnehmenden Namen Bestattungsinstitut aktive Produzent unter dem Namen Pharmakustik weiter hoch aktiv ist, greift er häufiger alte Releases wieder auf. So auch Energy Is Eternal Delight. Das Release erschien im Jahr 1990 auf dem portugiesischen Tape-Label SPH als Split-Veröffentlichung mit A Thunder Orchestra, einem Projekt mit dem belgischen EBM- und New-Beat-Produzenten Dirk De Saever alias White House White und Danton’s Voice, der sich Ende der achtziger Jahre fast gänzlich aus der Musikwelt zurückzog und dessen gesammelte Werke vor Kurzem von Musique Pour La Danse neu herausgegeben wurden. Die 14 vom frisch gegründeten japanischen Label Calax neu aufgelegten und durch zwei bisher unveröffentlichte Tracks von Fricke ergänzten Stücke sind von jeweils sehr unterschiedlichen Ansätzen geprägt. Es funkt in Frickes Tracks, und zwar wortwörtlich: Nicht nur baut er seine verdichteten Miniaturen um energische Grooves herum, sondern collagiert in ihnen auch Samples aus dem Radio. Das klingt wesentlich farbenfroher als bei etwa P16.D4 und erinnert stattdessen an die nicht minder avantgardistischen Maximalismus-Assemblagen von Art of Noise. Nicht selten deutet sich an, dass hier Pop- und Kurzwellenfahrstuhlmusik persifliert werden soll, doch funktionieren die Stücke allemal als ernsthaft begeisterte Electro-Pop-Nummern mit balearischem Finish. Und „On the 3-Hour-Jam” ist als Verneigung vor Schnitzler allemal ein kleiner Hit. De Saever dagegen suhlt sich schon eher in der Melancholie: Tracks wie „She Lives in a Dream Movie Theme II” klingen doch glatt, als hätte jemand die Synthie-Spuren eines Joy-Division-Stücks an Peter Murphy weitergeleitet, auf dass er darüber ein paar Sätze singe. Drama regiert, doch die Umsetzung des Ganzen ist spartanisch und stripped. Überhaupt Minimalismus: Die stilistisch recht unterschiedlichen Stücke sind, ob songwriterisch oder soundtechnisch, von einer Reduziertheit, die in wunderbarem Kontrast zum Klangfüllhorn steht, das Fricke im ersten Teil dieser Split bietet. Die titelgebende Energie speist sich auf diesem Reissue vor allem aus Reibung, die zwischen diesen beiden Polen entsteht. Kristoffer Cornils
Venus Ex Machina – Lux (AD 93)
Über das Projekt Venus Ex Machina war bisher noch nicht viel zu erfahren. Hinter dem Pseudonym verbirgt sich die britische Künstlerin Nontokozo F. Sihwa, die, so ist zu lesen, Kenntnisse in Mathematik und Sounddesign hat und zudem als Hacker aktiv ist. Lux, ihr Debütalbum, sucht keine spektakulären Gesten, sondern baut sich seine eigenen Räume aus Schweben und Schlagen. Rhythmisch grundierten Ambient könnte man einige der Nummern nennen. Was aber bloß die eine Seite dieses „Requiems für eine von Umweltveränderungen befallene Erde” abdeckt. Venus Ex Machina nutzt den Beat auch gern als Techno-Rudiment, als Spur, die an Clubmusik zumindest erinnern will. Oder sie lässt tribalistische Trommeln auf Vangelis-artiges Synthesizersegeln treffen. Gut ein Viertel der Platte beansprucht schließlich das zwölfminütige „Paraquat”, nach einem für Menschen hochgiftigen Insektenschutzmittel benannt. Hier mischen sich Drone, Störgeräusch-Pochen, freidrehende Frequenzen (Melodien wäre in dem Zusammenhang wohl irreführend) und Orgelklänge zu etwas, das nach Trauer, Wut und Befremden klingt. Sehr eigen, sehr stark. Tim Caspar Boehme
Yu Su – Yellow River Blue (Music From Memory/bié)
Eine rosige Zukunft verspricht Yellow River Blue. Der futuristische Sound des Albums speist sich aus einer Spannung zwischen traditionell chinesischen Instrumenten sowie Melodiemustern und Klangexperimenten digitaler Technik. Was besonders Spaß beim Zuhören macht: Yu Su bewahrt ihr Album davor, in die Vorhersehbarkeit abzurutschen. Die LP ist das Debüt der Produzentin und DJ. Su wuchs in Kaifeng, einer Stadt im Osten Chinas nahe des Huang He, des Gelben Flusses, auf. Dort erlernte sie das klassische Klavierspiel und startete ihre Karriere, die sie letztendlich nach Vancouver in Kanada zog. Ausgehend von der Ästhetik und dem Fluss des Wassers in ihrer Heimat ist ihr Debüt besonders durch das ständige Touren und Auf-dem-Sprung-sein der letzten Jahre inspiriert. Aufgenommen zwischen August 2019 und März 2020, lassen dubbige Basslines, die den Tracks eine erdige Note geben, ähnlich wie der viele Schlamm, der sich im Huang He findet, und fluide House-Rhythmen eine Durchlässigkeit zu, die Raum für Ungewöhnliches schafft.
Die Pipa, ein chinesisches Zupfinstrument, gibt dem fluffig-poppigem Opener „Xiu” erst seine leichte, tanzbare Verspieltheit. Die Synths bei „Gleam” verwandelt Su in Töne, die eher nach Vogelgezwitscher klingen. Und mit „Melaleuca” gelingt ihr es, die Dichotomie zwischen digital ergo neu und akustisch ergo alt umzukrempeln. Der von New Wave der 80er inspirierte Track erlangt seinen Nostalgie-Anstrich durch dessen digitale Bassline, während akustische Elemente wie das Xylophon die moderne Note geben. Yellow River Blue greift eine Vielzahl an Unkonventionalitäten auf, die es erst stringent klingen lassen. Yu Sus Mischung aus Dub, House und IDM vereint Elemente ihrer Heimat mit futuristischem Sound. Mit ihrem Debüt beweist sie, dass sie verwurzelt und entwurzelt zugleich sein kann. Louisa Neitz