Illustration: Dominika Huber
Twitter ist nicht erst seit 2020 ein beliebter Ort für Klatsch und Tratsch innerhalb der Szene. Doch in diesem Jahr wurden die Debatten auf Techno-Twitter besonders hitzig geführt. Von Plague-Rave-Listen bis zu Petitionen gegen DJ-Namen ging es mehr als bisher ans Eingemachte. Unsere Ex-Redakteurin Cristina Plett versucht sich an einer Analyse des Phänomens und zeigt einen Ausweg aus der Sucht nach Takedown und Beleidigungen auf.
Twitter ist nicht erst seit 2020 ein beliebter Ort für Klatsch und Tratsch innerhalb der Szene. Doch in diesem Jahr waren die Debatten auf Techno-Twitter besonders hitzig – von Plague-Rave-Listen bis zu Petitionen gegen DJ-Namen. Warum? Cristina Plett hat sich des Themas angenommen.
Im vergangenen Jahr kam die ständige physische Bewegung der Szene zum Erliegen. Raver*innen gingen nicht mehr in Clubs, DJs reisten nicht mehr von Club zu Club. Corona hat alle zu einer Pause und die meisten zur Arbeitslosigkeit verdammt. Doch in den Diskurs innerhalb der Szene kam mehr Bewegung als üblich. Was sonst in privaten Gesprächen dahingeblubbert hatte, kochte nun über. Da traten lange unter den Teppich gekehrte Geschichten zutage, es wurde angeprangert – mal zu Recht, mal weniger. Zentraler Schauplatz dieses Diskurses: Social Media und dabei vor allem – Twitter.
„Techno-Twitter” ist nicht erst seit diesem Jahr ein geflügelter Begriff. Er bezeichnet einen Teil von Twitter, in dem sich DJs, Musikjournalist*innen, Promoter*innen und weitere Akteur*innen der Szene tummeln. Gewissermaßen der internationale Schulhof der elektronischen Musikszene. Man unterstützt sich, tauscht sich aus, klatscht und tratscht. Einige finden auf Twitter sogar Gleichgesinnte und Freund*innen. Viele lesen einfach nur stumm mit. Klingt harmlos. Aber es kann die Psyche belasten und Karrieren schädigen. Wie? Das fragen vermutlich nur jene, die sich nicht auf Techno-Twitter bewegen. Für sie hier ein unvollständiger Abriss der meistdiskutierten Ereignisse dort im vergangenen Jahr:
- Mitte März bittet das DJ-Kollektiv und die Booking-Agentur Discwoman um Spenden, weil alle anstehenden DJ-Gigs ihrer Künstler*innen abgesagt wurden und einige von ihnen kein Einkommen haben werden. Es folgen heftige Reaktionen, mit einer Mischung aus Spott und Häme werden Discwoman für ihr Fragen nach Geld verurteilt. Der ursprüngliche Post ist inzwischen gelöscht.
- Ungefähr zur gleichen Zeit erstellt jemand den Account Business Teshno auf Twitter. Seitdem wird dort dokumentiert, wenn Akteur*innen der Szene sich in Handlungen oder Postings widersprechen (wenn zum Beispiel Charlotte de Witte unter einem Foto mit den Worten “Sound of Silence” Unterstützung für die Szene fordert, nachdem sie zwei Tage zuvor aufgelegt hatte). Als im Sommer in Europa wieder vereinzelt Partys stattfanden, begann der Account, Party-Videos zu sammeln, und hielt fest, welche DJs wo aufgelegt haben – um diese sogenannten Plague Raves in Hinblick auf Corona-Infektionszahlen harsch zu kritisieren.
- Ende Mai tötet ein Polizist in den USA George Floyd. Was folgt, ist ein Wiedererstarken der Black-Lives-Matter-Bewegung in der ganzen Welt und eine Sensibilisierung vieler Menschen für Rassismus. Zumindest, wenn man den Social-Media-Postings glaubt. Wer damals nichts sagte, fiel damit negativ auf, was wiederum diskutiert wurde. Auch wenn sich vermutlich leider erst nach Corona, im regulären Clubbetrieb zeigen wird, was davon bleibt. Dennoch brachte das in der Szene und bei Techno-Twitter einiges ins Rollen. Eine Petition erhöhte den Druck auf Marea Stamper, ihren Künstlernamen zu ändern. Die DJ hatte sich bis dahin The Black Madonna genannt. Die Kritik: Stamper ist Weiß und sollte durch ihren Künstlernamen nicht den Schluss zulassen, dass sie Schwarz ist. Nun läuft sie unter dem Alias The Blessed Madonna. Wenige Wochen nachdem herausgekommen war, dass der Club De School aus Amsterdam Hinweise auf strukturellen Rassismus und sexueller Gewalt innerhalb des Clubs jahrelang ignoriert hatte, schloss der Club. Laut Statement der Betreiber aus finanziellen Gründen, doch die hitzige Diskussion darum, wie der Club mit den Vorwürfen umging, dürfte dazu beigetragen haben.
- Als es in einigen Ländern unter Auflagen wieder erlaubt war, Partys zu veranstalten, wurde auch das auf Techno-Twitter zum Thema. Vor allem DJ-Gigs in Ländern wie Italien oder Spanien, die noch wenige Monate zuvor hart von der Corona-Pandemie getroffen worden waren, stießen dort auf Unverständnis. Umso mehr, weil es sich bei den spielenden DJs überwiegend um sehr bekannte und hochbezahlte DJs wie Amelie Lens oder Nina Kraviz handelte. Ein Nutzer erstellte gar eine Tabelle, die minutiös auflistet, wer, wann, wo gespielt hat, wie die Infektionsschutzmaßnahmen bei den „plague raves” genannten Partys waren, etc. Die zugrundeliegende Kritik: Gerade für bekannte DJs sei es finanziell am wenigsten notwendig, solche Gigs zu spielen. Und auch wenn sie legal seien, hätten solche Partys das Potenzial, dass sich dort Menschen mit Corona infizierten und damit langfristig dafür sorgten, dass andere DJs, denen es finanziell schlecht geht, länger arbeitslos sind. Im Rückblick sind die Infektionszahlen zumindest in Deutschland erst gegen Ende des Sommers wieder gestiegen. Ein direkter Zusammenhang zu Partys in Juni, Juli oder August lässt sich also nicht ziehen.
- Mit Anrücken der zweiten Welle geriet Corona in den Hintergrund. Es passierten neue Dinge. So kam heraus, dass der Gründer von R&S-Records, Renaat Vandepapeliere, sich rassistisch geäußert hatte: Der Produzent Eddington Again hatte Screenshots eines E-Mail-Verlaufs gepostet in dem er eine rassistische Bezeichnung benutzte. Das Bild, das Vandepapeliere dabei abgab, verfestigte sich, als drei Wochen später Raj Chaudhuri, damaliger A&R-Manager bei R&S, kündigte. Er begründete seinen Schritt öffentlich mit einem Statement: „I cannot work with Renaat when I know that his views on race and gender are not as progressive as some of the music that has been released on his record label”, schrieb er.
- Schließlich die Nachrichten zu sexualisierter Gewalt, am prominentesten über Erick Morillo und Derrick May. Morillo starb, kurz bevor er wegen sexuellen Übergriffs vor Gericht stehen sollte. Danach wurden mehr Fälle bekannt, in denen er Frauen sexuell belästigt oder vergewaltigt haben soll. Trotzdem teilten viele DJs Kondolenzbekundungen und persönliche Erinnerungen an ihn, die Morillo heroisierten. Wäscht man einen mutmaßlichen Vergewaltiger somit posthum von den Vorwürfen rein? Das war eine der Fragen, um die sich die anschließende Diskussion entzündete. Über Derrick May kursierten vor allem auf Facebook ähnliche Berichte. Die erhielten eine solide Basis, als Mitte November sowohl Resident Advisor als auch DJ Mag Berichte zahlreicher Frauen veröffentlichten, die May sexuell belästigt haben soll.
Das sind große Beispiele, stellvertretend für viele weitere Konflikte. Sie zeigen, wie oberflächlich und zugleich wie wichtig die Themen von Techno-Twitter sein können. Sie bilden ab, wie viel sich in diesem Jahr durch Diskurs verändert hat, obwohl oberflächlich betrachtet gar nicht so viel ging. Warum gerade jetzt?
Es scheint, als seien alle mal zur Ruhe gekommen und hätten gerade deswegen mehr Zeit, sich Gedanken über die Szene als Ganzes zu machen: Was lief lange schief? Was kann man besser machen? Aus der Vermutung spricht eine Hoffnung: Darauf, dass nach dieser Zwangspause das Musik- und Techno-Business anders wieder erwacht. Nachhaltiger etwa, weil weniger geflogen wird. Fairer, weil dadurch lokale Acts ihre Bedeutung wiedererlangen. Oder diverser, weil weniger Einheitsbrei gebucht wird, sowohl musikalisch als auch demografisch.
Die wenigen Partys des vergangenen Sommers haben dieser Hoffnung einen Dämpfer verpasst. Von diesem Partysommer auf Sparflamme bleibt der bittere Beigeschmack, dass nur die Oberliga an DJs profitiert hat. Vielleicht war auch das ein Teil des Unmuts, den speziell Amelie Lens auslöste. Dass die bekennende Veganerin auf (überwiegend legalen) Partys in Italien und Spanien spielte, kritisiert Techno-Twitter zum Beispiel in diesem Thread bis zum Punkt, sie „canceln” zu wollen. Die „Plague Rave Covid-19 Shit List” mutet passenderweise wie eine Abschussliste an.
Da beginnt sich die Kehrseite des Twitter-Diskurses zu zeigen: Es steckt unglaublich viel Energie drin, aber die Tweets und Replies können so gemein und unbedacht werden wie ein Pausenhof voller Kinder. Letztlich bringt das Kritisieren oder eine Person für „nicht haltbar” zu erklären wenig. Das erkennt zum Beispiel die kanadische Produzentin und heavy Twitter-Userin Ciel in einem Tweet: „[…] Canceling doesn’t seem to do anything beyond the initial period of cancelation (about a month or two).” Die Excel-Liste mit all den Gigs, die die DJs darauf auch nach Entstehen der Liste gespielt haben, verdeutlicht das. Und auch Diskussionen zur sogenannten Cancel Culture außerhalb der Technoszene zeigen, dass es nur selten Auswirkungen auf das echte Leben hat, eine Person auf Twitter zu canceln – siehe zum Beispiel den deutschen Kabarettisten Dieter Nuhr. Er wird auf Twitter nahezu permanent für seine rassistischen und sexistischen Witze kritisiert, hat aber immer noch seine regelmäßige Sendung in der ARD.
Warum regen sich dann trotzdem Menschen so sehr über die Handlungen anderer auf Twitter auf? Wir alle haben im vergangenen Jahr mehr Zeit im Internet und auf Social Media verbracht. Das haben bereits Umfragen nach der ersten Corona-Welle im Frühling gezeigt. Was im Lockdown an Freizeitaktivitäten wegfiel, schuf Zeit und Langeweile für das Handy. Dazu hat die sich ständig verändernde Nachrichtenlage ein Verhalten begünstigt, das sich „Doomscrolling” nennt: Man scrollt und scrollt sich durch negative Nachrichten, die kein Ende zu nehmen scheinen. Dabei kann man sich nur schwer aus diesem negativen Strom lösen.
Das Konzept lässt sich genauso auf Techno-Twitter übertragen. Gerade negativ geprägte Schlagabtausche laden zum Beobachten ein (Popcorn-Meme!). Und das schiere Volumen an Konflikten dort hat zugenommen. Dass Doomscrolling nicht gerade gesund für die eigene mentale Gesundheit ist – geschenkt. Dass es auch nicht gerade erbauend ist, an Twitter-Diskussionen teilzunehmen, wissen meistens die am besten, die das tun. Ciel zum Beispiel gehört zu den aktivsten DJs auf Twitter. Im Groove-Interview vergangenes Jahr sprach sie darüber: „Jeden Tag, wenn ich auf Twitter bin, sind da einfach ständig Leute am Streiten.” Auch in einem neuen Interview mit Annabel Ross nannte sie die Diskussionskultur auf Twitter „toxisch”. Und trotzdem ist sie immer noch da. The Blessed Madonna hatte vor einem Jahr ihren Twitter-Account an ihr Management abgegeben. Inzwischen ist sie wieder selbst am Twittern, und zwar so viel, dass sie sich erneut Pausen nimmt. Auch Discwoman-Mitgründerin Frankie Decaiza Hutchinson löschte Twitter zeitweise von ihrem Handy, weil es ihr nicht guttat.
Doch die Corona-Pandemie hat nicht nur zu mehr Social-Media-Konsum geführt. Sie hat viele Konflikte erst entstehen lassen. Denn Corona hat eine ganz besondere Art von Twitter-Diskurs hochleben lassen: Wer lebt moralisch einwandfreier? Geht man zu legalen Partys, um die Clubs zu unterstützen, oder meidet man sie, um sich und andere nicht anzustecken? Wer reduziert seine Kontakte am meisten? Wer spendet am meisten – oder ist es falsch, für eine Organisation wie Discwoman zu spenden bzw. zu diesen Spenden überhaupt aufzurufen?
Für jede Seite gibt es leidenschaftliche Pro- und Contra-Stimmen. Viele inszenieren sich dabei als coronakonforme Hüter*innen der Moral und haben keine Angst, andere öffentlich zu verurteilen, wenn diese es anders tun als sie selbst. Twitter ist dafür das ideale soziale Netzwerk: Anders als auf Instagram zählen nur Worte. Retweets oder Kommentare werden in der gleichen Schriftgröße wie der ursprüngliche Post angezeigt, quasi ohne Hierarchie – ideal, um seinen Senf dazuzugeben. Wie man sich aber tatsächlich am besten verhält, geht in diesem moralischen Überbieten ein bisschen unter. Dass es da nicht immer ein Richtig und ein Falsch gibt, auch. Denn auf Zwischentöne ist die Dynamik von sozialen Netzwerken nicht ausgelegt. Twitter mit seiner Begrenzung auf 280 Zeichen pro Tweet erst recht nicht.
Fürs nächste Jahr ergibt sich damit ein Vorsatz: Weniger Twitter. Das würde nicht nur einem weniger polarisierten Techno-Twitter guttun, sondern der Psyche von jedem*r, der*die da mitmacht. Diskutieren über Rassismus, Sexismus und andere Missstände in der Szene kann und muss man auch in anderen Kontexten. Vielleicht löst sich das auch ganz von alleine: Irgendwann werden wir wieder unsere Freund*innen zu zwanzigst treffen dürfen, in rappelvollen Clubs tanzen und in stickigen Bars anstoßen können. Dann bleibt eh weniger Zeit für Twitter.
Dieser Text ist Teil unseres Jahresrückblicks REWIND2020. Alle Artikel findet ihr hier.