Auch in Zeiten des Coronavirus erscheinen Alben am laufenden Band. Da die Übersicht behalten zu wollen und die passenden Langspieler für die Club-freie Zeit zu küren, wird zum Fulltime-Job. Ein Glück, dass unser Fulltime-Job die Musik ist. Zum Ende jedes Monats stellt die Groove-Redaktion Alben der vergangenen vier Wochen vor, die unserer Meinung nach relevant waren. Im dritten Teil des Oktober-Rückblicks mit Rian Treanor, Teno Afrika, Zenker Brothers und vier weiteren Künstler*innen – wie immer in alphabetischer Reihenfolge.
Zu Teil 1 der Oktober-Reviews geht’s hier entlang, Teil 2 findet ihr hier.
Patrick Cowley – Some Funkettes (Dark Entries)
Dieses Jahr hätte Patrick Cowley seinen 70. Geburtstag gefeiert, wenn er nicht 1982 den Folgen einer Aids-Erkrankung erlegen wäre. Unsterblich wurde er in den 32 Jahren seines Lebens als Produzent von Disco-Hits wie Sylvesters „You Make Me Feel (Mighty Real)”. Posthum konnte man auf bisher unveröffentlichten Alben wie der New-Wave-Platte Catholic, 1979 abgeschlossen und 30 Jahre danach erschienen, andere Facetten Cowleys kennenlernen. Die Compilation Some Funkettes geht noch ein wenig weiter zurück in der Biographie (und künstlerischen Entwicklung) Cowleys und versammelt Coverversionen bekannter Disco-, Soul- und Fusion-Nummern, zwischen 1975 und 1977 entstanden, allesamt in Heimstudioqualität. Den Auftakt macht „Do It Any Way You Wanna” von People’s Choice. Dessen Basslinie sollte später, nebenbei bemerkt, sehr großzügig in David Christies Disco-Hit „Saddle Up” recycelt werden. Cowley folgt mit seinem elektronischen Inventar im Wesentlichen der Vorlage, nicht schlecht, aber auch nicht allzu originell. Ähnlich ergeht es „Papa Wuzza Rollinston”, das bei den Temptations nicht bloß eindeutiger benannt ist, sondern auch inspirierter klingt. Besonders das Schlagzeug lässt etwas zu wünschen übrig. „Spiked Punch”, Cowleys Version von Herbie Hancocks Klassiker „Chameleon”, ist das Highlight unter den Stücken. Allein schon durch seinen Synthesizer-Bass und das spartanische elektronische Schlagzeug gibt Cowley dem Stück einen anderen Twist, dreht in seinem Synthesizer-Solo zunehmend frei und setzt einen Breakdown in der Mitte zum Luftholen. Die Instrumentalversion von „I Feel Love” schließlich belegt seine frühe Begeisterung für den von Moroder produzierten Hit, dem Cowley später mit einem 15-Minuten-Mix die Ehre erweisen sollte. Hier kommt er auf neuneinhalb Minuten. Dass sein segelnder Vangelis-Sound im Vergleich zum dreistimmigen Gesang des Originals von Donna Summer etwas abfällt, liegt in der Natur der Sache. Mit druckvollerem Schlagzeug wäre auch dies ein Highlight. Tim Caspar Boehme
patten – Aegis (555-5555)
patten ist mehr als ein Mensch. Obwohl oft die gleiche Person im Kontext des Pseudonyms auf (Presse)Fotos auftaucht, rutscht der Fokus immer wieder weg von der Identitätsfrage. patten ist ein Projekt-Wurzelgeflecht, das seit 2019 mit der Agence creativ 555-5555 einen neuen Knotenpunkt bekommen hat. Musik, Modedesign, Kunstinstallationen, AV-Shows – es gibt kaum eine kreative Plattform, die 555-5555 (auch als Dienstleisterin für Kund*innen) nicht bespielen will. Dieses Ausufernde, Übergreifende bis hin zur Unschärfe ist auch in der Musik von patten spürbar. Das aktuelle Album, Aegis, bewegt sich, wie viele Stücke seit dem ersten Album von 2011, an der Grenze zur Überwältigung. Die Beats, die zwischen Dancehall, Footwork, Grime und four-to-the-floor mäandern, klingen hin und wieder, als würde man auf eine Cornflakes-Tüte stampfen. Dazu kommen wild gewordene Sounds, die wie Schwärme kleiner Vögel kreischend vorbeiziehen und fragmentierte Vocal-Samples. Unter den schwirrenden Formen aber schillern wie entspannende Wärme, die man nur leicht fühlt in einer Eiseskälte, harmonische Synthesizerklänge. Und so hat Aegis auch etwas Beruhigendes. Dieser Ausdruck, diese Botschaft zieht sich durch die Musik, wodurch das Projekt trotz des ausufernden Wesens doch greifbar wird: Wenn die Musik, die Welt im Chaos versinkt, gibt es trotzdem Wärme. Auch wenn sie aus dem Computer kommt. Philipp Weichenrieder
Rian Treanor – File Under UK Metaplasm (Planet Mu)
Für all jene, die Rian Treanor noch nicht kennen – dieser junge Mann aus Sheffield hat eine Mission: Er möchte funktionale Clubmusik, gerne im UK-Rave-Kontinuum stehend und das 160-BPM-Speedlimit überschreitend, bis weit über ihre Grenzen hinaus treiben. Derart dekonstruiert funktioniert sie natürlich nicht mehr im Club, wir landen stattdessen bei experimenteller Klangkunst. Wenn man möchte, dann könnte man die Musik von Rian Treanor, der familiär bedingt bereits von Kindesbeinen an mit der Sheffielder Techno-Szene zu tun hatte, als die Antwort des 21. Jahrhunderts auf Autechre bezeichnen. Ähnlich mathematisch geht er seine Tracks unter Laborbedingungen an. Im Studio arbeitet er mit der Programmiersprache Max/MSP, seine asymmetrischen, polymorphen Rhythmusstrukturen fußen zumindest teilweise auf Algorithmen. Auf der anderen Seite ist da, wie eingangs erwähnt, der Fundus funktionaler Clubmusik zwischen Hardcore, UK Garage, Drum & Bass oder Juke. File Under UK Metaplasm, sein zweites Album, enthält neben zersplitterten Grime- oder Dancehall-Sounds aber auch Spuren des ostafrikanischen Musikstils Singeli. Vor zwei Jahren war er für das in der ugandischen Hauptstadt Kampala stattfindende Nyege Nyege gebucht, danach blieb er noch für einige Zeit im Land und arbeitete im Studio der Veranstalter. File Under UK Metaplasm ist weit entfernt von Treanors doch eher plakativem Dekonstruktivismus früherer Tage. Das Album enthält ruhige, trotz des hohen Tempos beinahe kontemplative Elemente, so zum Beispiel auf „Orders from the Pausing”, dem letzten Track der Platte. Hier kommt der Engländer fast in die Nähe von Minimal Techno, während „Closed Curve” einem eine Vorstellung davon gibt, was aus Plastikman hätte werden können, wenn Richie Hawtin irgendwann mal richtig abgebogen wäre. Holger Klein
Seltene Erden – Scorched Erden (Youth)
Die Metalle der Seltenen Erden sind im Zweifel gar nicht mal so selten. Kommt eben auf das Metall an. Bei Gunnar Wendel waren sie bisher sehr rar. Vor elf Jahren benutzte er zuletzt dieses Alias, jetzt liegt sein Debütalbum des Projekts vor. Mit der Zeit hat sich dessen Charakter gewandelt, vom Techno aus alten Tagen ist nichts geblieben. Stattdessen organisieren die elektronischen Klänge ihre eigenen Rhythmen, gehen lockere Verbindungen ein, sondern schwingende Feinstaubpartikel ab. Fügt sich alles sehr frei ineinander. Beat im engeren Sinn gibt es keinen, dafür sich ins Rätselhafte verästelnde Prozesse, die durch Melodie-Moleküle angestoßen werden. Auf freundliche Weise künstlich, nicht anbiedernd gesellig und schon gar nicht feindselig schroff, ist dies Musik weniger zum Meditieren als zum gleichschwebend aufmerksamen Hören. Die seltenen Erden auf Scorched Erden sind im Übrigen wirklich höchst selten, entstammen sie doch so verschiedenen Welten wie der Mittelerde J.R.R. Tolkiens oder dem Computerspiel Tales of Destiny. Tim Caspar Boehme
Teno Afrika – Amapiano Selections (Awesome Tapes From Africa)
Was Mitte der Zehnerjahre in der Provinz Gauteng (in deren Hauptstadt Pretoria ist die südafrikanische Regierung ansässig) auf YouTube oder in WhatsApp-Gruppen begann, ist heute einer der erfolgreichsten Musikstile des ganzen Landes. Amapiano regiert die Charts, Leute wie DJ Maphorisa oder Kabza De Small produzieren Hit auf Hit. So weit ist der gerade 19-jährige Newcomer Teno Afrika noch nicht. Die acht Tracks auf Amapiano Sessions sind wohl nicht zuletzt als Visitenkarte zu verstehen, Vocal-Tracks findet man hier nicht. Dies sei sein erstes Album, daher wolle er den Fokus auf seinen Produktionsstil legen, sagt er über sein Debüt. Amapiano vereint in erster Linie Einflüsse aus Kwaito und 90s-House, verzichtet dabei aber weitgehend auf den Punch der Kickdrum. Teno Afrika verfolgt mit seinen Amapiano Sessions jedoch einen etwas anderen Ansatz. Schluffige Rhodes-Akkorde finden sich hier zum Beispiel nur auf dem Stück „Smooth Criminal”. Sein Sound ist eher minimal, „8 Ubers (Tribute to DJ Jaivane)“” klingt etwa ein kleines bisschen wie ein Amapiano-Remix eines ganz frühen Warp-Tracks. Großartig ist die im Stil der frühen Neunziger daherkommende Bassline auf „Trip to Vlakas”, einer Kollabo mit dem Produzenten SilvadropZ. Man darf also wirklich gespannt sein, wie es mit diesem jungen Produzenten aus Südafrika weitergeht. Holger Klein
Vladislav Delay x Max Loderbauer – ROADBLOCKS (Detroit Underground)
Vladislav Delay füllt die Pandemie-Tage mit einer ganzen Reihe an Veröffentlichungen: Auf ein Soloalbum sowie eines, das er mit den Produktionslegenden Sly & Robbie aufgenommen hat, folgten erst eine Reihe von Reissues – und jetzt mit ROADBLOCKS eine Sammlung von Tracks, die der Finne vor einigen Jahren zusammen mit Max Loderbauer produzierte: Improvisierter Modularsystem-Techno ist das. Struktur und Track-Dramaturgie spielen hier eine untergeordnete Rolle, Tanzflächen-Kompatibilität eher gar keine. ROADBLOCKS: das sind ungestüm-rotzige Loops, die manchmal ins Subaquatische abtauchen, während es an den Oberflächen aber zerrt und kratzt. So sympathisch der Gestus des Projekts auch ist, auf Albumlänge erschöpft sich ROADBLOCKS doch erschreckend bald. An Stelle polyrhythmischer Vielfalt tritt ein Pulsieren in relativ gleichbleibender Geschwindigkeit und Intensität. Erst ganz am Ende bäumt sich die LP noch einmal auf und erscheint plötzlich als ein wildes Ungetüm von einem Album, das es in seiner Gesamtheit jedoch nicht geworden ist. Christian Blumberg
Zenker Brothers – Cosmic Transmission (Ilian Tape)
Wer sich in den späten Nullerjahren für Techno interessierte, stieß bestimmt früher oder später auf das Münchner Label Ilian Tape. Und 2020? Ist das noch genauso. Schon krass, wie die Zenker Brothers, übrigens komplett in familiärer Eigenarbeit, ihr Label über eine solche Zeitspanne hinweg relevant halten. Jetzt haben die beiden ihr zweites Album auf dem eigenen Label veröffentlicht. Die Münchner fahren auf Cosmic Transmission einen ziemlich roughen, diffus und seltsam pulsierenden Style, den das von der eigenen Mutter gestaltete Albumcover tatsächlich ganz gut visualisiert – obwohl die vielen dunklen Klangfarben das farbenfrohe Bild häufig verwaschen. Die elf aufgekratzten Studien trotzen dem ewigen kosmischen Dunkel mithilfe zenkeresker Klang-Transmissionen. So erhellt sich der auf den ersten Blick etwas klischeebehaftete Titel schnell beim Hören, wenn die durchs Album rauf- und runterschleichenden Übertragungen schief hängende und alles verschlingende Stimmungen erzeugen. Zum Glück gibt es da bisweilen weiche Bässe und breakig-organische Drums, die den Durst nach Erdung zu stillen vermögen. Das ganz am Anfang weit ausgebreitete Staunen vor der kosmischen Unendlichkeit weicht bereits in „Who’s In Control” den keramischen und sich selbst entschwindenden Sphärensignalen, die von den Zenkers schließlich in einen unglaublich groovigen Dub gegossen werden. Wie ein kybernetisches Reggae-Sound-System wirkt der Beat, und zwingt mindestens zum Mitnicken. „Natural Connection”, „Sphere Force” und das besonders fremdartige „Divided Society” führen die Vibes konsequent fort. Zum Schluss dann mehr Electro-lastige Tracks. Insgesamt zeigen sich die Produktionen nicht allzu sensibel, dafür scheppert’s an anderen Stellen sehr groovig – und das ist doch das, was man von den beiden haben will. Moritz Hoffmann