Am 24. Juli 2020 jährt sich die Katastrophe der Loveparade in Duisburg zum zehnten Mal. Dass das, was kurz vor der Wende einmal als utopische Rave-Demo für „Friede, Freude, Eierkuchen” auf dem Berliner Ku’Damm begann, in einer solchen Tragödie endete, ist bis heute unbegreiflich. Dass der Prozess kürzlich ohne Urteil eingestellt wurde, für die Angehörigen der 21 Opfer kaum zu ertragen.

Mit ihrem dokumentarischen Spotify-Originals-Podcast „Trauma Loveparade” geben die Musikjournalist*innen Julian Brimmers und Viola Funk den Betroffenen nun eine Stimme und die Möglichkeit, die Geschehnisse von damals noch einmal aus ihrer eigenen Perspektive zu erzählen. In langen Gesprächen mit Angehörigen, Expert*innen und Zeitzeug*innen reflektieren sie kritisch das gängige Narrativ, da bis heute Falschinformationen darüber kursieren, was wirklich auf der Rampe am Eingang zum Loveparade-Gelände geschah.

Warum es weder eine „Massenpanik” noch ein „Unglück” gab und was die unzureichende Aufarbeitung der Geschehnisse, die von den Betroffenen auch als „Katastrophe nach der Katastrophe” bezeichnet wird, mit Vorurteilen gegen Rave-Kultur zu tun hat, darüber sprechen Julian Brimmers und Viola Funk im Interview.


Am Freitag, den 24. Juli, jährt sich die Loveparade in Duisburg zum zehnten mal. Könnt ihr euch persönlich noch daran erinnern, wie ihr diesen Tag erlebt habt?

Viola Funk: Ich habe damals in München studiert. Ich war 20 und bin selbst viel auf Open-Airs und Raves gegangen. Das war unvorstellbar. Ich erinnere mich an die Handyaufnahmen und die krassen Bilder in den Medien, in denen man auch die zugedeckten Leichen gesehen hat. Mich hat das lange mitgenommen, gerade weil die Opfer alle ungefähr so alt waren wie ich.

Julian Brimmers: Ich war 24, lebte schon ein paar Jahre in Köln. Ich hatte tatsächlich vor, mit meinen Freund*innen dorthin zu fahren. Allerdings nicht, um einen besonders guten Rave zu erleben, sondern eher aus Neugierde, weil man sich gefragt hat: Krass, warum ist sowas Großes in Duisburg? Ich bin dann aber aus irgendwelchen Gründen zu Hause bei meinen Eltern geblieben. Dort lief den ganzen Tag der WDR-Livestream. Ich hab mit meinen Eltern darüber gesprochen, dass Raver*innen die Treppe runtergefallen sind. Das war die erste Info, die man bekommen hat und die sich tagelang durchgezogen hat. Es hat lange gedauert, bis man verstanden hat, dass das überhaupt nicht der Fall war.

Der Musikjournalist und Podcast-Host Julian Brimmers wuchs am Niederrhein auf und wäre selbst fast 2010 mit Freund*innen zur Loveparade nach Duisburg gefahren.

Diese Frage scheint einfach, ist aber im Falle der Loveparade gar nicht so leicht zu beantworten: Was ist damals passiert?

Viola Funk: Die Loveparade sollte in Duisburg stattfinden – auf einem umzäunten Gelände. Das war die Jahre vorher nicht so, man kennt ja die Bilder aus Berlin. Es waren 1,4 Millionen Menschen angekündigt, im Endeffekt waren jedoch viel weniger Leute da. Diese Menschen wollten auf das Veranstaltungsgelände. Aber auf dem Weg dorthin gab es Rückstaus und die Menschenmassen waren einfach zu groß. Dadurch sind 21 Menschen gestorben.

Wie kam es nun, zehn Jahre später, zu eurer Recherche – warum müssen wir heute noch über diese Katastrophe sprechen? 

Viola Funk: Isabel Woop, unsere Produzentin bei ACB Stories, kam Anfang des Jahres mit dem Thema. Sie kommt selbst aus NRW und hat einen persönlichen Bezug dazu. Als wir angefangen haben zu recherchieren, war der Prozess zwar noch nicht vorbei, aber es war absehbar, was da passiert: die Verjährung drohte, wegen Corona verschob sich alles noch weiter. In Gesprächen ist uns aufgefallen, dass man selbst zehn Jahre später nur so ungefähr weiß, was passiert ist, weil es sehr komplex ist. Zudem war klar, dass es keine offizielle Aufklärung geben würde. Wir wollten aufarbeiten, was damals passiert ist, aber auch, was in den letzten zehn Jahren passiert ist. Die „Katastrophe nach der Katastrophe”, wie die Betroffenen es selbst bezeichnen. Wir wollten, dass die Opfer nicht vergessen werden. Und das Narrativ darum geraderücken.

Das gängige Narrativ ist, dass es eine „Massenpanik” gegeben habe. Woher kommt diese Zuschreibung und warum ist sie problematisch?

Viola Funk: Diese Narrativ ist in den Köpfen drin, weil es ganz am Anfang aufkam und seitdem oft wiederholt wurde. Damals gab es aber andere Informationen als die, die wir jetzt haben. „Massenpanik” ist ein schwieriger Begriff, weil er die Mitschuld der Besucher*innen impliziert.

Mit wem habt ihr für eure Recherche gesprochen, wessen Geschichten wolltet ihr erzählen?

Julian Brimmers: Wir wollten das Spotlight auf die Betroffenen richten. Zuhören, was in ihren Augen vorgefallen ist und wie es ihnen seitdem geht.

Viola Funk: Für die Recherche haben wir mit Expert*innen und Journalist*innen gesprochen, wichtig war etwa der Gutachter Professor Gerlach. Mit fast allen Protagonist*innen haben wir lange Vorgespräche geführt, auch als Teil der Recherche. Es ging darum, zuzuhören, damit wir die Geschichte richtig erzählen können. Eine der wichtigsten Protagonistinnen ist Gabi Müller. Ihr Sohn Christian war damals 25, ist auf das Event gefahren und nie wieder gekommen. Gabi ist vor allem interessant, weil sie in den letzten zehn Jahren eine Entwicklung durchgemacht hat. Am Anfang war die Trauer, aber von Jahr zu Jahr wurde sie immer kritischer und hat angefangen Fragen zu stellen. Jede*r, mit dem*der wir gesprochen haben, hat sie erwähnt, weil sie so eine starke Frau sei. Als ich sie dann kennengelernt habe, habe ich verstanden, warum sie so eine wichtige Person in dem ganzen Fall ist.

Sie hat mit ihrem Engagement auch dazu beigetragen, dass es überhaupt zum Prozess kam, oder?

Viola Funk: Sie hat mit den anderen Betroffenen eine Petition für die Eröffnung des Strafverfahrens gegen die Verantwortlichen ins Leben gerufen. Man muss zwar offiziell sagen, dass dies juristisch keinen Einfluss auf den Prozess haben darf. Aber sie hat ein öffentliches Bewusstsein dafür geschaffen und das bringt natürlich viel.

„Das Narrativ war, dass es aus dem Ruder gelaufen sei und Leute über die Stränge geschlagen hätten. Die ‘crazy Raver’, die einfallen und sich nicht richtig benehmen.”

Julian Brimmers

Wer war noch wichtig für die Geschichte von „Trauma Loveparade”?

Viola Funk: Die Journalistin und Autorin Andrea Hanna Hünniger. Sie war damals 25, ist als Reporterin für die ZEIT nach Duisburg gefahren und mitten in der Menge auf der Rampe gelandet. Sie hat überlebt, gehört aber zu den Betroffenen, die verletzt und traumatisiert wurden. Für den Podcast hat sie ihre Geschichte aufgeschrieben und vorgelesen, was nochmal einen anderen Effekt hat, als diese zu erzählen. Sie kritisiert auch, wie die Medien darüber berichtet haben.

Julian Brimmers: Sie hatte das Gefühl, dass in der Berichterstattung ein gewisser Hass auf die Jugend mitgeschwungen habe. Das Narrativ davon, dass es aus dem Ruder gelaufen sei und Leute über die Stränge geschlagen hätten. Die „crazy Raver”, die einfallen und sich nicht richtig benehmen. Viola und ich kommen ja selbst aus der Welt der elektronischen Musik und haben versucht, das Geschehene auch popkulturell einzuordnen. Denn die furchtbare Dimension des Ganzen ist ja, dass es auf so einer Feier passiert ist. Deshalb haben wir neben den Betroffenen und Expert*innen auch mit Dr. Motte über die Ursprungsgedanken der Loveparade gesprochen. Oder mit Ramin Köhn, der die Aftershow-Party organisiert hatte, die danach ja noch stattgefunden hatte. Die popkulturelle Dimension wurde bislang eher selten beleuchtet.

Musikjournalistin Viola Funk nahmen bei der Podcast-Recherche am meisten die Videos von der Rampe mit. 2010 war sie 20 Jahre alt – so wie die meisten der 21 Opfer.

Eine Protagonistin sprach im Podcast davon, dass es vielleicht mehr Interesse seitens der Bevölkerung an der Aufklärung gegeben hätte, wenn es ein Terroranschlag gewesen wäre und keine Party. Haben auch Vorurteile gegenüber der Rave-Kultur eine Rolle dabei gespielt, wie mit der Katastrophe umgegangen wurde?

Viola Funk: Ich denke auf jeden Fall, dass das mit rein spielt. Dass viele Leute denken: Da hätte man ja nicht hingehen müssen. Wenn du auf eine Party mit vielen Menschen gehst, kann sowas halt passieren. Ein Narrativ war ja am Anfang auch, dass zu viele Menschen zu schnell auf die Abschlusskundgebung wollten. Als wären die partywütig dahin gerannt. Oder, dass sie Zäune umgerissen hätten. Ja, die haben Zäune umgerissen, weil sie sonst gestorben wären! Das Setting spielt auf jeden Fall eine Rolle dabei, wie das am Ende wahrgenommen wurde. Der Unterschied zum Terroranschlag ist aber natürlich, dass dabei eine oder mehrere Personen gezielt Leute töten wollen. Im Falle der Loveparade wollte natürlich niemand Leute umbringen. Aber es wurde sehr fahrlässig gehandelt und andere Interessen waren wichtiger als die Sicherheit. Die Schuldfrage und Verantwortung ist etwas, was wir im Podcast auch aufarbeiten.

Julian Brimmers: Es gibt bei solchen Katastrophen immer den Reflex, der Sache einen Sinn geben zu wollen. Und als gesagt wurde: „Das waren Raver!”, da haben die Leute vielleicht innerlich durchgeatmet, weil es dadurch irgendwie erklärbar wurde. Dass in Wahrheit kühle, bürokratische Fehler dazu geführt haben, ist ja fast noch schlimmer als diese erste Annahme.

„Der Gutachter Professor Gerlach sagt klar: Man hätte diese Katastrophe nur noch am 23. Juli verhindern können, indem man die Veranstaltung abgesagt hätte.”

Viola Funk

Ihr habt Professor Gerlach bereits erwähnt, den Gutachter. Er fand heraus, dass es 50 verschiedene Ursachen dafür gegeben habe, dass es zu der Katastrophe kam. Inwiefern kann man hier noch von einem Unglück sprechen?

Viola Funk: Wir haben viel über diese Begriffe gesprochen. Wir sprechen sehr bewusst von der „Katastrophe”. Bei dem Wort „Unglück” schwingt mit, dass etwas halt passiert ist. Ist blöd, aber kann mal passieren, wie etwa bei Naturkatastrophen. Aber Professor Gerlach sagt klar: Man hätte diese Katastrophe nur noch am 23. Juli verhindern können, indem man die Veranstaltung abgesagt hätte. Er unterscheidet in seinem Gutachten zwischen „der” Katastrophe, die passiert ist und „einer” Katastrophe. Denn wenn die Dinge anders gelaufen wären, wäre genau diese Katastrophe zwar nicht passiert. Aber dann wäre es an einer anderen Stelle, zu einem anderen Zeitpunkt auch zu einer Menschenverdichtung gekommen. 

Julian Brimmers: Deshalb reiten wir auch auf diesem Massenpanik-Begriff so herum, der ja leider selbst dieser Tage noch durch die Medien geistert. Weil der den Leuten selbst eine Schuld zuschreibt, die sie nicht hatten. Professor Gerlach spricht von einem „Massenbeben”, das nicht mit dem Verhalten der Leute zusammenhängt, die vielleicht sogar eher ruhig und solidarisch waren. Words matter – solche Begriffe geben dem Ganzen einen Rahmen, der nicht stimmt.

Gab es während der Recherche besondere Erkenntnismomente für euch? 

Julian Brimmers: Dass über die Katastrophe so viele Falschinformationen im Umlauf sind, die immer wieder reproduziert werden. Das war mir so vorher nicht klar. 

Viola Funk: Es gab viele Aha-Momente, etwa hinsichtlich der juristischen Ebene. Die hatte ich vor der Recherche nicht verstanden. Oder tiefer in die psychologische Ebene einzutauchen, was das mit einem macht und wie der Körper reagiert. 

Für die Recherche musstet ihr euch auch die Videos von der Rampe anschauen. Was hat das mit euch gemacht? 

Viola Funk: Das war für uns der schlimmste Teil der Recherche. Weil das so heftig ist. Ich hab mir die Videos nur einmal angeschaut. Man sollte sich wirklich überlegen, ob man sich das überhaupt anschauen will. Uns war es aber wichtig, dass die Leute durch den Podcast nochmal nachfühlen können, wie schlimm das war, was die Leute da erlebt haben. Die Herausforderung war, das ohne Bilder darzustellen – was ich aber auch als Vorteil empfinde, weil ich diese Bilder ungern gezeigt hätte. 

Gab es Menschen, mit denen ihr gerne gesprochen hättet, die aber nicht für ein Interview bereit waren? 

Viola Funk: Wir wollten von Anfang an vor allem die Geschichten der Betroffenen erzählen. Allerdings haben wir auch die drei großen Personen angefragt, weil wir in einer Folge auch viel über sie sprechen: Adolf Sauerland, den damaligen Duisburger Oberbürgermeister, Rainer Schaller, den Veranstalter und Chef von Lopavent, und Wolfgang Rabe, den ehemaligen Ordnungsdezernenten. Aber uns war von Anfang an klar, dass die Leute nicht mit uns reden werden. Wir haben aber mit einigen Verteidigern der Angeklagten gesprochen.

Der Strafprozess wird häufig als eines der „aufwendigsten Strafverfahren der Nachkriegszeit” bezeichnet. Was kritisieren die Betroffenen daran am meisten?

Viola Funk: Es gab viel Unmut seitens der Betroffenen, dass diejenigen, die die Entscheidungen getroffen hatten, nicht angeklagt wurden. Eine Journalistin im Podcast spricht von „Bauernopfern”. Es gibt mittlerweile eine Konsens darüber, dass Fehler gemacht wurden. Rainer Schaller hat dann aber vor Gericht gesagt, dass er keine Fehler bei seiner Firma Lopavent erkennen kann. Genauso wie der Oberbürgermeister, der die Schuld von sich weist. Im Prinzip sind sich alle einig, dass das eine menschengemachte Katastrophe war. Trotzdem trägt keiner juristische Verantwortung.

„Alle haben immer gehofft, einerseits zu verstehen, was passiert ist, andererseits auch darauf, dass irgendwer Verantwortung dafür übernimmt, dass ihre Kinder, Geschwister und Freund*innen gestorben sind. Es war ein schlimmes Ende für alle.”

Viola Funk

Im Mai 2020 wurde der Prozess ohne Urteil eingestellt. Was heißt das für die Betroffenen?

Viola Funk: Das war furchtbar. Viele hatten ihre letzte Hoffnung an diesen Prozess geknüpft. Das markiert nun irgendwie das Ende: Es ist verjährt, jetzt kann juristisch niemand mehr verantwortlich gemacht werden. Alle haben immer gehofft, einerseits zu verstehen, was passiert ist, andererseits auch darauf, dass irgendwer Verantwortung dafür übernimmt, dass ihre Kinder, Geschwister und Freund*innen gestorben sind. Es war ein schlimmes Ende für alle. Wir versuchen im Podcast zu erklären, was passiert ist, warum es zu diesem Urteil gekommen ist. Aber natürlich ist die Quintessenz von allem, dass es einfach unfassbar ungerecht ist. Trotz allem. Selbst jetzt, zehn Jahre später, wo man versteht, was passiert ist, macht es keinen Sinn.

Julian Brimmers: In der siebten Folge spreche ich mit der Gerichtsreporterin Zübeyde Sürgit über den Prozess. Und sie sagt etwas, worüber ich vorher nicht nachgedacht hatte: Dass es für die Betroffenen wichtig gewesen wäre, nochmal zusammen zu kommen. Das war Corona-bedingt aber jetzt nicht möglich, gerade für die internationalen Angehörigen der Opfer. Einen gefühlten gemeinsamen Abschluss zu erleben, das war auch nicht möglich.

Viola Funk: Ich bin gespannt, wie es jetzt weitergeht. Das Gutachten von Professor Gerlach ist jetzt öffentlich zugänglich. Das wird dieses Jahr nochmal durch die Medien gehen. Aber wird man am elften Jahrestag nochmal darüber sprechen, wenn es nichts Neues zu berichten gibt? Das ist schmerzhaft für die Betroffenen, wenn die Öffentlichkeit das Interesse verliert. Denn die Angehörigen wird das Thema niemals loslassen.

Alle sieben Folgen von „Trauma Loveparade – 10 Jahre nach der Katastrophe” gibt es jetzt auf Spotify:

Vorheriger ArtikelGroove DJ-Charts mit Freddy K, Mary Lake, Tom und Serendeepity (KW30)
Nächster ArtikelWilde Renate, Berghain, ://about blank: Kunstinstallationen im Club