Breakbeat, Electro, Techno und IDM zwischen 90er-Nostalgie und Warehouse: Andrea deckt mit seiner verwaschenen wie emotionalen Soundpalette beinahe alle experimentellen Elektronik-Genres ab und ist für seine wilden Live-Sets bekannt. Mit wenigen, aber überdurchschnittlich starken Releases stand er bislang eher im Schatten der Ilian-Tape-Betreiber Zenker Brothers oder des Aushänge-Produzenten Skee Mask. Fünf Monate nach dem LP-Debüt seines Turiner Kollegen Stenny erschien im April 2020 sein Debütalbum Ritorno.
Der GROOVE gewährt der Italiener als erstem deutschsprachigen Magazin in seiner fast zehnjährigen Musikkarriere Einblick in seinen Produktionsprozess und künstlerischen Werdegang. Über Spirit Animals, seine Rückkehr und wichtigsten Nummern sowie die Bekanntschaft mit der Ilian-Tape-Gang und Peverelist.
Die dritte Woche des Corona-Lockdowns ist gerade angebrochen und in Italien explodieren tagtäglich die Zahlen, als ein gut gelaunter, gleichzeitig besorgter Andrea eine Stunde lang im Videochat aus seinem Studio Rede und Antwort steht. Ganz von allein schwenkt das Gespräch auf den Virus. So eine schnelle und dramatische Eskalation sei undenkbar gewesen, dass ein winziger Krankheitserreger von einem auf den anderen Tag die Welt auf den Kopf stellt, die globale Wirtschaft einfriert. Zum Glück sei es in Turin nicht so schlimm, aber die Situation in Norditalien mache ihm Angst. Wahrscheinlich hätte man früher mit der Quarantäne beginnen müssen.
Ein Dave-Smith-Synthesizer im Hintergrund der pixeligen Laptop-Kamera verrät, dass er nicht nur am Rechner produziert. Das riesige Periodensystem hinter ihm seinen akademischen Hintergrund als Chemiker. Das sei eigentlich mal ein Duschvorhang gewesen, erklärt er lachend. Irgendwie wäre es mit dem Produzieren ja wie mit chemischen Reaktionen: Manche Kombinationen ergeben das gewünschte Resultat, andere Gift. Überhaupt ginge es bei Musik wie in der Wissenschaft ums Experimentieren und Erforschen.
Rückkehr zu alten Gepflogenheiten
Ritorno bedeutet Rückkehr, dabei ist Andreas letzte EP Forse gerade mal eineinhalb Jahre her. Einige seiner meist einsilbigen Tracknamen verweisen auf seine italienische Herkunft, wie der Album-Closer „Lana”. Das bedeutet auf Deutsch „Wolle” und genauso klingen auch die schwelgerischen Broken Beats. Doch beim Albumtitel geht es eigentlich um einen bevorstehenden Umzug aus Turin nach Moncalieri mit seiner Freundin: „Rückkehr zu meinen alten Gepflogenheiten, meiner Jugend. Dieser Vibe von damals beeinflusst mich immer noch. Meine tiefsten Freundschaften stammen aus der Zeit, als wir anfingen, auszugehen.”
In der 60.000-Seelenstadt eine halbe Stunde mit dem Zug von der nördlichsten Metropole Italiens verbrachte Andrea seine Kindheit und Jugend. Er spielte Klavier, Bassgitarre in Punk-Rock-Bands, entdeckte elektronische Musik und fing mit dem Produzieren an. Um den Beginn dieses Jahrzehnts lernte er Stenny, damals Resident-DJ der Turiner Partyreihe We Play The Music We Love, beim Feiern kennen. Musikalische Gemeinsamkeiten führten zum gemeinsamen Studio und trugen ziemlich schnell Früchte: Ums Jahr 2013 konnten die beiden den Einstand auf dem Münchner Techno-Imprint Ilian Tape feiern.
Die neuen Stücke wären aber nicht spezifisch mit diesen Jugenderinnerungen im Kopf produziert worden, sondern von seiner aktuellen Situation in der Turiner Innenstadt beeinflusst. Hier lebt er gegenüber des weitläufigen Stadtparks, dem Parco del Valentino: „Wahrscheinlich kann ich zu jedem Albumtrack eine Geschichte erzählen.”
Anders als auf seinen EPs und genau wie die Label-Kollegen nimmt sich Andrea auf seinem Debütalbum den Raum für eine noch breitere Palette an Stilen und Emotionen: „Vor zwei Jahren habe ich angefangen, noch diversere Sachen zu produzieren und mich auch wieder jenseits elektronischer Musik inspirieren lassen. Von Tracks, die ich im Bus oder beim Gassigehen gehört habe. Als ich Dario Zenker das Material geschickt habe, hatte ich gar nicht die Idee, daraus ein Album zu machen. Aber es war mehr als die normalen, tanzbare Sachen aus meinen Live-Sets wie sonst.”
Von Synthesizer-Klangkunst über Breakbeat-Brainfuck zu Techno-Abrissbirne
Die Elektronik-Szene in der viertgrößten Stadt Italiens schafft es nicht oft in die Schlagzeilen. Dabei gebe es ein aktives Künstler*innen-Netzwerk quer durch die Genres, findet Andrea und empfiehlt direkt seinen Hyperdub-Kollegen Mana alias Vaghe Stelle.
International bekannt ist dagegen das Turiner Experimental-Festival Club To Club, das regelmäßig Cutting-Edge-Artists aus aller Welt in verschiedene Locations der Stadt holt. Auf einer der ersten Ausgaben im November 2007 erlebte Andrea seinen Erweckungsmoment. Er war 18 und hörte Indie Rock, als ihn kein Geringerer als Jeff Mills eine musikalische Kehrtwende hinlegen ließ: „Im Jazz habe ich schon immer Drum-Jams gemocht. Diese neue Umgebung war, als ob mir jemand zum ersten Mal Eiscreme gezeigt hätte.”
Sein Faible für ausgefuchste Percussions bis in die kleinsten Details zeigt sich auf Ritorno wie in seinen berüchtigten Live-Sets. Die setzen sich hauptsächlich aus Studio-Produktionen zusammen. Auf der Bühne kann Andrea fast jedes Element tweaken, weil er bereits beim Produzieren an das Performen denkt. So könne er sich eigentlich aus seinem kompletten Archiv bedienen, live durch verschiedene Stimmungen switchen, je nachdem, wie das Publikum reagiert. Während die geplanten Europa- und UK-Termine wegen der Coronakrise ins Wasser fallen müssen, streamte Andrea am Veröffentlichungstag ein Live-Set aus seinem Wohnzimmer.
Ansonsten gibt sich Andrea, der seinen Vornamen zum Künstlernamen gemacht hat, eher medienscheu. Social Media benutze er kaum. In seiner bald zehnjährigen Karriere ist das sein zweites Interview. Er lässt lieber die Musik sprechen. Die sei alles, was er zum Glücklichsein braucht, um sich mitzuteilen. Das beweist auch der völlig absurde Pressetext aus der Feder Dario Zenkers: „Der Casanova ist mit kosmischen Wellen zurück, die dein Seelentier heraufbeschwören.” Wenn überhaupt der Casanova der Broken Beats, scherzen wir. Sein Spirit Animal kenne er gar nicht.
Empfänglich für Wellen ist der intelligente Musiker allerdings. Sogar ein Sound aus einem YouTube-Video kann Andrea zu neuen Tracks inspirieren: „Ich brauche einen besonderen Vibe, um ins Studio zu gehen. Vielleicht gehe ich spazieren, schaue einen Film oder surfe auf YouTube. Dann höre ich ein cooles Geräusch und kriege sofort Ideen.”
Besonders während des Albumprozesses sei er nie mit leeren Händen ins Studio gekommen, wo er auf eine Kombination von Hardware und Computer setzt. Für Melodien sei der warme Sound und die haptische Kontrolle von Synthesizern toll, für Perkussion analoge wie digitale Technik. Er sei da nicht besonders anspruchsvoll. Hauptsache, es funktioniert und macht Spaß. Aber jeden Tag läuft es anders: „Wenn mich ein cooler R’n’B-Trap-Sound kriegt, produziere ich am nächsten Tag vielleicht sowas. Nach einer Ilian-Tape-Party mit breakigem Techno komme ich nach Hause und baue natürlich eher Dancefloor-Skizzen.”
Produzieren sei allgemein ein schneller Prozess. Edits seien nicht sein Ding, lieber fange er neue Tracks an, die meisten Album-Nummern seien jeweils in einer Studiosession entstanden. Davon fertigte er dann mehrere Versionen von ambienter bis perkussiver an.
Track XL, Outlines & End Point
Zwei Tunes sind dem besonnenen Italiener besonders wichtig: Auf dem 5-Tracker Forse baute Andrea mit „Track XL” erstmals einen Trap-Beat. Er hätte ganz bewusst etwas Neues ausprobieren, aber gleichzeitig seinem Sound treu bleiben wollen. Hier findet sich auch das Breakbeat-Tool „Future Atmo”, das 2019 hoch und runter gespielt wurde.
Der 4-Tracker Outlines ist eine der meistverkauftesten Platten im Label-Katalog und brachte dem jungen Produzenten neue Gigs und Möglichkeiten. Vor allem aber half er ihm, aus einer schweren privaten Phase im Jahr 2015 zu kommen: „Insbesondere in den Titeltrack konnte ich meine ganze Traurigkeit und Rastlosigkeit packen – wie ein Gefühlsausbruch.” Treffsicher rezensierte GROOVE-Redakteur Kristoffer Cornils damals: „Große Gefühle in herausfordernde Rhythmen packen.”
Wichtig für Andreas Karriere war auch der viel beachtete Remix für Dubstep-Altmeister Peverelist, der es auch in die Bestjahres-Compilation des Warp-Stores Bleep schaffte. 2013 lief Andreas und Stennys technoide EP Vostok Smokescreen in Sets von Surgeon, Paul Woolford und Marcel Fengler. Auch Peverelist fand ihre ersten gemeinsamen Tracks super. Kowton spielte schließlich auf der Party, wo Stenny Resident war. Der UK-Produzent fragte ihn und Andrea, ob sie einen Remix von seiner und Peverelists aktueller Single End Point für die erste Livity-Sound-Compilation machen wollen: „Natürlich haben wir ja gesagt. Wir mögen die Bristoler Szene total. Das ist eins der wichtigsten Labels für mich und war unglaublich!”
„Dario und Marco Zenker machen einfach, was sie wollen.”
Ähnlich entspannt kam es auch zur Zusammenarbeit mit Ilian Tape. Etwas funktionaler, schmutziger statt psychedelisch wie auf Peverelists einflussreichem Livity Sound prallen hier Breakbeats und Dubstep-Relikte auf Techno. 2011 spielten die Labelbetreiber Zenker Brothers auf Stennys Party. Damals legten die beiden noch nicht gemeinsam auf, sondern Marco spielte ein Live- und Dario ein DJ-Set. Als Fans des Labels kamen Andrea und Stenny vor der Show mit den Brüdern ins Quatschen und erzählten von ihren ersten Tracks. Sie blieben in Kontakt, um Musik auszutauschen.
Ein Jahr später kam es zum dubbigen Andrea-Debüt, der Zero-EP. Natürlich mit einem Remix von Stenny, der zwei Jahre nach der entscheidenden Partynacht seine Debüt-EP Solstice Deity vorlegte. Ihr Sound wurde seitdem immer experimentierfreudiger, entwickelte sich wie allgemein auch der des Labels von straightem Techno zu komplexen Broken-Beats-Hybriden. Mittlerweile genießt das Imprint ein besseres Renommee als manch UK-Kollege in Jungle- und D’n’B-Tradition.
Wenige ausgewählte Veröffentlichungen sorgen für einen hohen Qualitätsstandard. Kein Artist veröffentlicht mehr als eine Handvoll Tracks im Jahr. Warum ausgerechnet ein Münchner Label zu den innovativsten Techno-Imprints gehört, weiß Andrea auch nicht: „Dario und Marco machen einfach, was sie wollen. Sie pushen diesen originellen Sound ohne Kompromisse und sind offen für neue Richtungen. Jeder Release bezieht sich auf den davor, ist aber auch ein neuer Schritt. Obwohl wir uns eigentlich nur auf Gigs sehen, fühle ich mich dort einfach Zuhause.”
Jetzt setzt sich Andrea nochmal an die Maschinen – oder schaut einen Film auf der Couch. Mehr als dreimal pro Tag mit dem Hund um den Block gehen ist bis auf wenige Ausnahmen nicht erlaubt. Er wache am Morgen auf und sei schon müde. Immer nur Zuhause zu sein, fühle sich langsam wie eine Ewigkeit an. Aber natürlich sei die Quarantäne richtig. Zum Glück sind seine Familie und Freunde gesund. Uns bleibt nur die Hoffnung. Denn wie es weitergeht, wisse niemand.