Die Cellistin, Komponistin und Sängerin Hildur Guðnadóttir trat mit einer Live-Version ihres Serien-Soundtracks „Chernobyl“ in der Betonhall im Silent Green auf (Foto: CTM Press)

Andy Stott
(Shadow Twirl am 30.1. im Berghain)

Andy Stott lieferte im Berghain Bassdrum-Katharsis pur – da dort nicht fotografiert werden durfte, bleibt von seinem unvergesslichen Auftritt nur die Erinnerung (Foto: Press)

Das Modern-Love-Aushängeschild aus Manchester gehörte zweifelsohne zu den am heißesten erwarteten Headliner*innen des diesjährigen CTM Festivals – und lieferte mehr als nur ordentlich ab. Nach hochgelobten Maxis und Alben wurde es ab 2016 ruhig, bis im November 2019 ohne großes PR-Brimborium seine neue EP It Should Be Us erschien, die etwas verhaltener und unentschlossener als die Vorgänger anmutet. Doch davon war nichts zu merken, als Andy Stott gegen zwei Uhr früh die Bühne nach einer harschen Grindcore-Show des kenianischen Doom-Duos Duma enterte. Zwar klangen einzelne Elemente der neuen EP oder seiner Dub-Mutationen von 2011 an, mit denen er seinen internationalen Durchbruch feierte, doch Stott verbog seinen melancholisch-unterkühlten Signature-Sound und verwandelte den Dancefloor in einen Hexenkessel aus runterkomprimierten Drums, polyrhythmischen Tricksereien, Subbass-Beschwörungen und geisterhaften Synths. Dabei klang er über weite Strecken eher nach den harschen Grime-Techno-Mutationen seiner Modern-Love-Kollegen Demdike Stare als nach seinen jüngeren Synth-Pop-Exkursionen. Bassdrum-Katharsis pur, das Techno-Höllenfeuer loderte!

Wie alle CTM-Events hatte auch diese Donnerstagnacht einen vielsagenden Titel bekommen, der mit „Shadow Twirl / Phantom Flare” wie die Faust aufs Auge oder die Kickdrum ins Ohr passte. Die Zauberformel des Bassdrum-Alchemisten im grellen Stroboskop-Geflacker ging auf, selten war das Berghain so voll: Der vollgestopfte Dancefloor wurde von der großen Bühne zusätzlich halbiert, die Meute stand dicht gedrängt an den Seitenflügel bis zum hinteren Metallkasten, obwohl mit Fiedel in der Säule und Sherelle in der Panorama Bar für namhafte Konkurrenz gesorgt war. Über Laptop und Mischpult gebeugt, verschachtelte der bärtige Glatzkopf hochkonzentriert immer weiter unerhörte Sounds, und legte nach dem tosendem Applaus der schweißgetränkten, geläuterten Masse noch eine wilde Breakbeat-Zugabe oben drauf, bevor Cera Khin b2b mit Lokier hinter den Decks mit Abriss-Techno bis zum Morgengrauen übernahmen. Im Vergleich zu seinem DJ-Set auf dem CTM 2013, wo er auf dem Gipfel seines Hypes mit nahtlos aneinandergereihten Dub-Techno-Hybriden auf Nummer sicher machte, traute sich Stott einiges mehr an Experimenten – während die Virtuosität seines Livesets auf der ersten deutschen MIRA-Festival-Ausgabe 2016 dann doch nicht erreicht wurde.

Fazit: Wie viel Spaß man dabei hat, sich wie eine Ölsardine in der Büchse oder auf einem Pop- oder Rockkonzert in die Menge zu quetschen, muss jede*r selbst wissen. Dass Andy Stott zu Recht nicht nur als einer der spannendsten Produzenten, sondern auch als einer der versiertesten Liveperformer und als seiner Zeit weit voraus gilt, dürfte bewiesen sein. Bleibt nur noch zu hoffen, dass er seinem Muster treu bleibt und nach der EP bald die LP-Ankündigung ins Haus flattert – und die dann auch noch nach dieser unvergesslichen Berghain-Session klingt. Raoul Kranz

Dis Fig
(Unknown Unknown am 28.1. im Berghain)

Gönnte ihrem Publikum keine Pause: Dis Fig – von deren Performance im Berghain es leider auch keine Fotos gibt (Foto: Vlatka Feugo)

Für die in Berlin ansässige Produzentin und DJ Felicia Chen alias Dis Fig stellen Provokation und Risiko wesentliche Bestandteile ihres kreativen Schaffens dar. Ihr Debütalbum Purge verstrickt scharfe, sengende Stimmen, tobenden Industrielärm und unheimliches Zwischenspiel zu düsteren Klangwelten, die aus Wahnsinn und tiefer Verzweiflung rühren – und denen man sich kaum entziehen kann. So ging es mir zumindest am Dienstagabend bei der furiosen Live-Performance ihres Albums im Berghain. Umhüllt von Nebelschwaden und in rotes Licht getaucht schaffte Chen mit hingebungsvollen Streicheinheiten auf einer Noise-Box der Marke Eigenbau zunächst trügerische Intimität. Durch das monströse Soundsystem ließen sich jedoch zusehends viszerale Sub-Sequenzen vernehmen. Sie zerfetzten die Sinnlichkeit und ließen das brechend volle Heizkraftwerk erstarren – vorübergehend zumindest; denn nach einer guten halben Stunde trat Dis Fig von der Bühne und verlagerte das Zentrum des Geschehens. Mit zerrütteten Geschrei kämpfe sie sich durch die Menge, warf sich gegen die perplexen Gäste und ging schließlich mitten auf dem Dancefloor zu Boden. Und auch nachdem sich die Amerikanerin wieder ihren Weg zurück an die Maschinen gebahnt hatte, gewährte sie mit albtraumhaften Grooves und Crescendi bis zum Ende ihrer fünfzigminütigen Performance keine Verschnaufpause. Leonard Zipper

Giant Swan
(CTM Kick-Off am 24.1. im Berghain)

Giant Swan – aufgrund des Berghain-Fotoverbots hier beim Auftritt auf dem Unsound Festival 2019 in Krakau (Foto: Helena Majewska).

Zwei Männer stehen auf der Bühne. Der eine trägt ein weites, kutten-artiges T-Shirt und ist über seine Geräte gebeugt. Der andere ist ebenso hochkonzentriert bei der Sache, sein nackter, muskulöser Oberkörper schnellt im Takt der gleichförmigen Techno-Grooves nach vorne und wieder zurück. Dafür, dass Giant Swan in der Conceptronica-Festivalszene zu den Acts der Stunde gehören, klingen sie überraschend gleichförmig. Sie machen Techno, der sich nicht als dezidiert modern oder experimentell ausweisen will. Charmant ist ihr Sound, weil er simpel, eindimensional und ungestüm ist und sich von den überproduzierten Effektgebilden von Deconstructed Club absetzt, weil es keine Eskalation und keine Breaks gibt. Noch ein Wort zu dem Mann mit nacktem Oberkörper: Der hat im Technozusammenhang zumindest auf der Bühne nichts verloren, er gehört zum Inventar der Rockmusik. Dort geht es darum, eine Freiheit zu demonstrieren, die Cis-Männern eher gewährt wird als anderen Geschlechtern. Der Ausweg aus dem Dilemma des Geschlechts liegt bei Giant Swan nicht wie bei Kraftwerk und anderen Techno-Acts im Maschine werden. Es geht nicht um Transformation, sondern um Unterwerfung. Slave to the rhythm. Ein tiefer, etwas dumpfer Genuss, für den Monotonie viel wichtiger ist als Dynamik. Erst am Ende verschwindet der Groove für ein paar Minuten. Wenig später ist er wieder da. Und dann ist das Konzert vorbei. Alexis Waltz 

Henry Wu / Kamaal Williams
(Evasive Bliss am 31.1. in der Panorama Bar /
Fluid Multiple am 1.2. im Festsaal Kreuzberg )

Henry Williams aka Henry Wu hier unter seinem Jazz-Alias Kamaal Williams (links) im Festsaal Kreuzberg Berlin (Foto: CTM)

Es ist nicht verwunderlich, dass um den Mann mit den vielen Namen Henry Williams aka Henry Wu aka Kamaal Williams, am Samstagabend im Festsaal Kreuzberg zunächst Verwirrung herrschte. Am Abend zuvor hatte der britische Jazzmusiker unter seinem DJ-Alias Henry Wu die Panorama Bar aufgewärmt, während die Indonesier Gabber Modus Operandi und Wahono zusammen mit der Nakibembe Xylophone Troupe aus Uganda eine Auftragsarbeit zwischen dem ugandischen Nyege Nyege Festival und CTM auf die Berghain-Bühne brachten. Kein besonders günstiger Slot – wurde die Performance im Berghain nachher von vielen doch als CTM-Highlight gehandelt. Keine Ahnung, ob dem so war – ich hielt Henry Wu mit etwa 20 anderen Tanzwilligen eisern die Stange. Mit energetischem House, fordernden Percussions und pumpenden Grooves lieferte er den perfekten Panorama-Bar-Sound – und leider das wohl am meisten übersehene Set des Festivals. Vor allem blieb die Frage: Wer ist eigentlich Henry Wu? Schließlich stand er nicht wie angekündigt allein hinter den Decks. Und auch im Festsaal hielten einige um mich herum zunächst den Saxophonisten für Kamaal Williams – vielleicht, weil er dieselben Initialen wie Kamasi Washington hat? Oder weil man schlicht nicht glauben wollte, dass ein rothaariger Brite so viel Groove und Soul in seine Musik legen kann? Williams widerlegte jedenfalls all diese Vorurteile und bekam im proppevollen Festsaal zum Glück dann doch noch die Aufmerksamkeit, die ihm gebührt. Laura Aha

Hildur Guðnadóttir
( Chernobyl in der Betonhalle des Silent Green am 29.2.)

Kein all-night-long Techno-Gebretter, kein hipper Noise-Act, nein: Filmmusik hat die CTM zum Strahlen gebracht, wie kein anderer Sound.

Kein Wunder, denn zusammen mit dem Carbaret Voltaire Gründungsmitglied Chris Watson und dem Filmkomponisten Sam Slater gab Hildur Guðnadóttir eine Live-Version ihres Emmy-prämierten Soundtracks zur HBO-Serie „Chernobyl“ zum Besten: Field-Recordings aus einem AKW, sphärische Cello-Klänge und Guðnadóttirs Gesang sollten den Super-GAU von Pripjat hörbar machen.

Die heimlichen Stars des Auftritts waren aber nicht Sam Slater, Chris Watson oder gar Hidur Guðnadóttir selbst, sondern Theresa Bergmann und Francesco Donadello. Die eine: verantwortlich für eine Lichtinstallation, die mit kaum mehr als ein paar Leuchtstoffröhren, zwei Strobos und etwas Trockeneis, das abstrakte Motiv der Radioaktivität so sichtbar machte. Und zwar so gut, dass man fast schon Angst bekam, die Musiker hätten neben der Field Recordings gleich noch etwas Plutonium aus Tschernobyl mitgenommen. Der andere: weil er für die räumliche Ausgestaltung des Sounds sorgte. Und damit dafür, dass das Publikum mehr als einmal die Decke der Location verschreckt nach mutierten Monstern absuchte, die den metallischen Lärm erklären, der da aus den Lüftungsschächten donnert. So immersiv hat man Licht- und Sounddesign selten erlebt. Patrick Wagner

Squarepusher
(Vortex Merge am 31.1. im Berghain)

Zwischen Drum’n’Bass Salven und dämonischem Grinsen: Squarepusher beschwor im Berghain eine ekstatische Rave-Armosphäre herauf (Foto: Donald Milne)

„Vortex Merge” tauften die Organisator*innen den letzten Berghain-Abend des CTM. Passend zu diesem Motto wirbelte sich Tom Jenkinson alias Squarepusher durch ein 90-minütiges Live-Set, das auf dem Heizkraftwerk-Hauptfloor einmal mehr ekstatische Rave-Atmosphäre heraufbeschwor – am Vortag war das bereits Andy Stott gelungen. Dicht and dicht drängten sich die Besucher*innen aneinander; Jenkinsons Drum’n’Bass-Salven, die sich mit fordernden IDM-Passagen abwechselten, sorgten das ganze Live-Set über für Spannung. Immer wieder kostete der Brite sichtlich amüsiert den nach seinen Tracks aufbrandenden Applaus aus, nur um mit dämonischem Grinsen postwendend die nächsten sich überschlagenden Breaks heraufzubeschwören. Das akustische Spektakel befeuerten abstrakte Visuals, die in ihrer grellen Neonästhetik an UK-Rave erinnerten und die tobende Menge weiter anstachelten. Squarepusher fügte sich mit seinem Set in den frühen Morgenstunden in die allgemeine Stoßrichtung des diesjährigen CTM ein: unnachgiebig, aggressiv und körperlich. Maximilian Fritz

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