Rewind 2019: Mix-CDs und Compilations sind Kunstformen für sich. Hier wollen DJs ihr Schaffen repräsentativ in eine endgültige Form gießen, dort geht es darum, heterogene Ansätze in ein kohärentes Ganzes zu überführen. Zwischen Selector-Business, Label-Werkschauen, Archiv-Zusammenstellungen und Mix-CDs bieten die folgenden, alphabetisch angeordneten Mix-CDs und Compilations über die bloße Kurationsleistung hinaus einen enormen Mehrwert. Unsere Top10 führen vom in diesem Jahr allseits präsenten IDM zu japanischem City-Pop und brasilianischen Elektro-Hybriden.
Bogdan Raczynski – Rave ‘Till You Cry (Disciples)
Ein neues Album von Bogdan Raczynski, das ist für einige Braindance-Fanatics wie Weihnachten und Record Store Day an einem Tag. Aber, da muss leider etwas dämpfend dazwischen gegrätscht werden, richtig neu sind die Stücke auf dem Doppelalbum Rave ‘Till You Cry nicht, zumindest, was ihre Entstehungszeit betrifft. Es handelt sich um Unveröffentlichtes und Versionen von bereits Erschienenem, aufgenommen zwischen 1999, als Raczynski gleich mit drei Alben auf Rephlex in die Szene stürmte, und 2007, dem Veröffentlichungsjahr seines letzten Albums Alright!. Entsprechend vielfältig ist das Album stilistisch: Harter Drum’n’Bass, ratternde IDM-Miniaturen, dazu die teilweise regelrecht lieblichen, zarten Melodien der Aphex Twin-Schule, aber auch weniger Kategorisierbares, abstrakte Freestyle-Electronica mit verspielten Strukturen und der ganzen Wundertüte aus dem Synthesizerkosmos. Gerade diese letzte Gruppe von Tracks gibt dem Album seine Relevanz im Hier und Jetzt, lässt es in keinem Moment gestrig erscheinen – und macht zudem großen Spaß! Mathias Schaffhäuser
Claro Intelecto – In Vitro One & Two (Delsin)
Kaum einem Produzenten gelingt es so meisterhaft, Emotionen in Elektronik zu gießen, wie dem britischen Soundtüfftler Claro Intelecto. Dabei changieren seine Tracks zwischen Dub, House und Ambient-Techno – kein Wunder, entstammt er der Modern Love-Crew um Andy Stott oder Demdike Stare aus Manchester. Nach seinem 2017er-Album Exhilarator und der 2019er-EP Forgotten Wasteland präsentiert der gebürtige Mark Stewart jetzt auf seinem aktuellen Heim-Label Delsin die Bandbreite seines Schaffens der letzten zwei Dekaden mit einer zweiteiligen Retrospektive – von freakigen Elektro-Brettern wie „Two Thousand” zu Gänsehaut-Frickeleien wie „Peace Of Mind (Electrosoul)”. In Vitro mag vielleicht der Produktionsprozess gewesen sein, die 21 Tracks der Compilation könnten nicht menschlicher klingen. Raoul Kranz
DJ Harvey – The Sound Of Mercury Rising Vol. II (Pikes)
Das Pikes Hotel liegt in den Hügeln von San Antonio und hat seinen festen Platz in der Architektur des Mythos Ibiza. In den späten Siebzigern eröffnet, zählten Grace Jones, Tony Curtis, Spandau Ballet, Bon Jovi, George Michael und Freddie Mercury zu den regelmäßigen Gästen. Dem Videodreh zu Whams „Club Tropicana” diente es als Set. Seit fünf Jahren ist die legendäre Location Homebase für DJ Harveys Mercury Rising-Partys. Zur Feier des kleinen Jubiläums ist mit der Compilation The Sound Of Mercury Rising Vol. II ein Füllhorn von, je nach Version, 13 bis 20 Tracks erschienen, das sich auch als Verbeugung vor dem in diesem Jahr verstorbenen Gründer Tony Pike versteht. „You can check in, but you can never check out” lautet der Claim, den Pike für sein Boutique-Hotel erfunden hat. Entsprechend hat sich Disco-Don Harvey hier nicht hängen lassen. Allein schon das phänomenal hypnotische „Tatooine Moons“ von Forgotten Corner & Khidja wäre Grund genug, einzusteigen. Sympathisch auch, dass Harvey sich keineswegs darauf beschränkt, lediglich seinen Riecher für Mondpreis-würdige Collectors Items auszustellen, sondern auch vor vielfach despektierlich angesehenem, seinerzeit als „Retortenmusik“ denunzierten Material wie Mandy Smiths von Stock, Aitken & Waterman produzierter Debütsingle „I Just Can’t Wait“ nicht zurückschreckt. Mit sicherer Hand und komplett unprätentiösem Mixing (Übergänge sind was für Wichtigtuer) wird hier Älteres aus drei Dekaden wie „Dance Dance Dance“ (1977) der Sängerin Marta Acuna, die mit Patrick Adams gearbeitet hat, Pamela Nivens „It’s You I Love” (1983) oder Mr. Marvins „Entity“ (1991) neben Unveröffentlichtem wie „Mr. Mercury“ vom belgischen Act Rheinzand, an dem mit Mo Becha eine Hälfte der Glimmers beteiligt ist, oder Switchdance’ famose Acid-Nummer „Arabian Ride“. Respektvoll, erwachsen und genau deshalb enorm sexy. Harry Schmidt
Eminent Domain (L.I.E.S.)
Neue L.I.E.S.-Kompilation. Ziemlich heiß. Und groß! Drei LP’s plus Bonus-7inch mit 22 Tracks von eher unbekannten Produzenten. Der aus Philadelphia stammende Christian Mirande eröffnet alles mit zirpendem Drone. Auch der zweite Track von Prisons driftet gespenstisch in Drone-Ambient-Sphären. Es folgt fesselnder Post-Industrial von JT Whitfield aus Austin. Ein Genre, in dem sich auch Produzenten wie CBN, Filth oder Pod Blotz mit Mut zum Experiment sowie Acid- und EBM-Anleihen austoben. Dazwischen dem Wave zugeneigte Tracks, verwunschene Synth-Eskapaden, brachialer Endzeit-Techno, Horror-Downbeat und rabenschwarze Art-Electronic. Auf der 7inch liefert L.I.E.S.-Künstler S. English solo und im Duo Corporate Park ebenfalls bedrohliche Metalsounds und Alien-Synth-Balearic ab. Eine im Verbund abenteuerliche Kompilation mit enormer Sogwirkung. Einfach nur ‘asozial’ gut, wie ein stiller Zuhörer während der Erkundung aus dem Off heraus treffend behauptet. Michael Leuffen
Gost Zvuk – 5 Years (Gost Zvuk Russian Federation)
„Keine Zukunft ohne Vergangenheit”, sagt der Labelchef der russischen Underground-Eleganza, Ildar Zaynetdinov. Seit 2014 führt er Gost Zvuk (ГОСТ ЗВУК), eine Nabe für elektronische Musik aus Russland – und belebt mit dem Sublabel Gost Archive auch die sowjetische Musikvergangenheit. „Unsere Motivation bestand aber immer darin, eine Plattform für lokale Produzent*innen zu schaffen”, so Zaynetdinov, der den russischen Sound vor allem über seine Ästhetik definiert. 2019 ist Gost Zvuk fünf Jahre alt, eine Institution im Moskauer Underground, mit Künstler*innen wie Buttechno, OL, Flaty oder Vtgnike in den Clubs auf der ganzen Welt vertreten. Grund genug, das fünfjährige Bestehen mit einem Kracher zu feiern. Und auch unbekannten Gesichtern der Szene eine Möglichkeit zu geben, sich nach vorn zu tun. Schließlich gibt’s abseits von Dub-Tankern wie OLs „Subatex” oder Flatys „Overthinker Heat” einiges zu entdecken: Das zerschossene Sample-Chaos von INFX, alternativen Soviet Space-Pop von Gamayun, verhallten 90s-House von Kedr Livanskiy & AEM Rhythm oder den Tarkowski-Ambient von Kassir. Insgesamt 21 Künstler*innen tummeln sich auf der Compilation, polieren den Zeitgeist des russischen Electronic-Sounds aus der Flasche und erfüllen dem Laden zum Geburtstag 21 Track-Wünsche. Recht so – С днём рождения! Christoph Benkeser
Outro Tempo II – Electronic and Contemporary Music from Brazil, 1984-1996 (Music From Memory)
Diese von NTS Radiohost und DJ John Goméz vor zwei Jahren aus dem Gedächtnis ins Leben gerufene Compilation-Serie ist eine zeitlose Offenbarung, auch wenn sie sich nur auf eine bestimmte Periode in der offensichtlich unendlich weiten Welt der Musik Brasiliens bezieht. Hier geht es nicht um stereotype Klänge und Rhythmen, die mal eben mit dem Gedanken an eine leicht in Geld umsetzbare, schal klingende Neuauflage von Bossa oder Samba unter die Leute bringen möchte. Goméz tauchte tief in die Leftfield-Szene ein, zumindest auf dieser Seite des Ozeans hat man keinen einzigen der zwanzig Songs bereits gehört. Waren die Tracks der ersten Ausgabe Outro Tempo: Electronic And Contemporary Music From Brazil 1978 – 1992 noch eher geprägt und beeinflusst vom musikalischen Erbe Brasiliens, und doch das Bedürfnis nach Befreiung von diesem atmend, gerne mit der für diese Zeit generell eher ungehörten Verquickung von Elektronik mit akustischen, sehr spirituellen Ansätzen, geht Teil II nun noch mehr um den Einfluss von New Wave bis hin zu discoidem Funk, Post Punk oder No Wave. Einzelne Tracks hervorzuheben fällt schwer, es gibt keinen einzigen Ausfall in dieser nicht im Sinne des Flows meisterhaft zusammengestellten und sehnsüchtig machenden Reise durch eine „andere Zeit“. Und doch muss man gleich beim Aufmacher „Maraka“ von May East unweigerlich an das denken, was eine Peggy Gou heute macht. Und „Emotionless“ von den Low Key Hackers steht guten Momenten von Krautrock in nichts nach. Aufregend, inspirierend, tanzbar, wohltuend und angenehm fordernd den Horizont erweiternd. Sucht derzeit seinesgleichen, diese Klasse. Das collagenhafte Artwork des Albumcovers ebenso. Michael Rütten
Pacific Breeze: Japanese City Pop, AOR & Boogie 1976-1986 (Light In The Attic)
Schon seit einigen Jahren erlebt japanischer City-Pop einen Aufschwung. Die pazifische Brise – in Form von Reissues und Neuerscheinungen des Genres – weht bis zum Westen und erfrischt mit einer neuen Compilation. Das Leben ist irgendwo in einem Zeitspalt zwischen den 70ern und 80ern stehengeblieben. Gut konserviert strahlt es die Sorglosigkeit des prosperierenden Nachkriegsjapan aus. Das Label Light In The Attic veröffentlicht unter Aufsicht von unter anderem Andy Cabic (Vetiver) ein weiteres Best-Of in der Japan Archival Series. Zum City Pop gesellen sich artverwandter AOR – Adult Oriented Rock – und Boogie. Tomoko Soryos „I Say Who“ ist der Start in einen smoothen Trip, der vor allem von den Basslines getragen wird. Keiner hidden gems hat man sich hier angenommen, sondern ausgesprochenen Klassikern des Genres: Taeko Ohnuki ist eine derjenigen. Ihr Stück „Kusuri O Takusan“ klingt funkig – da ist wohl US-amerikanisches Vinyl an Land geschwappt. Lauscht man dem Sound von Minoko Yoshidas Klassiker „Midnight Driver“, errät man, woher sich David Sylvian mit seiner Band Japan Inspiration holte. Eine weitere City Pop-Größe ist Haruomi Hosono. Gemeinsam mit Shigeru Suzuki (ebenfalls auf der Compilation vertreten) und Tatsuro Yamashita veröffentlichte er 1978 das genreprägende Album Pacific. F.O.E., ebenfalls ein Projekt, an dem Hosono beteiligt war, überzeugen auf „In My Jungle“ mit einem eingängigen Beat, der von einem federleichten, verträumten Piano bespielt wird. Die blumigen Lyrics tragen zur vorherrschenden Atmosphäre nicht unwesentlich bei: „How do you feel? Magic Coulours in the air, they open your eyes.“ Bei Hiroshi Satos „Say Goodbye“ klingt selbst ein Abschiedsgruß ab die ehemalige große Liebe versöhnlich. So harmlos wie unterhaltsam. Neben den USA ist ein weiterer hörbarer Einfluss die lateinamerikanische Musik, glaubt man sämtlichen Percussion-Instrumenten auf „Bamboo Vender“ von Masayoshi Tanaka. Zurück in die USA über „L.A. Nights“ und über die lieblichen Klänge eines Xylophons mit Yasuko Agawa. Es fließt mitunter vor und zurück wie das stetige Auf und Ab der leichten Wellen an einem der vielen Strände Japans. Hiroshi Nagai gestaltete auch hier ein Cover in seinem typischen Stil, der an Hotel Resorts in Malibu erinnert. Auszeit fürs Hirn. Lutz Vössing
Peggy Gou – DJ-Kicks (!K7)
DJ-Kicks, die 69ste. Dass !K7 dafür auf Peggy Gou vertrauen, wirkt zwar wenig überraschend, fügt sich aber mehr oder minder nahtlos in die Reihe der bisherigen Compiler ein. Schließlich hat die einflussreiche Mix-Serie ihr Renommee von jeher darauf aufgebaut, angesagte Namen auf dem Zenit ihrer Karriere abzupassen. Im Fall der Südkoreanerin war das höchste Zeit, stand Gou zuletzt doch immer mehr im Fokus einer sich kapitalismuskritisch gerierenden Kontroverse. Omnipräsenz, Warenförmigkeit, Ausverkauf, so lauteten die allerdings ebenfalls wohlfeilen Vorwürfe, die gegenüber der Senkrechtstarterin erhoben wurden. Dass Gou nun offensichtlich gewillt ist, es mit ihrer DJ-Kicks allen recht zu machen, muss in dieser Situation gleichzeitig als Vorzug wie als Problem dieses Mixes wahrgenommen werden. Kaum ein Genre, das Gou nicht bedient: Techno, House, Electro, Acid, Detroit, Bassmusik, Ambient, Drum’n’Bass – you name it. Löblich ist dabei das Konzept der Wahlberlinerin, ihrer eigenen Sozialisation nachzuspüren: Mit dem organischen Dub-Track „Hungboo“ hat sie den ersten Tune integriert, den sie je produziert hat, weitere Exclusives kommen von I:Cube und Pert. Spacetime Continuums „Fluresence“, Aphex Twins „Vordhosbn“ und Andrew Weatheralls Remix von Sly and Lovechilds „The World According To Sly and Lovechild“ markieren einige ihrer wichtigsten Einflüsse. Auch wenn die Selection also alles andere als beliebig daherkommt, mag manches Rezipient*innenohr sich doch ein entschiedeneres Statement gewünscht haben. Dennoch besitzt Gou unbestreitbar ein gutes Gespür für atmosphärische Qualitäten. Wer einen roten Faden sucht, vermag unter der gefälligen Oberfläche, einer verlorenen Gussform gleich, einen Hauch von TripHop aufzuspüren. Harry Schmidt
Powder In Space (Beats In Space)
Wie ein Weckruf markiert der einsetzende Beat von Daphne Rubin-Vegas “When You Love Someone“ den Umschwung zum gut gelaunten, leicht jazzigen zweiten Abschnitt von Powders Reise durchs All. Der Beitrag der Japanerin Momoko Goto zu Tim Sweeney‘s „In Space“-Mix-CD-Reihe präsentiert ihren sorglosen und doch bedachten Zugang zum Mixing. Immer wieder traut sie sich zu brechen, neu anzusetzen, umzuschwingen, und doch den Flow beizubehalten. Obwohl sich fast jeder Track deutlich vom Vorgänger abhebt und somit seine eigene Wirkung entfaltet. Ihre beiden eigenen Originals (neben dem eingangs erwähnten Klassiker von 1993 und dem atmosphärischen Intro-Track “Захват Сзади Rox“ von Samo DJ & Hidden Operator) sind Bindeglieder zwischen dem von perkussiven Jams bestimmten Mittelteil und ihr antreibendes, zur Übergröße schwellendes „New Tribe“ markiert den Stimmungs-Höhepunkt, bevor sie wieder behutsam zum Sinkflug ansetzt. Eine starke Vorstellung, die den Zauber von Powder gekonnt einfängt. Leopold Hutter
Supergau – 5 Years of Love On The Rocks (Love On The Rocks)
Disco, Proto-House, Synth Wave, New Beat, Acid und Balearic bilden die Koordinaten, zwischen denen Paramida ihr seit 2014 von Berlin aus betriebenes Label verortet hat. Zur Feier des fünfjährigen Jubiläums erscheint eine Compilation in Form von vier EPs, die es in sich hat. Jeder der 16 exklusiven Tracks stellt für sich allein genommen bereits ein unschlagbares Argument für diese Zusammenstellung dar. Neben Artists, die das Labelprofil der vergangenen fünf Jahre maßgeblich mitgeprägt haben – stellvertretend seien Massimiliano Pagliara, Fantastic Man, Violet, Elles, Etbonz und Alex Kassian genannt – stehen Neuzugänge wie Francis Inferno Orchestra, der Münchner Producer Bartellow und nicht zuletzt Rub’n’Tug-Veteran Eric Duncan. Mit Kornél Kovács, Daniela La Luz und Hermann Kristoffersen sind auch Künstler vertreten, die man nicht auf den ersten Blick mit Love On The Rocks in Verbindung gebracht hätte. Mit Supergau präsentiert Paramida eine Juwelen-Kollektion, von der eine geradezu balsamische, heilsame Wirkung ausgeht. So braucht Supergau den Vergleich mit ihrer kürzlich vorgestellten Compilation-Top-Five, etwa den „Balearica“-Zusammenstellungen oder der von Tony Humphries für Phil Souths grandioses Label Golf Channel compilierten „Mangiami (La Compilation)“ nicht zu scheuen. Ganz groß. Harry Schmidt