Woche für Woche füllen sich die Crates mit neuen Platten. Da die Übersicht behalten zu wollen, wird zum Fulltime-Job. Ein Glück, dass unser Fulltime-Job die Musik ist. Zum Ende jedes Monats stellt die Groove-Redaktion Alben der vergangenen vier Wochen vor, die unserer Meinung nach relevant waren. Im ersten Teil des Oktober-Rückblicks mit OrbePhotonzTribe of Colin und sechs weiteren Künstler*innen – wie immer in alphabetischer Reihenfolge.

Lindstrøm – On A Clear Day I Can See You Forever (Smalltown Supersound)

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Der das Album einleitende Titelsong nimmt einen sanft, aber bestimmt an der Hand und entführt dann über gute zehn Minuten in eine Phantasiewelt – raus aus Alltäglichem, weg von gewohnten musikalischen Kontexten. Wie ein Raga oder eine nicht öffentliche Improvisation im heimischen Übungszimmer mutet diese wundervolle Synthesizer-Meditation an, und sie bereitet vor auf die drei weiteren Tracks. „Really Deep Snow” beginnt nahtlos und stößt die Tür auf zur eigentlichen Story des Albums, eine flotte Synthie-Sequenz gibt den Takt vor und die führende Hand zieht einen weiter in das Lindstrøm’sche Ideenland Richtung des im Titel apostrophierten klaren Tages. Der noch nicht angebrochen ist, noch dominiert Moll und lässt Wolken und Schneegestöber erahnen. Kaum aber hat das allein schon durch den Songtitel ein breites Grinsen hervorrufende „Swing Low Sweet LFO” begonnen, reißt der Himmel auf. Die Arpeggios und Glockenklänge, aber auch die die Stimmung brechenden, verzerrten Basstöne lassen erahnen, was Lindstrøm im Sinn hatte, als er sein Album auf Smalltown Supersound genau so nannte. Der Track vollführt eine permanente Achterbahnfahrt der Gefühle zwischen Dur und Moll und lässt zunehmend an instrumentale Zwischenspiele in Opern Richard Wagners denken. Gegen Ende würde sich ein musikalisch in den frühen Siebzigern sozialisiertes Ohr auch nicht über die aus dem Gegenlicht aufsteigende Stimme Peter Hammills wundern. Stattdessen aber erklingt zu Beginn des folgenden finalen Stücks eine nach alter Heimorgel-Begleitautomatik klingende Drumsequenz, die den musikalischen Kontext wieder zurechtrückt, wieder Richtung Ausgang aus dem Märchenland steuert und der Realität ihr Recht gibt – inklusive versöhnlicher, fast schon housig anmutender Chords zum Finale. Mathias Schaffhäuser

Massive Attack V Mad Professor – Massive Attack V Mad Professor Part II (Mezzanine Remix Tapes ’98) (Universal Music)

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No Protection, Mad Professors 1995 erschienenes Remix-Album zum zweiten Album von Massive Attack, war eine der erfolgreichsten Dub-LPs aller Zeiten. Kein Wunder also, dass auch für Mezzanine, wiederum der erfolgreichste Massive Attack-Longplayer, ähnliches geplant wurde. Warum dieses Album nun mit über zwei Dekaden Verspätung auf den Markt kommt, wird zwar offiziell mit dem 20-jährigen Jubiläum von Mezzanine begründet, bleibt aber dennoch rätselhaft. Die meisten der acht Tracks werden eingefleischten Fans allerdings von im Umfeld von Mezzanine veröffentlichten Singles und Compilations her bekannt vorkommen, auf Universal Music erscheinen sie nun in leicht abweichenden Versionen. Nichtsdestoweniger liegt mit Part II nun ein Album vor, das an No Protection anknüpft und Massive Attack- wie Mad Professor-Aficionados gleichermaßen begeistern dürfte. Dass mit „Metal Banshee” und „Wire” auch Dubs zweier nicht auf Mezzanine enthaltener Stücke inkludiert wurden, könnte die Hoffnung auf weitere, tatsächlich unveröffentlichte Versionen, etwa des Titeltracks, ebenso nähren wie die Tatsache, dass die LP eine E- und F-Seite aufweist. Harry Schmidt

Nils Frahm – All Encores (Erased Tapes)

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Die Encore-Trilogie wird zum Album erhoben- und das mit Recht! Nils Frahms drei nacheinander veröffentlichten EPs stehen All Melody in nichts nach und beweisen wieder den hochsensiblen Umgang des Künstlers mit organischem Sound. Die Tracks sind nämlich in einer solchen Brillanz aufgenommen, dass es teilweise verwirrt, den Klang aus einem schnöden Lautsprecher kommen zu hören. Aber natürlich ist das ja auch Teil des Konzepts – in eine Art Jam- und Improvisations-Szenerie im neu ausgebauten Funkhaus-Studio entführt zu werden, um sich an kleineren oder größeren Soundinseln zu erfreuen und auch den ein oder anderen melancholischen Gedanken im Geiste erhöhen zu dürfen. So findet vor allem das typisch Frahm’sche, mit extra Filzen versehene Klavier seinen häufigen Wiederauftritt und verführt aus scheinbarer Ferne mit einfachen und schönen Melodien wie in „The Roughest Trade“. Jede EP folgt dabei einem bestimmten Klangfaden. Während sich Encores 1 vorwiegend im Akustischen aufhält, beansprucht der Raum um das Gespielte bei Encores 2 mehr Aufmerksamkeit. Encores 3 fasst drei elektronische Arbeiten zusammen, dabei sticht das überragend modulierte „Amirador“ heraus. Die Kompositionen suchen in ihrem Ausdruck wie gewohnt eher die romantisierte Weite als formgebundene Präzision. Das ermöglicht einen entspannten Zugang, da keine überfordernde Konzentration vonnöten ist. Doch wer genießt es nicht, sich in leicht wehmütig-nachdenklichen Stimmungen zu bewegen, ohne ins Ernste und Kalte abzurutschen? Deshalb liefert Frahm auf Erased Tapes auch ein perfektes Release für goldene Herbsttage. Lucas Hösel 

Orbe – The Horde of the Outskirts (Propaganda)

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Der Spanier Fernando Sanz ist ein Buddy von Eduardo de la Calle und eigentlich erklärt das schon alles. Orbe ist wie der nämlich ein Modular- und Analog-Nerd. Als Produzent flog er bisher weitgehend unter dem Radar und machte dabei allerdings nur an den besten Adressen Halt: De la Calles Analog Solutions, John Talabots Hivern Discs und Eric Cloutiers Palinoia-Imprint. Die einstündige Doppel-EP The Horde of the Outskirts ist sein Debüt für Nastias Label Propaganda und wurde dem Künstler zufolge von seinen Tagen im Madrider Parque del Oeste inspiriert, wo er seine liebsten Ambient-Tunes hörte. Auf der ersten Platte allerdings wird nicht ganz so klar, was die Tracks von Orbe mit Wandtapeten-Sounds oder Nostalgie für stillere Tage zu tun haben: Stampfende Kicks und modulares Geblubber, Gefiepe und Gekreische erinnern hier mal an de la Calle, dort an die alte Jeff Mills-Schule oder sogar den getriebenen Sound Stanislav Tolkachevs. Mit der B2 „Dot” kündigt sich allerdings der Übergang in harmonischere Gefilde an, die dann in den folgenden 36 Minuten auf der zweiten 12″ gründlich erforscht werden. Knöpfchendreher-Musik, die mal schön verspult und rauschig ist, dann aber wieder ein fiebriges Eigenleben entwickelt und im nächsten Moment erneut die Klangfarbe radikal ändert. Es ist genau diese heterogene Mischung, welche dieses janusköpfige Album im Gesamten zu einer durchmischten Angelegenheit macht. Tatsächlich bleiben die mehr als soliden Dancefloor-Tracks viel eher im Gedächtnis als die Sammlung skizzenhafter Vignetten, mit denen The Horde of the Outskirts schließt. Kristoffer Cornils

Photonz – Nuit (Dark Entries)

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Rund 25 EPs hat der portugiesische Producer und DJ Marco Rodrigues seit 2006 veröffentlicht. Als Photonz ist er eine treibende Kraft im Nachtleben von Lissabon, das er seit zwei Jahren mit den Mina-Partys bereichert, die Rodrigues wie das Radio Quantica gemeinsam mit Inês Coutinho alias Violet betreibt. Für sein Longplayer-Debüt hat er sich also Zeit gelassen. Der Titel versteht sich als (doppelte) Apotheose der Nacht und referenziert neben der französischen Bedeutung auch die altägyptische Göttin Nut (oder eben Nuit). Dass sich beim Hören Anklänge an Hieroglyphic Being aufdrängen, ist somit kaum zu vermeiden. Auch der niederländische West Coast-Sound hat unverkennbar seinen Einfluss hinterlassen. Die elf Tracks nehmen unterschiedliche Gestalt an – darunter früher Techno („Ode to Nuit”), Detroit-Electro à la Drexciya („Celestial Palace”), atmosphärischer House („Better Tomorrow”), Balearic („No Body”) – und wirken doch wie aus einem begrenzten Repertoire von mit einer alchemistischen Cosmic-Patina legierten Vintage-Sounds erzeugt. Dadurch fügt sich Nuit gut im Katalog von Dark Entries ein, dessen Profil bislang in erster Linie von Re-Issues geprägt wird. Auch wenn die meisten Stücke nicht ganz an die Intensität seiner Maxis heranreichen, nehmen alle Nummern bis auf den psychedelischen Ausklang „Genesis” mehr oder weniger entschieden Kurs auf den Dancefloor. Solider Einstand. Harry Schmidt

Relaxer – Coconut Grove (Avenue 66)

Relaxer ist das aktuelle Projekt von Daniel Martin-McCormick. Zuvor war er bekannt unter dem Namen Ital, dessen letztes Album Endgame von 2014 mit dem Track „Relaxer” begann, was sich rückblickend wie eine Ankündigung liest. Die ersten EPs erschienen zunächst anonym, nahmen Techno und House, wie im Grunde schon zuvor bei Ital, aus verschiedenen Perspektiven in den Blick und auseinander, oft mit düsterem Anstrich. Coconut Grove auf Avenue 66 bleibt beim offenen Umgang mit den Genres und lässt sich dabei in seinen Stimmungen in unterschiedlichste Richtungen treiben, den Klang vom Gelassenen ins Bedrohlichere kippen und wieder zurück. Offen wirken Martin-McCormicks Produktionen auch durch die meistens stark begrenzte Auswahl an Tonspuren, mit denen er arbeitet. In „Cold Green” etwa gibt es eine Handvoll kristallin-spartanischer Beats und zwei, drei luftig im Raum verteilte Klänge mit einer sehr zurückhaltend kreiselnden Mikromelodie. Relaxer konfiguriert diese paar Elemente so, dass sie mit einer dezenten Dringlichkeit fließen, die einen zugleich auf wundersame Weise bei der Stange zu halten versteht. Eine durch und durch entspannte Platte ist das unterm Strich vielleicht nicht. Dafür aber eine, die sich mit dem großen Bogen, den sie schlägt, als höchst integrationsfähig und darin wieder als erstaunlich frisch erweist. Tim Caspar Boehme

Tribe Of Colin – Age Of Aquarius (Honest Jon’s Records)

Tribe Of Colin crashte den Boiler Room 2014 mit einem aus Kassetten geloopten Set, bei dem Räucherstäbchen aus den Cinch-Anschlüssen des Mischpults kokelten und der Sound wie die Metamorphose zwischen der Detroiter Schule der Neunziger und einem Kurzschluss im Schaltkreis seines Tapedecks klang. Manche hörten darin die Zukunft, andere nur den abgeranzten Abklatsch von Drexciya. Dass bis heute niemand weiß, wer hinter dem Pseudonym steckt, zieht jedenfalls Parallelen zu Stinson und Donald, die ihre elektronische Unterwasser-Utopie zum Top-Secret-Paranoia-Projekt machten. Sicher ist: Tribe Of Colin kommt aus London, moderierte eine Sendung auf NTS Radio, zieht sein Bandana gern ins Gesicht und schmeißt mit Age Of Aquarius ein Album auf Honest Jon’s Records raus – dem Label von Gorillaz-Kumpel Damon Albarn. Die Platte liefert keine Peaks, kein Brimborium, keinen Schnörkeldingsbums. Und schert sich einen feuchten Kehricht, ob darauf jemand abgeht. Schließlich ist das Ding für die Langstrecke gemacht. Ein Wunderwuzzi aus Dub, Techno und Jungle – ohne hinter jeder zweiten Ecke mit dem Messer zwischen den Zähnen auf den sonischen Überfall zu warten. Christoph Benkeser

Tom Of England – Sex Monk Blues (L.I.E.S. Records)

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Thomas Bullock ist als eine Hälfte des DJ-Duos Rub’n’Tug und mit seinen Releases als Map Of Africa zusammen mit DJ Harvey seit den Neunzigern ein Name in der internationalen, discoiden Clublandschaft. Nicht verwunderlich, dass sich sein neues Mini-Album Sex Monk Blues unter dem Alias Tom Of England stilistisch an der legendären New Yorker Postpunk-, Art-Punk- und Independent Disco-Szene zwischen 1978 und 1984 bedient. Folgerichtig erinnert der Titeltrack „Song of the Sex Monk” mit einem traurigen Falsetto-Gesang an Arthur Russell, eine 1992 an AIDS verstorbene Schlüsselfigur des New Yorker Disco-Undergrounds. Leider kommt die Hommage ohne Russells kongeniale Cellobegleitung aus. Stattdessen ertönt eine balearische Gitarre samt Retro-Banddelay. Ab der Hälfte driftet der Song in der Bassharmonie kurz in Richtung ESG – eine der einflussreichsten Postpunk-Bands – ab. Die gesamte Platte klingt, als würde man zwischen legendären Clubs der kunstaffinen Postpunk-Disco-Geschichte der letzten vierzig Jahre spazieren. Die übrigen Tracks des Longplayers sind mehr oder weniger Elektroclash-Remakes, soundästhetisch im Ableton Live-Liveaufnahme-Noise-Gewand aufbereitet. „In Your Town” baut entschleunigt auf einem sperrigen Funkbass mit Distortion-Stimmloops eine leicht psychedelische Atmosphäre auf. „Sniffin’ the Griffin” ist ein klassischer, schneller Onbeat-Elektro-Funpunk-Track mit White-Noise-Reverb-Effekten, kurz geloopten Synths und Falsetto-Stimme zwischen P.I.L. und Komateens. Der Saxophon-Break kommt zwischen den leicht überladenen, verhallten und grellen High Hats überraschend gut. „Neon Green” überzeugt schließlich mit einer dubbigen 4-to-the-floor-Morphologie zwischen den Krautrocklegenden Holger Czukay, Jaki Liebezeit, Jah Wobble sowie David Byrnes und Brian Enos My Life in the Bush of Ghosts. Trotz der zahlreichen, vier Jahrzehnte alten Reminiszenzen und analogen Einspielungen kommt Sex Monk Blues in seiner Produktionsästhetik recht frisch daher. Die Kicks poppen minimal hohl. Die Claps sind snappy und crunchy. Und einige Loops, Effekte und Transpose-Spielereien klingen klar nach Ableton Live. Damit spannt das Album den Bogen zwischen der frühen elektronischen Disco-Phase sowie deren erster Retro-Welle, und überführt diese Soundästethik in das digitale Zeitalter. Mirko Hecktor

Tunes Of Negation – Reach The Endless Sea (Cosmo Rhythmatic)

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Losgelöst von jeglichen Parallelen zu Bryn Jones’ legendärem Muslimgauze-Alias hat sich Shackleton spätestens durch seine erste Album-Kollaboration mit dem englischen Opernsänger Ernesto Tomasini in 2016. Man kann man in seinen Werken zwar immer noch musikalische Einflüsse von Terry Riley, Stockhausen oder Coil heraushören. Dass Shackleton aber nunmehr ganz wie Shackleton, geistiges Oberhaupt der kosmischen Trance-Traumreiche, klingt, und er endgültig seinen eigenen Weg gefunden hat, beweist er nun als Tunes of Negation zusammen mit den beiden klassisch ausgebildeten Musikern Raphael Meinhart und Takumi Motokawa erneut. Wunderbar theatralisch ist der Einstieg in das Album mit dem fünfzehnminütigen „The World Is A Stage / The World Is A Sea”, in dem Heither Leigh über Tunes Of Negations texturreiche und psychedelische Sounds vom Fluss der Zeit und Unsterblichkeit singt. Komplexe Keys, Mallets und resonanzreiches Glocken- und Trommelspiel begleiten Hörer*Innen die ganze Reise (oder sollte man besser Trip sagen?) hindurch. Der meditative Geist des ersten Tracks wird beibehalten, nimmt jedoch im zweiten und dritten Stück gehörig an Fahrt auf. Durchgezogene Percussionlines, mal dunkle, mal lichtdurchtränkte Synth-Sphären und surreal anmutende Vocals, die auch schon frühere Arbeiten von ihm auszeichneten, leiten dann über zu „Rückschlag / Rising, then Resonant”. Dieses Stück bildet die Hürde, die es zu nehmen gilt, bevor man ins Licht treten darf. Denn genau das erhofft Shackleton, laut eigener Aussage, mit seiner Musik zu erreichen. „The Time Has Come” lässt Hörer*innen dann wissen, dass man nun endlich soweit ist, bildet gleichzeitig aber auch das Ende des Albums. Andreas Cevatli

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